Berlin. Über 20 europäische Güterverkehrsverbände haben in einem offenen Brief an Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc auf die Auswirkungen des Rheintal-Desasters hingewiesen und die Politik zum Handeln aufgefordert. Im Interview erläutert Peter Westenberger, Geschäftsführer beim Netzwerk Europäischer Eisenbahnen (NEE), worum es der europäischen Bahnlogistik geht:
Was wollen die Vertreter der europäischen Bahnlogistik durch ihren offenen Brief an Bundesverkehrsminister Dobrindt und EU-Verkehrskommissarin Bulc erreichen?
Ungeachtet der offenen Fragen zum Schadenersatz für die Sperrung der wichtigsten europäischen Güterverkehrsstrecke ist jetzt eine unbürokratische finanzielle Hilfe des Bundes zur Existenzsicherung betroffener Unternehmen dringend erforderlich.
Darüber hinaus verlangt die europäische Bahnlogistik, dass mehrere Maßnahmen ergriffen werden, um den Blackout des Systems und einen dauerhaften Vertrauensverlust des Marktes in die Schiene zu vermeiden. Wir benötigen eine Task Force auf Minister- zusammen mit der EU-Ebene für die tägliche Koordination zwischen den Netzbetreibern, Bahnen, Terminals und Operateuren. Das Krisenmanagement verläuft aktuell äußerst langsam und ineffizient. Zur zeitnahen Aufarbeitung des Rheintal-Desasters fordern wir eine Sonderkommission, die sich außer mit den Ursachen vor allem mit Konsequenzen, also Notfallplänen, Baustellenmanagement und der Priorisierung der Verkehre, auseinandersetzt. Rastatt darf nie wieder passieren!
Wie hoch muss die Finanzhilfe sein?
Ich kann und will keine fixen Beträge nennen. Es kommt auf den Fall des Unternehmens an und es geht nicht um Dauersubventionen. Vielfach genügen Überbrückungskredite, bis der gesetzliche Ersatzanspruch wegen Vermögensschäden geregelt ist und der Betrieb wieder stabil läuft.
Wie schlimm ist die Situation derzeit für Unternehmen im Schienengüterverkehr?
Große Teile des Schienengüterverkehrs im Rheintal sind komplett zusammengebrochen. Die Streckensperrung bis 7. Oktober verursacht insgesamt finanzielle Schäden in dreistelliger Millionenhöhe bei den Güterbahnen. Im September dürften die Verluste wegen wachsender Transportmengen und zusätzlicher Kosten 15 bis 20 Millionen Euro pro Woche betragen. Deshalb drängen wir darauf, dass es sich die Lage so schnell wie möglich bessern muss. Jeder Tag zählt – nicht nur für die Bahnunternehmen, sondern auch bei den an ihrer Versorgung hängenden Unternehmen.
Was ist jetzt auf der Schiene noch möglich?
Die Bahnunternehmen können auf den Umfahrungsstrecken via Deutschland, Frankreich und Österreich nur 25 Prozent des normalen Ladungsvolumens bewältigen, beim Kombinierten Verkehr weniger als 15 Prozent. Für die 200 Güterzüge, die im September üblicherweise täglich auf der Rheintalbahn verkehren, gibt es nur theoretisch Umleitungskapazitäten für 150 Güterzüge über Stuttgart-Singen, den Brenner bzw. die Tauern und das Elsass.
Wieso gibt es nur theoretisch Umleitungen?
Die fehlende Verfügbarkeit von Lokomotivführern am Brenner und im Elsass ist der Hauptgrund dafür, dass der Großteil der Trassenkapazitäten auf den Umleitungsstrecken auch drei Wochen nach der Rheintalbahn-Störung nicht genutzt werden kann. Die Lokführer benötigen Strecken- und Sprachkenntnisse. Ein guter Teil der Transporte geht deshalb auf Binnenschiffe und vor allem auf den Lkw.
Was bedeutet das für ihre Mitgliedsfirmen?
Die Folge sind massive kurzfristige Auftragsverluste. Zudem sind dauerhafte Verkehrsverlagerungen zu Lasten der Eisenbahnunternehmen zu befürchten. Das Image-Signal ist verheerend: Da hebt einer bei Rastatt ein Loch aus, das absackt, und plötzlich bricht der Schienengüterverkehr in halb Europa zusammen.
Wie optimistisch sind Sie, dass die Bundesregierung und die EU kurzfristig reagieren?
Es könnte passieren, dass es trotz unserer mehrfachen Hilferufe keine Reaktion erfolgt. Denn bislang sind weder Herr Dobrindt noch einer seiner Staatssekretäre in Rastatt gewesen. Es gab lediglich ein dürres Statement nach einem Termin in der Schweiz, dass sich Netzbetreiber und Bahnunternehmen anstrengen sollen. Ich frage mich, ob den Güterbahnen die Dramatik nicht geglaubt wird, oder ob das politisches Desinteresse ist.
Welche Hoffnungen knüpfen Sie an den Masterplan Schienengüterverkehr und die nächste Legislaturperiode?
Michael Odenwald, der Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, hat das Papier vorangetrieben. Wir haben es sehr positiv bewertet, auch wenn man die meisten Maßnahmen schon vor drei Jahren hätte starten können. Ich wünsche mir mehr politisches Interesse am Schienengüterverkehr – das gilt für alle Parteien. In der nächsten Legislaturperiode möchten wir konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation in diesem Sektor angehen. Dafür ist der Masterplan die richtige Blaupause. (ag)
Das Interview führte André Gieße