Der "dritte Weg" hat zwei Seiten

Fußballfieber und -feiern sowie Straßenschlachten und extrem hart durchgreifende Sicherheitstruppen prägen die Stimmung vor der Fußball-WM in Brasilien. Grund genug für die VerkehrsRundschau, sich vor Ort ein Bild über die Tatsachen zu verschaffen und Transportunternehmer, Logistiker und Fahrer vor Ort zu fragen, wie sie dieses Großereignis bewerten. Erste Station ist das Corinthians-Stadion in São Paulo, das bislang vor allem durch einen umgestürzten Kran, Unfälle mit Toten und Verletzten sowie entsprechendem Zeitverzug Schlagzeilen machte. Entsprechend "unfertig" sieht die Arena im Februar dann auch aus: Es fahren noch Baufahrzeuge durchs Stadion und Kräne beginnen gerade mit der Montage der Dachsegmente. Kaum zu glauben, dass das Bauwerk bis zum Anpfiff fertig sein soll, doch Waldomiro Pereira, Fahrer eines Transportbetonmischers, sieht das anders: "Es gibt in Brasilien immer einen dritten Weg", erklärt der ohne Vorankündigung angehaltene und befragte Fahrer. Er weiß, dass er und seine Landsleute einen Plan "C" in petto haben, falls das ursprüngliche Vorhaben und "Plan B" nicht funktionieren sollten - was beim Corinthians-Stadion teilweise tatsächlich bereits eintrat. Er sollte Recht behalten: Schon im März leuchtet ein grüner Rasen vor weiß bestuhlten Tribünen - irgendwie haben sie es eben doch hinbekommen. Die Frage, ob ihm sein Job überhaupt Spaß mache und er mit Arbeitsstunden und Bezahlung zufrieden sei, kann er uneingeschränkt bejahen: "Ich liebe meinen Job und verdiene gutes Geld", erklärt Pereira, der mit seinem Mischer beim Transportbetonunternehmen Concreserv normale Acht-Stunden-Schichtzeiten fährt und dafür mit Schichtzulagen auf rund 1000 Euro netto im Monat kommt. Das ist für brasilianische Fahrerlöhne eher Erstliga. Doch aufgrund des Fahrermangels und der Größe des Landes bleibt vielen Transportunternehmen und Logistikern keine andere Wahl, als bessere Löhne zu bezahlen. Nur punktuelle Verbesserungen So weit so gut also. Befragen wir doch mal die Arbeiter, die Waldomiros Beton glatt ziehen und in Form bringen: Antonio da Paz und Antonio Ferreira sind in der Abschlussphase mit vielen "Detailarbeiten" beschäftigt: Verkehrsinseln betonieren oder Bordsteinkanten aufrichten. Das sind alles Jobs, bei denen es nicht mehr um die letzte Sekunde geht, weswegen auch sie ihre Acht-Stunden-Schichten ab 7.30 Uhr morgens einhalten können. Also gar keine Kritik? Mitnichten. Die Concreserv-Fahrer José Barros und Jaumacy de Matos Brito beklagen, dass insgesamt viele Schmiergelder geflossen sind und die Eintrittspreise zu den WM-Spielen so hoch seien, dass ihnen wohl nur der Fernseher bleibt, um sie mitzuerleben. Andererseits sind sie auch stolz, an dieser umstrittenen WM mitgeholfen zu haben: Immerhin habe sich zumindest in den Städten, in denen Stadien entstanden sind, die Infrastruktur etwas verbessert. Außerdem freut es de Matos Brito, dass seine Söhne immer erzählen können, dass ihr Vater am Stadionbau beteiligt gewesen ist. Trotzdem bleibt es ein zweischneidiges Schwert: Für die Stadien wurden riesige Flächen frei- und Favelas rigoros beiseite geräumt, um Platz zu schaffen. Deshalb gärt es dort. Auch die Zubringer zum Corinthians-Stadion wie die mehrspurige Autobahn und die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr brauchen ihren Platz. Doch schon einen knappen Kilometer hinter dem Stadion verengen sich die Verkehrswege wieder und die Fahrbahndecken lassen massiv zu wünschen übrig. Entsprechend werden die Dauerstaus bestenfalls ein paar Meter vom Stadion wegverlagert. Auf weniger wichtigen Zubringern und Verkehrswegen kommt von den riesigen Infrastruktursummen dann praktisch gar nichts mehr an, was vor allem in den ärmeren Vierteln für Verdruss sorgt. Doch wie bewertet man das Geschehen abseits der gärenden Metropolen Brasilia, Sao Paulo oder Rio de Janeiro? Dafür begeben wir uns in den ländlich geprägten Bundesstaat Minas Gerais, der ebenfalls im Südosten liegt. An einer Autobahnraststätte an der 040, die Belo Horizonte mit Rio verbindet, befragen wir wieder ohne Vorankündigung Fahrer zu ihrer Meinung bezüglich der WM. Aeilo Rocha fährt seit 25 Jahren und pendelt aktuell immer zwischen Belo Horizonte und Rio, wofür er einfach neun Stunden braucht. Er fährt Zement und hat die Auswirkungen der WM natürlich gespürt - allerdings vor allem im letzten Jahr. Da zog die Nachfrage massiv an, auch vom Kleingewerbe und Privatleuten, die ihre Immobilie eben zur WM vergrößern oder verbessern wollten. Vorurteil bestätigt: Alle lieben Fußball Auch Remo Sacho, der von Guyana gen Rio fährt, hatte durch die WM merklich mehr Arbeit. Klar gebe es auch Unruhen und Ungerechtigkeiten, in Summe überwiegen für ihn aber die Vorteile. Außerdem eint alle Befragten die tatsächlich vorhandene sprichwörtliche Liebe zum Fußball und der Stolz, diese WM ausrichten zu dürfen, womit sie zumindest dieses (positive) Vorurteil voll bestätigen. Doch Rocha rechnet damit, dass nach der WM und der Sommerolympiade 2016 wieder andere Zeiten anbrechen werden. Darüber macht sich Urubatan Helou junior keine Gedanken. Er ist der Juniorchef des rasant wachsenden Logistikunternehmens Braspress, das 1977 von seinem Vater gegründet wurde. 1983 kaufte Helou senior auf einer USA-Reise einen Ein-Dollar-Schirm "Made in China" und besuchte ein UPS-Verteilzentrum. Dieser Schirmpreis und die schnellen UPS-Pakete brachten ihn dazu, das UPS-Modell auf seine Heimat zu übertragen. Der Technologieschub der Achtzigerjahre brachte Brasilien elektronische Geräte, die Logistik stellte auf rechnergestützte Systeme um. In den Neunzigerjahren nahmen die Überfälle auf die wertvolle Fracht zu, was die Einführung diverser Sicherheitssysteme beschleunigte. Den nach wie vor starken Witterungs- und Verkehrseinflüssen trat Helou mit einem engmaschigen Lagernetz entgegen. Mittlerweile verfügt Braspress über 108 Hubs und rund 7000 Mitarbeiter. Muttertag ist viel wichtiger als die WM Allein in São Paulo gibt es vier Hubs, die die Warenströme bei Bedarf gegenseitig verschieben. Im "Gehirn" der Zentrale an der Rua Coronel Marues Ribeiro 125 wird wie in den anderen Filialen an 365 Tagen 24 Stunden gearbeitet. Die nahende Fußball-WM wirkt sich kaum bis gar nicht auf den Braspress-Umsatz aus, wie Juniorchef Urubatan Helou junior feststellt: "Wir wachsen weiter, doch unseren Hauptumschlag und -umsatz machen wir weiter an Weihnachten und Muttertag." Muttertag? "Muttertag ist einer der wichtigsten Feiertage in Brasilien", erklärt Helou lachend den Sachverhalt. Braspress hat sich vor allem auf Mode und Elektronik fokussiert: Kein Packstück darf größer als 1,2x1,07x 0,86 Meter messen und mehr als 45 Kilo wiegen. Nur dann kann es von den Bändern im Verteilzentrum vollautomatisch verteilt werden. Die Pakete rasen mit 9,8 km/h vorbei. So können pro Tag 8400, brasilienweit 200.000 Sendungen gedreht werden. Logistik ist hier Frauensache Über die rasenden Bänder in der Zentrale wacht Juliana Petri, eine von gut 3500 weiblichen Braspress-Mitarbeiterinen. Neben den immer noch vorkommenden tätlichen Überfällen auf der Straße kämpft Braspress heute vor allem mit Hackern, die über das elektronische "Hirn" an die Fracht wollen. Es geht viel voran im WM-Land, auch wenn die Logistik allem Anschein nach nicht in dem Maß profitiert, wie man es sich vielleicht erhofft hat. Ein Pilot, den wir auf dem Heimflug treffen, konstatiert: "Wir verkaufen unsere Embraer-Jets weltweit, aber die gefährliche Start- und Landebahn auf dem engen Stadtflughafen Congonhas ist immer noch die gleiche wie zu Beginn meiner Karriere - vor über dreißig Jahren. Wo könnten wir sein, wenn wir weniger oft den dritten Weg in Anspruch nehmen müssten?" Hintergrund Brasilien zur Fußball-WM 2014 Am 12.6. wird im Corinthians-Stadion das erste Spiel zwischen Gastgeber Brasilien und Kroatien angepfiffen. Insgesamt gibt es zwölf WM Stadien, in denen zu den brasilianischen Fans rund 600.000 Zuschauer aus dem Ausland erwartet werden. Eine logistische Herausforderung, von der auch DB Schenker einen Großteil übernimmt: Stand heute wird allein DB Schenker für die WM 203 Seecontainer und 270 Tonnen Luftfracht abwickeln, wozu für alle Stadien auch das neue hochsensible Torlinien-Equipment zählt. gs