Furcht vor zu viel EU-Blockade

Es war ein Coup, als das Bundesverfassungsgericht Ende Februar erklärte: Die Dreiprozenthürde für deutsche Parteien bei den Europawahlen ist verfassungswidrig. Damit wird es am 25. Mai zu etwas ganz Neuem kommen: Es wird die erste Europawahl, bei der es in Deutschland keine Sperrklausel gibt. Experten glauben, dass ein Stimmenanteil von unter einem Prozent den Parteien wahrscheinlich ausreicht, um einen Abgeordneten ins Europaparlament zu schicken. Die Arbeit des Parlaments wird darunter leiden, glaubt Dieter-Lebrecht Koch (CDU), stellvertretender Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Europaparlament (Tran): "Ich halte eine Sperrklausel für eine der Lehren der Weimarer Republik. Eine große Anzahl von Fraktionslosen und Kleinstparteien, wie zum Beispiel die Biertrinker-Partei, beeinträchtigen die Handlungsfähigkeit eines multinationalen Parlaments", so Koch gegenüber der Verkehrs-Rundschau. Auch in 13 anderen EU-Mitgliedsländern gibt es keine Sperrklauseln bei den Europawahlen. Das könnte die Zunahme der extremen politischen Kräfte am rechten und linken Rand des Parteienspektrums fördern. In fast jedem EU-Mitgliedsland gibt es nationalistische Kräfte, die zurzeit so gute Chancen auf Sitze im Europaparlament haben wie noch nie. In Frankreich geht sogar das Gespenst um, dass die ultrarechte Front National (FN) stärkste politische Kraft werden könnte. Gleiches könnte in den Niederlanden die "Partei für die Freiheit" (PVV) des Islamgegners Geert Wilders schaffen, in Großbritannien die Europaskeptiker der UK Independence Party, deren EU-Abgeordnete kleine britische Fähnchen an ihren Sitzen im Parlaments-Plenum aufgestellt haben. In Deutschland könnten die NPD und die Republikaner erstmals Abgeordnete ins Europaparlament schicken. Der europäische Dachverband der Spediteure Clecat warnt vor diesem sich abzeichnenden Erstarken nationalistischer Parteien. Auch Tran-Mitglieder sehen das mit Sorge. "Die Rückbesinnung auf nationale Grenzen, die nationalistische Parteien auszeichnet, kann für die europäische Verkehrspolitik schädlich sein", sagt Gesine Meißner (FDP). Sabine Wils (Die Linke) befürchtet, dass der EU-finanzierte Ausbau von Verkehrsinfrastruktur in schwächeren Regionen in Zukunft vom Widerstand rechter Gruppierungen begleitet werden könnte. Und Ismail Ertug (SPD) warnt: "Europafeindliche Parteien glänzten bereits in der Vergangenheit mit Abwesenheit am Verhandlungstisch und Blockadehaltung bei wichtigen Projekten." Abgeordnete wie die Mitglieder der britischen UK Independence Party, die bei allen Plenumsabstimmungen aus Prinzip mit Nein stimmen, um mehr Europa in ihrer Heimat zu verhindern, könnten dann zum Problem werden. Sie würden dadurch gleichsam zu Verbündeten all der Gegner von Gesetzesvorhaben, die sich aus inhaltlichen Gründen gegen abzustimmende Vorschläge stellen. Für den Verkehrsbereich teilt Markus Ferber (CSU) diese Bedenken allerdings nicht. Schon in der abgelaufenen Legislaturperiode hätten 70 Abgeordnete aus dem "rechts- und linksradikalen Bereich im Europaparlament" gesessen. Sie hätten in der täglichen Arbeit der Ausschüsse keine Rolle gespielt. "Deswegen gehe ich nicht davon aus, dass die Sacharbeit, die den Verkehrsausschuss besonders prägt, durch ein Erstarken der radikalen Kräfte gefährdet wird", so Ferber. Ein breites Parteienspektrum Insgesamt stehen in Deutschland 24 Parteien zur Wahl. Dabei bilden nur die CDU/ CSU Landeslisten. Alle übrigen Parteien haben bundesweit gültige Einheitslisten. Die Rolle der deutschen Spitzenkandidaten ist dabei im Grunde bedeutungslos. Welche Funktion sie nämlich später im Europaparlament ausüben, entscheiden die dortigen Fraktionen. Sie bilden sich aufgrund der Ähnlichkeiten der politischen Parteien aus den unterschiedlichen Mitgliedsländern. Das Fraktions-Spektrum im Europaparlament ist zurzeit größer als im Bundestag. Das bürgerlichkonservative Lager zum Beispiel hat im Europaparlament zwei Fraktionen: die Europäische Volkspartei (EVP) mit den deutschen CDU- und CSU-Abgeordneten und die Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) mit den britischen Konservativen. Weiter rechts davon gibt es noch die europakritische Fraktion Europa der Freiheit und der Demokratie (EFD), zu der die britischen Euroskeptiker gehören. Eine Fraktion der als rechtsextrem bezeichneten Parteien hatte es 2007 für ein paar Monate gegeben. Sie löste sich nach internen Streitigkeiten wieder auf. Die Gründung einer neuen rechtspopulistischen Fraktion scheint nach den aktuellen Wahlen durchaus möglich. Um eine Fraktion im Europaparlament bilden zu können, müssen sich mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben unterschiedlichen Mitgliedstaaten zusammenfinden. Einen klaren Favoriten für die Wahlen gibt es diesmal auf europäischer Ebene nicht. In den Umfragen liefern sich die beiden größten Fraktionen - die EVP und Sozialisten - ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die deutschen Liberalen, Grünen und Linken werden wieder problemlos Fraktionen finden können. Die Alternative für Deutschland (AfD), die laut Umfragen auf jeden Fall erstmals ins Europaparlament ziehen wird, möchte sich der EKR anschließen. Der Verbleib der meisten deutschen Verkehrsexperten im Europaparlament ist quasi schon vor den Wahlen gesichert. Als Tran-Vollmitglieder werden Dieter-Lebrecht Koch und Werner Kuhn für die CDU sowie Ismail Ertug und Knut Fleckenstein für die SPD dank ihrer guten Listenplätze auf jeden Fall wieder dabei sein. Spannend wird es für Michael Cramer (Grüne), der nur auf Platz zehn der Bundesliste steht. Auch Gesine Meißner auf Platz drei der FDP-Liste darf sich noch nicht sicher fühlen. Sabine Wils wurde für die Linken nicht mehr aufgestellt. Markus Ferber ist CSU-Spitzenkandidat, allerdings nur stellvertretendes Tran-Mitglied. Trotzdem wird der Verkehrsausschuss sein Gesicht deutlich ändern. Denn viele prominente und langjährige Tran-Mitglieder, darunter auch der Vorsitzende Brian Simpson, kandidieren nicht mehr. Wie viele Mitglieder jeder Fraktion im Verkehrsausschuss sein werden, hängt vom Wahlergebnis ab. Ein breites Parteienspektrum Wechsel wird es auch bei den verkehrspolitischen Posten in der EU-Kommission geben. Verkehrskommissar Siim Kallas wird sein Amt nicht weiterführen. Ein neuer Kommissar wird ein neues Kabinett um sich bilden. Der langjährige Chef der Generaldirektion Mobilität und Verkehr (DG Move), Matthias Ruete, ist im April in eine andere DG gewechselt, sein Nachfolger ist ein Verkehrs-Neuling. Die untergeordnete Chef-Ebene bei DG-Move ist ebenfalls zur Hälfte mit neuen Personen besetzt. Für Cramer hat dieser Personalwechsel Licht und Schatten: "Die Erfahrung wichtiger Protagonisten wird nicht ganz leicht zu ersetzen sein. Zugleich ist dieser Neuanfang jedoch auch eine Chance, denn die verkehrspolitische Bilanz der letzten Jahre fällt sowohl in der Kommission als auch im Parlament durchwachsen aus", meint der Grünen-Politiker. Die Serie Europa-Wahl 2014 Welche Bedeutung die Europawahlen vom 22. bis 25. Mai für die Verkehrspolitik habenVR 19: Welche Macht das Europaparlament besitztVR 20: Welche Parteien zur Wahl antretenVR 21: Welche verkehrspolitischen Ämter neu besetzt werdenVR 22: Die Wahl-Ergebnisse

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