Mein Chef, der Computer

Technikfeindlich ist Kai Barwig, Mitglied der Geschäftsleitung des High-Tech-Logistikers Stute, ganz bestimmt nicht. Trotzdem hob er beim Zukunftsforum Logistik des Fraunhofer Instituts für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund warnend die Stimme. "Unser Geschäft muss Peoples Business bleiben", sagte Barwig. Dass es anders kommen könnte, darauf gab es während der Vordenk-Veranstaltung mehr als einen Hinweis. Und in den Wochen zuvor in der Praxis auch: Daimler ließ erstmals einen autonom gesteuerten 40-Tonnen-LKW über die Straßen rollen. Ersatzteile, die bisher von Logistikern in alle Welt verschickt wurden, lassen sich mittlerweile mit 3-D-Druckern vor Ort fertigen. DB Schenker Rail will europaweit Zustands- und Positionsdaten ihres Lok- und Waggonfuhrparks fernabfragen, um ungeplante Ausfälle beim rollenden Material zu reduzieren. Und so weiter. All diese Technikinnovationen sind Teil eines Wandels, den Ingenieurwissenschaftler unter dem Begriff Industrie 4.0 zusammenfassen. Ein irreführender Begriff, denn die Auswirkungen erstrecken sich ebenso auf den Handel und eben auf die Logistik. Kern des Begriffes ist eine umfassende Vernetzung: Sensoranwendungen, intelligente Assistenzsysteme, mobile Dienste und weltweite Datenquellen verschmelzen zu komplexen Cyber-Physischen Systemen (CPS). Folge ist unter anderem: Die Produktion kann aufgrund hochaktueller Informationen praktisch in Echtzeit an den aktuellen Bedarf angepasst werden. Produziert wird das, was wirklich benötigt wird. Und transportiert wird auch nur das, was benötigt wird. Und zwar auf dem kürzesten Weg zu geringsten Kosten. Science Fiction wird Wirklichkeit Das klingt nach Science Fiction, kann aber sehr schnell praxisnah werden. Ein Beispiel, das Frank Felten, Chef der Softwareentwicklung bei PTV, beisteuert: Ein LKW nähert sich seinem Ziel. Über seine Telematikeinheit meldet er seine Positionsdaten automatisch in eine Daten-Cloud. Dort fragt sie das Rampenplanungssystem des Empfängers ab. Auf Basis eines Rechenalgorithmus ermittelt das Rampenplanungssystem die optimale Entladestelle und disponiert Entlademannschaften und Stapler dorthin. Das Entladetor wird dem Fahrer auf seinen Bordcomputer übermittelt. Alle genannten Systeme und Komponenten gibt es bereits. Sie kommunizieren allerdings noch nicht miteinander - obwohl sie auch das könnten. Professor Michael ten Hompel, Institutsleiter am Fraunhofer IML, denkt sogar noch weiter. In seinem "Internet der Dinge" werden nicht nur Waren und deren Weg durch die Supply Chains von Softwareagenten - kleinen intelligenten Programmen - verhandelt, sondern auch Preise. "Die physische Supply Chain verbindet sich mit der Financial Supply Chain", nannte ten Hompel seine Vision. Das Aus für den Sofa-Spediteur? Im Endeffekt entstünde ein System, indem zumindest für die Computer Anbieter, Transportwege und -mittel sowie die Preise total transparent würden. Für Menschen wäre der Datenwust kaum noch zu durchschauen, wohl aber für leistungsstarke Optimierungsprogramme. "Das klassische Geschäftsmodell der Sofa-Spedition wäre tot, wenn die Märkte transparent werden", folgerte Hansjoerg Rodi, Vorstandsvorsitzender bei Schenker Deutschland. Im Extremfall ist menschliche Expertise bei der Warendisposition nicht mehr gefragt. Aus dem Kollegen Computer wird der Chef. Bevor so einschneidende Veränderungen den Logistikmarkt überrollen, ist jedoch noch einiges zu tun. Die heutigen Transportmanagementsysteme (TMS) von Industrie, Handel und Logistikdienstleistern sind größtenteils für solche Optimierungen nicht einmal ansatzweise geeignet. Nicht umsonst forderte Rodi, man müsse die Fesseln der starren TMS durchbrechen. Die Logistik-IT hat auch ten Hompel als Schwachstelle ausgemacht. "Statt mit den Systemen zu leben, die die Software-Industrie uns anbietet, muss die Logistik zu der führenden Instanz in der Software-Produktion werden. Wir müssen in Deutschland künftig Software produzieren wie Autos - zielgerichtet, informationseffizient und ökonomisch", findet ten Hompel. Zweiter Engpass: Es gibt zwar cloudbasierte Lösungen, aber die meisten relevanten Informationen zu Ladungen und Transportmitteln befinden sich nicht dort, sondern wohlbehütet hinter den Firewalls von Firmenrechnern. Und drittens: So innovativ sich die Industrie in ihren Kernprozessen auch gibt - in den Versandabteilungen herrscht nach Auffassung vieler Logistiker die digitale Steinzeit. Die Vorstellung, dass dort Transportaufträge mittels komplexer Optimierungssoftware vergeben würden oder gar Agentensysteme über Preise verhandeln könnten, entlockt den Spediteuren bislang ein müdes Lächeln. Und ein letztes Hindernis: Alle Beteiligten der Lieferkette müssen noch Wege finden, die durch die Vernetzung entstandene Datenflut zu filtern und aufzubereiten, um diese überhaupt sinnvoll zu nutzen. Auch hier muss die IT-Branche teilweise noch Hausaufgaben machen. "Big Data benötigt Big Calculations", bringt es Frank Tinschert, Leiter des Geschäftsbereichs Logistik bei dem Anbieter von Supply-Chain-Planung und -Optimierung Quintiq, auf den Punkt. Industrie 4.0: Was ist das? Lernfähige Maschinen Der Begriff Industrie 4.0 soll zum Ausdruck bringen, dass die industrielle Produktion vor ihrer vierten Revolution steht. Die erste Revolution bestand aus der Mechanisierung durch Wasser- und Dampfkraft, die zweite durch Massenfertigung mithilfe von Fließbändern und elektrischer Energie. Die dritte industrielle Revolution war die digitale Revolution, die eine Automatisierung durch den Einsatz von IT ermöglichte. Die vierte industrielle Revolution ersetzt die Massenproduktion durch hochflexible, selbst steuernde Fertigungsprozesse."Industrie 4.0 ermöglicht die individuelle Fertigung der Losgröße Eins zu den Kosten eines Massenproduktes und die bedarfsgerechte Optimierung von Wertschöpfungsprozessen in Echtzeit", beschreibt es Professor Henning Kagermann, Präsident der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften. An die Stelle von passiven, auf Vorplanung beruhenden Produktionssystemen treten aktive, sich selbst steuernde Produktionseinheiten. Durch Selbstoptimierung, Selbstkonfiguration, Selbstdiagnose und Lernfähigkeit soll die Automatisierungstechnik intelligenter werden und den Menschen bei der zunehmend komplexer werdenden Tätigkeit effizienter unterstützen. hel

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