Der Schütze im Visier des Staatsanwalts

Vor dem Landgericht Würzburg muss sich seit dem 11. August der mutmaßliche Autobahnschütze Michael Harry K. verantworten. Der ehemalige Berufskraftfahrer soll zwischen 2008 und 2013 mehr als 700 Mal vom Lenkrad aus auf andere Fahrzeuge auf deutschen Autobahnen geschossen haben. Vor allem auf Autotransporter hatte er es abgesehen. Neben Lastwagen traf er allerdings auch Autos und Menschen. Dem 58-Jährigen aus Kall in der Eifel droht wohl eine langjährige Haftstrafe. Um das Gerichtsverfahren auf ein handhabbares Maß zu begrenzen, legt ihm die Staatsanwaltschaft 171 Fälle zur Last. Das Verlesen der Anklageschrift zum Prozessauftakt dauerte dennoch knapp dreieinhalb Stunden. Unermüdlich wurden Zeitpunkte, Autobahnen und Geschädigte benannt. Der Tatablauf war fast immer derselbe: K. lenkte mit links und schoss mit rechts mehr oder weniger freihändig - meistens in den Gegenverkehr, manchmal auch auf Lastzüge in gleicher Fahrtrichtung. Um nicht entdeckt zu werden, drückte er überwiegend bei Dunkelheit ab. Seine Waffe hatte er im leeren Airbagfach des Lenkrads oder in der Kühlbox neben dem Fahrersitz versteckt. Anklage wegen versuchten Mordes In fünf Fällen ist der mutmaßliche Autobahnschütze wegen versuchten Mordes angeklagt. Oberstaatsanwalt Boris Raufeisen wirft ihm unter anderem vor, heimtückisch gehandelt zu haben und die Gefahr für Leib und Leben anderer Menschen zumindest billigend in Kauf genommen zu haben. "Dem Angeklagten war klar, dass ein von ihm gesetzter Fehlschuss dazu führen könnte, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer entweder direkt getroffen und verletzt werden könnte oder aber, dass er sich erschreckt und er die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert", heißt es hierzu in der Anklageschrift. Nur durch Zufall sei niemand getötet worden, betonte Raufeisen. Ein Projektil hatte 2009 eine Geschäftsfrau auf der A3 bei Würzburg in den Hals getroffen, sie erlitt lebensgefährliche Verletzungen. Weil dies der gravierendste Fall ist, läuft das Verfahren in der unterfränkischen Residenzstadt. Bei anderer Gelegenheit verletzte splitterndes Glas zwei Menschen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem früheren Fernfahrer deshalb auch gefährliche Körperverletzung, gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, Sachbeschädigung und Verstoß gegen das Waffengesetz vor. Fahrer legt Teilgeständnis ab Wie viele Schüsse er abgegeben habe und wo, könne er nicht mehr erinnern, erklärte K. zum Prozessauftakt. Der stämmige Mann mit Schnurrbart und Goldohrring wies den Vorwurf des versuchten Mordes entschieden zurück. Er habe nicht in einem einzigen Fall in die Nähe, geschweige denn auf oder in Fahrerhäuser geschossen, erklärte sein Verteidiger Franz-Josef Krichel. Der Angeklagte räumte aber ein, von Herbst 2009 an auf andere Lastwagen geschossen zu haben und bat die Opfer um Entschuldigung. Wut und Genugtuung als Tatmotive Als Motiv für seine Taten nannte K. auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters Burkhard Pöpperl Verärgerung über das Verhalten von Fahrern vor allem ausländischer Autotransporter. Er berichtete, er sei vor vielen Jahren von einem solchen auf der Autobahn abgedrängt worden und nur knapp einem schweren Unfall entgangen. Zudem sei er mehrfach während seiner Touren in Belgien und Frankreich überfallen worden und er habe sich regelmäßig über volle Rastplätze und scheinbar willkürlich verhängte Bußgelder geärgert. Der ehemalige LKW-Lenker, der 1989 über Ungarn in den Westen geflohen war, sprach von "Krieg auf der Autobahn" und sagte, es sei um Genugtuung und Selbstjustiz gegangen. Er habe anderen Fahrern Denkzettel für ihr Fahrverhalten verpassen wollen, indem er in die Ladung oder in den Auflieger schoss, ergänzte Raufeisen. Dabei habe er nur Sachschäden anrichten wollen. Nach Darstellung des Oberstaatsanwalts waren die Folgen der Schüsse aber nicht zu kontrollieren. Der Angeklagte habe ohne genaueres Anvisieren durch die geöffnete Scheibe geschossen, Windböen oder Fahrbahnunebenheiten hätten die Projektile ablenken können. Ein Einzelgänger mit Hang zu Waffen Die Staatsanwaltschaft Würzburg hatte den mutmaßlichen Autobahnschützen nach seiner Festnahme im vergangenen Juni als "frustrierten Einzelgänger mit einem Hass auf andere Menschen und einer Affinität zu Waffen" bezeichnet. Obwohl K. nie einen Waffenschein besessen hat, hält er sich für einen guten Schützen. Das machte er während der Verhandlung deutlich. Deswegen sei ihm nicht in den Sinn gekommen, dass Fehlschüsse zu schwersten Unfällen mit erheblichen Folgen bis hin zum Tod anderer Verkehrsteilnehmer würden führen können, erklärte er. Das Schießen habe er während seiner ersten Anstellung nach der Wende als Fahrer von Baustoffen in der Eifel in Kiesgruben und in seiner Garage geübt. Die Pistolen, mit denen er seine Feldzüge bestritt, baute sich der gelernte Werkzeugmacher zum Teil selbst. Details erst auf wiederholte Nachfrage K. nahm die Anklage vor dem Landgericht Würzburg stoisch bis gleichgültig auf. Ihn aus der Reserve zu locken, gelang auch dem Vorsitzenden Richter nicht. Auch fiel es ihm schwer, neue Details zu den Ausrastern des Angeklagten in Erfahrung zu bringen. Anscheinend genügten Kleinigkeiten, um den Mann in Rage zu bringen. Zum Beispiel ein Knöllchen, das seine Frau 2013 von der Stadt Köln bekam. Als K. davon erfuhr, fuhr er in seinem Audi durch die Rheinmetropole, um willkürlich auf geparkte Fahrzeuge zu schießen und sich so abzureagieren. "Mir ist bewusst, dass mein Handeln für Außenstehende in keiner Weise nachvollziehbar ist", erklärte der 58-Jährige während des Prozessauftaktes vor dem Landgericht Würzburg. "Heute weiß ich selbst nicht, was mich damals geritten hat." Er sei aber bereit, für seine Taten geradezustehen. Wenn K. wegen versuchten Mordes schuldig gesprochen wird, droht ihm eine lebenslange Freiheitsstrafe - und zwar für jeden der Fälle. Für das Verfahren sind neun Verhandlungstage bis Mitte September angesetzt. Bis zur Entscheidung sitzt er in Würzburg in Untersuchungshaft. Nagelplättchen-Vorwurf Der Autobahnschütze soll auch ein Reifenkiller gewesen sein Michael Harry K. soll nicht nur auf LKW geschossen haben, sondern auch Jagd auf Reifen gemacht haben. Laut dem Oberstaatsanwalt hat er seit April 2011 ganze 182 Mal selbst gebastelte Nagelplättchen großräumig um sein Zuhause verteilt - vornehmlich im Großraum um Kall in der Eifel und besonders entlang der B 266 bis Euskirchen. Auch diese Fälle werden vor dem Landgericht Würzburg verhandelt.Motiv für diesen Entschluss war demnach, dass er selbst einmal an drei Reifen Nägel eingefahren hatte und diese erneuern musste. Durch das Ausbringen der Nagelplättchen wollte er andere Verkehrsteilnehmer eigenen Angaben zufolge genauso treffen und sich somit rächen. Einen Unfall, zu dem es durch glückliche Umstände nicht gekommen ist, nahm der Mann aus Sicht der Anklage zumindest billigend in Kauf. ag Rückblick: So lief die Fahndung Langjährige Ermittlungen führten 2013 zum Erfolg Die mysteriöse Serie von Schüssen auf deutschen Fernstraßen hatte jahrelang für Aufsehen gesorgt und die Ermittler in Atem gehalten. Erst eine umfangreiche Kennzeichenerfassung an den betroffenen Autobahnabschnitten führte das Bundeskriminalamt im vergangenen Jahr auf die Fährte des LKW-Fahrers Michael Harry K. Der Mann gestand die Taten wenige Stunden nach seiner Festnahme.Bei seiner Festnahme im Juni 2013 fand die Polizei auf seinem Grundstück in Kall in der Eifel zwei Pistolen der Kaliber 9 und 22 Millimeter inklusive selbst gebauter Schalldämpfer sowie einen Schießkugelschreiber. Die Waffen hatte er in einer Hecke versteckt. Zudem entdeckten die Beamten rund 1300 Schuss Munition. ag/dpa

Der Schütze im Visier des Staatsanwalts

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