Rechtsunsicherheit beim Fahrtenschreiber

Manuel Schöler (Name geändert) ist sauer. Der Lkw-Fahrer einer niedersächsischen Spedition soll 140 Euro bezahlen und einen Punkt im Fahreignungsregister kassieren, weil er auf einer Landstraße kurzzeitig 77 statt die maximal zulässigen 60 Stundenkilometer gefahren ist. Akzeptieren will er die Strafe aber nicht. Die Polizei hat den Tempoverstoß nämlich beim Auslesen des digitalen Tachografen festgestellt, nicht durch Radar- oder Lasermessverfahren. Schöler hat Einspruch eingelegt und die Sache ist vor das zuständige Amtsgericht gegangen. Ein Fall wie dieser landet jeden Monat auf dem Schreibtisch von Matthias Pfitzenmaier. Regelmäßig melden sich Lkw-Fahrer bei dem auf Verkehrsrecht spezialisierten Rechtsanwalt aus Heilbronn, weil das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) und die Polizei zunehmend nicht bloß im Digitacho erfasste Lenk- und Ruhezeiten anschauen und Verstöße bestrafen, sondern zusätzlich nach Geschwindigkeitsüberschreitungen suchen und diese bestrafen, sofern sie fündig werden. "Gemäß der aktuellen Rechtsprechung muss bei der Ahndung solcher Delikte kein genauer Tatort feststehen", sagt er. "Es reicht, wenn die Kontrollbehörden nachweisen, dass der Fahrer eines Lkw über 7,5 Tonnen entweder auf einer Landstraße mit über 60 Stundenkilometern oder einer Autobahn mit über 80 Stundenkilometern unterwegs gewesen ist." Rechtsgrundlage für das Vorgehen fehlt Es gebe allerdings keine Rechtsgrundlage, wonach Geschwindigkeitsdaten im digitalen Kontrollgerät gezielt ohne konkreten Verdacht ausgelesen und Tempoverstöße geahndet werden dürfen, meint der Jurist. Ursprünglich ist der Fahrtenschreiber eingeführt worden, um die Arbeitsbedingungen und die Sicherheit im Straßenverkehr zu verbessern. Noch heute dient er in erster Linie dazu, die Einhaltung der Sozialvorschriften im Straßenverkehr zu kontrollieren. "Man kann die maßgebliche EU-Verordnung 165/2014 durchaus so interpretieren, dass dieses Regelwerk vom Sinn und Zweck auch die Erfassung und Kontrolle der vorgeschriebenen Tempolimits umfasst", betont Pfitzenmaier. Zwingend hervor gehe dies daraus aber nicht. Daniela Mielchen vertritt dieselbe Meinung. Die Fachanwältin für Verkehrsrecht in der Hamburger Kanzlei Mielchen & Coll. bezweifelt ebenfalls, dass es rechtens ist, wenn Raser anhand der Digitacho-Daten überführt werden. Für die Betroffenen kann dies dramatische Folgen haben: "Ich weiß von einem Lkw-Fahrer, dem 90 Tempoverstöße vorgeworfen werden, die er binnen neun Tagen begangen haben soll", berichtet sie. Weil das BAG und die Polizei mitunter wie bei den Lenk- und Ruhezeiten die Geschwindigkeitsdaten der zurückliegenden 28 Tage auslesen und Verstöße einzeln bestrafen, müssen manche Lkw-Fahrer tief die in die Tasche greifen. Ab und zu ist sogar die Existenz der Betroffenen bedroht. Schmerzhaft treffen kann dieses Vorgehen überdies die Arbeitgeber - etwa dann, wenn der fleißigste Mann im Transportunternehmen plötzlich länger ausfällt. Immerhin: Bei Geschwindigkeitsüberschreitungen von bis zu 15 Stundenkilometern, die länger als fünf Minuten dauern, oder in mehr als zwei Fällen nach Fahrtantritt drohen bereits 120 Euro Bußgeld und ein Punkt in Flensburg. Konkreten Verdacht gibt es häufig nicht Grundsätzlich benötigen das BAG und die Polizei für eine Strafverfolgung einen Anfangsverdacht. Ein Anhaltspunkt wäre zum Beispiel, wenn sie einen Lkw während der Fahrt auf der Autobahn oder Landstraße entdecken, der offensichtlich zu schnell unterwegs ist, weil er einen anderen überholt, der in etwa die zulässige Höchstgeschwindigkeit fährt. "In der Regel wird das aber einfach so mitgeprüft", sagt Mielchen. Sie und Pfitzenmaier geben zu bedenken, dass Geschwindigkeitsdaten beim digitalen Kontrollgerät nicht automatisch zusammen mit den Angaben zu Lenk- und Ruhezeiten auslesbar sind, sondern dafür eine gesonderte Eingabe nötig ist. Die Juristin sieht aber keine Ermächtigungsgrundlage, die dies erlaubt. Vieles spreche daher für ein Beweiserhebungs- und Verwertungsverbot. Anders verhalte es sich bei der Kontrolle der Lenk- und Ruhezeiten via Schaublatt des analogen Fahrtenschreibers, wo auch Tempoverstöße auf den ersten Blick auffallen: "Strafen aufgrund solcher Zufallsfunde sind rechtlich erlaubt", erläutert Mielchen. Das Oberlandesgericht Hamm hat 2003 mit einem Urteil für eine eindeutige Rechtslage bei Schaublättern gesorgt. Der Tenor lautet: "Ein Fahrtenschreiberschaublatt ist ein geeignetes Beweismittel zur Feststellung von Ordnungswidrigkeiten durch Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Bei einem nicht geeichten Tachoschreiber ist ein Toleranzabzug von sechs Stundenkilometern vorzunehmen." Der dritte Kritikpunkt der Verkehrsrechtler: Lkw-Fahrer sind verpflichtet, den Kontrollbehörden die Daten auf dem Digitacho und der Fahrerkarte zur Verfügung zu stellen. Dies verstoße gegen den strafrechtlichen Grundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss und die Aussage verweigert werden kann, meinen Pfitzenmaier und Mielchen. "Hier stellt sich die Frage: Kann ein Mensch gezwungen werden, rund um die Uhr belastendes Material über sich zu sammeln?", sagt die Hamburger Rechtsanwältin. Eine Antwort muss aus ihrer Sicht das Bundesverfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof geben. Bisher hat aber nicht einmal ein Amtsgericht in dieser Sache entschieden. Mit Blick auf die voranschreitende Digitalisierung solle die Bundesregierung per Gesetz möglichst bald Klarheit schaffen, welche Fahrzeugdaten wofür verwendet werden dürfen, fordert Mielchen. Jeder zweite Bescheid fehlerhaft Bis dieser Graubereich geregelt ist, kann sich der Einspruch gegen Bußgeldbescheide lohnen. Häufig seien etwa die Messtoleranzen nicht richtig abgezogen oder die geahndeten Verstöße nicht genau genug eingegrenzt worden, erklärt die Expertin. Fehler passieren auch bei der Interpretation der Kontrollergebnisse. "Die Sachbearbeiter werten die Daten mithilfe von Computern aus - allerdings denkt die Technik nicht immer mit", sagt sie. Über die Hälfte aller Bußgeldbescheide, die wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen ausgestellt werden, ist ihrer Erfahrung nach fehlerhaft und deshalb anfechtbar. Wer eine hohe Buße und Fahrverbot oder Führerscheinentzug verhindern will, sollte sofort und ohne vorher selbst irgendetwas zu unternehmen, einen auf Verkehrsrecht spezialisierten Anwalt einschalten. Dieser kann Akteneinsicht nehmen und abschätzen, ob Widerstand sinnvoll ist und wie sich Betroffene am besten verteidigen. Mielchen warnt davor, selbst gegen einen Bußgeldbescheid vorzugehen. Der Rat vom Anwalt sei allein deshalb notwendig, weil eine eigenverantwortlich abgegebene Stellungnahme im Anhörungsbogen, den der Betroffene zu Beginn des Bußgeldverfahrens bekommt, schnell nach hinten losgehen kann: "Wer meint, sich durch eine selbst formulierte Einlassung rausreden zu können, verschlimmert dadurch mitunter seine Situation bloß." Bei einem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid landet die Sache - wenn die Verwaltungsbehörde nicht einlenkt - vor Gericht. Im weiteren Verfahren wird dann die Rechtmäßigkeit des Bußgeldbescheides geklärt. Die Erfolgsaussichten sind gut: Im Fall des 90-Verstöße-Mandanten von Mielchen hat das Amtsgericht die Zahl der ihm zur Last gelegten Vergehen auf 13 Delikte reduziert und zusammen mit einem Bußgeld lediglich ein Fahrverbot angeordnet. Pfitzenmaier berichtet von vielen Fällen, in denen das Verfahren eingestellt oder die Geldstrafe drastisch auf unter 60 Euro gesenkt wird. "Ich habe bislang aber keinen Richter dazu bewegen können, diesbezüglich ein Urteil zu sprechen", sagt er. Auch im Fall von Manuel Schöler ist es letztlich nicht zu einer Gerichtsentscheidung gekommen. Mehr zum Thema finden Sie unter digitaler Tachograf www.verkehrsrundschau.de/dossiers Hintergrund: Die Details der Aufzeichnung Diese Geschwindigkeitsdaten speichert der digitale Tachograf Die Geschwindigkeitswerte der letzten 24 Fahrstunden speichert der Digitacho sekundengenau mit Uhrzeit und Datum. Allerdings nicht auf der Fahrerkarte, sondern direkt im Massenspeicher des Gerätes. Dauerhaft erfasst das Kontrollgerät alle Geschwindigkeitsüberschreitungen, die länger als eine Minute dauern. Der Fahrer bekommt in einem solchen Fall auf dem Display eine Warnung angezeigt, die er mit "okay" bestätigen muss. Die Kontrollbehörden können die Daten ausdrucken oder downloaden und sehen danach die fünf gravierendsten Überschreitungen der letzten 365 Tage des eingestellten Tempolimits und das erheblichste Ereignis an jedem der letzten zehn Tage. Angegeben sind das Datum, die Uhrzeit, die Dauer und natürlich die Höhe der Geschwindigkeit. Außerdem ist die Durchschnittsgeschwindigkeit während der Überschreitung angegeben. Es folgen der Name des zu schnell gefahrenen Fahrers und seine Fahrerkartenkennung. ag

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