Konsequent digitalisiert

Der Präsentationsschleier fällt, neugierig tasten die Augen das neue Flaggschiff von Mercedes-Benz ab. Nach wenigen Millisekunden stellt sich Ernüchterung ein. Kabine, Kühlergrill, Stoßfänger? Sehen beim Neuen genauso aus wie beim Vorgänger. Ist der neue Actros etwa ganz der alte? Kann nicht sein, meldet der Verstand und schickt die Augen erneut auf die Reise, den neuen Lastwagen aus Wörth am Rhein genauer zu betrachten. Und wirklich, irgendwas ist anders an diesem Actros, oder besser gesagt, es fehlt etwas. Richtig, die obligatorischen Außenspiegel sind nicht vorhanden und ein Hinweis darauf, dass bei der ersten großen Actros-Modellpflege vielleicht doch einiges neu sein könnte? Tatsächlich geht Daimler als erster Lkw-Produzent den großen Schritt, die Außenspiegel durch Kameras zu ersetzen, und zwar serienmäßig. Lediglich Rampen- und Frontspiegel hängen noch etwas verloren auf der Beifahrerseite. Beide hätten nur einen geringen Einfluss auf die Aerodynamik und würden daher allenfalls später digitalisiert, rechtfertigen die Daimler-Verantwortlichen diese Tatsache. Ein günstigerer Windfluss ist ein Grund für die fehlenden Hauptspiegel. Zusammen mit jetzt konkaven Endkantenklappen und einer nun lieferbaren längeren 2,41er-Hinterachse soll der Actros im Fernverkehr drei Prozent sparsamer sein als bisher. Vor allem aber sollen die sogenannten Mirror-Cams dem Fahrer Vorteile bringen. Auch wenn wohl kaum jemand unbefangen den Erstkontakt mit diesen angehen wird. Sie verbessern die Sichtverhältnisse allerdings schon, ohne überhaupt einmal auf die beiden 15 Zoll großen Displays gesehen zu haben, die an beiden A-Säulen montiert sind. Beim Blick aus dem Seitenfenster erfreut man sich nämlich am unverbauten Ausblick auf Kreisverkehre oder Kreuzungen. Sollte das noch nicht ausreichen, dürfte auch der strengste Kritiker spätestens beim ersten Abbiegen oder Reversieren von den digitalen "Außenspiegeln" überzeugt sein. Denn erstens gewöhnt man sich überraschend schnell daran, sich nicht länger außen auf Spiegel, sondern innerhalb der Kabine auf Bildschirme zu verlassen. Vor allem aber hinterlegte Daimler mehrere, äußerst hilfreiche Funktionen. Zum Beispiel die sogenannte "Anhängerverfolgung" Dabei wird das Sichtfeld der Kamera so verändert, dass man, selbst wenn die Zugmaschine fast im rechten Winkel zum Auflieger steht, die Trailerachsen mittig im Blick hat. Und das rechts wie links, ohne sich auf dem Fahrersitz verrenken zu müssen. Auch auf der Autobahn und beim Rückwärtsfahren unterstützt das System durch die Überhol- beziehungsweise die Rangierfunktion. Waagerechte Balken im Bildschirm markieren dabei das Aufliegerheck, was zentimetergenaues Andocken an Rampen sowie das Wiedereinscheren nach Überholvorgängen mit dem nötigen Abstand erheblich erleichtert. Völlig neues, digitales Bedienkonzept Soweit zu den Spiegeln, was lässt sich noch Neues finden? Ab der Mittelkonsole und im hinteren Kabinenbereich hat Daimler lediglich Kleinigkeiten verändert. Zum Beispiel kann man Smartphones induktiv aufladen. Das Armaturenbrett ist hingegen nicht wiederzuerkennen. Dort wo früher analoge Armaturen, Bedienschalter und -regler zu finden waren, prangen jetzt zwei hochauflösende Displays, was ein völlig neues und bislang allenfalls von Pkw der oberen Mittelklasse bekanntes Bedienkonzept zur Folge hat. Auf dem zentral, hinter dem Lenkrad angeordneten Bildschirm - serienmäßig 10, gegen Aufpreis 12 Zoll groß - finden sich alle relevanten Fahrerinformationen, wie Mercedes es nennt. Also beispielsweise Tacho, Drehzahlmesser oder Kraftstoffvorrat. Nur ist alles jetzt digital angezeigt, wobei der Fahrer zwischen drei verschiedenen Layouts nach seinem Geschmack wählen kann. Vorteil der digitalen Ansicht: eine gestochen scharfe, spiegelfreie und übersichtliche Darstellung. Rechts daneben findet sich der "Sekundärbildschirm", in dem Mercedes fast alle bisherigen Schalter und Funktionen, wie Radio, Heizung oder Luftverteilung zusammenfasst. Das mag optisch aufgeräumt und wertig wirken, dass die Bedienung dadurch aber einfacher, schneller und intuitiver gelingt, wie die Daimler-Verantwortlichen versprechen, ist zweifelhaft. Denn wo früher ein gezielter Tastendruck oder eine Drehung genügte, um beispielsweise das Radio einzuschalten oder den Luftstrom auf die Füße zu lenken, muss man nun zuerst das Hauptmenü aktivieren, das entsprechende Untermenü anwählen, um schließlich die gewünschte Funktion ausführen zu können. Übrigens auch, wenn man nur ganz banal das Innenlicht einschalten will. Gerade nicht so bildschirmgewöhnten Fahrern prophezeien wir eine lange Eingewöhnungszeit. Gern und schnell gewöhnen wird man sich an die neue, nun per Elektromotor unterstützte Lenkung. Die dadurch angenehm leichtgängige, aber trotzdem verbindliche Steuerung wurde für die nächste Innovation nötig. Mit dem sogenannten Drive-Assist geht Daimler einen weiteren Schritt zum teilautonomen Lkw, indem der Actros ab sofort neben den Längs- nun auch die Querkräfte überwacht und falls nötig aktiv eingreift. Heißt im Klartext: Droht der Actros nach rechts oder links aus der Spur zu brechen, holt ihn die Elektronik ohne Zutun des Fahrers per beherztem Lenkeingriff in diese zurück. Trotzdem gilt weiterhin: Die Hände gehören ans Lenkrad. Sollte das länger als 15 Sekunden nicht der Fall sein, erfolgen drohende Warntöne und in der Folge die Abschaltung des Systems. Der Actros bremst für Fußgänger Verbessert wurden darüber hinaus der Notbremsassistent (ABA) in seiner fünften Generation, der nun auch bei sich bewegenden Fußgängern im Gefahrenbereich automatisch bis zum Stillstand bremst, sowie der vorausschauende Tempomat PPC. Der berücksichtigt im neuen Modell auch bevorstehende Kurven und Kreisverkehre. (Noch) nicht in die PPC-Berechnungen fließen temporäre Tempolimits ein, die ab sofort erkannt und als Information im Display angezeigt werden. Ebenfalls im Display anzeigen lassen, kann sich der Fahrer neuerdings seine Fleetboard-Noten der letzten sieben Tage, auf die auch der Fuhrparkbeauftragte Zugriff hat. Ein Verdienst der serienmäßigen WLAN-Verbindung, über die alle Actros verfügen und die Nutzung von Apps über den Sekundärbildschirm ebenso ermöglichen wie das verbesserte Wartungssystem Uptime, dass jetzt auch am Trailer einen eventuellen Handlungsbedarf erkennt und entsprechend die Werkstatt informiert. In Sachen Digitalisierung setzt der neue Actros also mehrere Statements. Den einen oder anderen lang gehegten analogen Kritikpunkt verlor Daimler dabei scheinbar leider aus den Augen. Einer davon rückt sich nach dem Drücken des Startknopfes, wofür kein Zündschlüssel mehr gesteckt werden muss, zurück ins Gedächtnis: Die OM 470-, 471- oder 473-Reihensechszylinder, deren bisherige Leistungseinstellungen unverändert im Programm bleiben, sind noch genauso vernehmlich hörbar wie bisher. Ebenfalls ging der Lkw-Hersteller die Kupplungssteuerung nicht an. Das stetige Rucken beim Anfahren wird Actros-Fahrer also weiter begleiten. Dafür dürfen sie sich auf mehr Sicherheit, Komfort und vor allem auf neue revolutionäre Blicke nach hinten freuen. Ob auch bei der Bedienung Freude aufkommt, wird von der Affinität und wohl auch vom Alter des jeweiligen Fahrers abhängen. Im April 2019 fällt dafür der Startschuss. Alle Tests und Fahrberichte für Abonnenten www.verkehrsrundschau-plus.de Fazit Digital um jeden Preis?Daimler traut sich was! Dass der neue Actros serienmäßig ohne herkömmliche Außenspiegel rollt, kommt einer Revolution gleich, die kaum jemand erwartet hätte. Auch der Active-Drive- und Active-Brake-Assist zeigen, wie ernst der Hersteller das Thema Digitalisierung nimmt. Ob aber die Kunden und vor allem die Fahrer da mitziehen (können)? Die jüngere und entsprechend Smartphonegeübte Generation wird das neue Bedienkonzept sicher "cool" finden und schnell zurechtkommen. Ältere Fahrer - und das sind die meisten - werden dagegen ihre Probleme mit den neuen "Screens" haben.jan.burgdorf@springernature.comJan Burgdorf Test-Redakteur

Elektromobilität: Hamburg will Ladepunkte auf 10.000 erhöhen

Bürokratieentlastung: Bundesrat stimmt neuer Verordnung zu

Automobilzulieferer: Bosch will weitere Stellen streichen

A7 wird zeitweise gesperrt

Schwerpunktkontrollen: Viele Verstöße von Lkw und Bussen

Alle Schlagzeilen

Konsequent digitalisiert

HASHTAG

#Assistenzsysteme

Scania bietet Abbiegeassistenten zum Nachrüsten an

Profite stagnieren trotz steigender Umsätze

Warum ist die Hitze ein Problem für die Reifen?

MEISTGELESEN

Emons Spedition siedelt sich am c-Port an

Duvenbeck übernimmt Sander Logistics

Who is Who Logistik: Themen und Trends für 2025

STELLENANGEBOTE

Koordinator (m/w/d) Intralogistik mit Teamleitungsfunktion

Head of Logistics (w/m/d) mit fundierter Erfahrung im internationalen Versand

Area HR Business Partner

Schichtleiter (w/m/d) Logistik - Warenausgang

Leiter (w/m/d) Logistik Teilbereich Warenausgang

WEITERLESEN

NEWSLETTER