Der Amazon-Effekt

Der Amazon-Effekt - dieses Wort macht in der Industrie die Runde. Es beschreibt einen Trend, der vor allem die Logistik betrifft: Die Menschen erleben beim privaten Einkauf im Internet, was in Sachen Tempo und Tracking möglich ist, und erwarten, dass Ähnliches im geschäftlichen Umfeld geboten wird. Gerade im Ersatzteilgeschäft ist der Amazon-Effekt schon spürbar. "Es gibt einen klaren Trend, den Servicelevel für den Kunden zu erhöhen", sagt Martin Wehner, Global Vice President Automotive bei Hellmann in Osnabrück. Und das heißt vor allem mehr Tempo. "Der Endkunde in China sieht, dass Alibaba (der dort führende E-Commerce-Anbieter, Anm. d. Red.) zweimal am Tag ausliefert und fragt sich, warum er auf ein Ersatzteil fünf Tage warten muss", nennt Wehner ein Beispiel. Was bedeutet der Amazon-Effekt für die Transportdienstleister und mit mit welchen Services können sie da künftig punkten? Fest steht: Der Amazon-Effekt ist kein Phantom. In den USA zum Beispiel haben Industrieanbieter schon begonnen, sich an die neuen Kundenwünsche anzupassen. United Electric Supply zum Beispiel, ein Spezialist für Elektro-Teile aus Delaware, bietet seit Kurzem die taggleiche Zustellung (Same-Day-Delivery) von Bestellungen sowie eine genaue Sendungsverfolgung, berichtet das "Wall Street Journal". Andere Industrieunternehmen ermöglichen die "Ein-Klick-Bestellung" und werben aggressiv mit ihren Preisen - anstatt sie, wie lange Zeit üblich, in separaten Listen zu verstecken. "Was B2C geht, wird auf lange Sicht auch im B2B gehen", ist Andreas Kick, Executive Vice President bei der Beratungsgesellschaft 4flow, Berlin, überzeugt. "Wenn die heute jungen Menschen erst mal in Entscheidungspositionen kommen, werden sie ihre Gewohnheiten ins Geschäft mitnehmen und entsprechende Veränderungen initiieren", so Kick. Grundsätzlich entwickelt sich das Geschäft mit dem "Kauf nach dem Kauf" gut. "Die Entwicklung im Ersatzteilbereich war in den letzten Jahren positiv. Die Margen in diesem Segment sind weiterhin höher als im Bereich von Standarddienstleistungen", so Martin Wehner von Hellmann, ein Unternehmen das traditionell im After-Sales-Bereich tätig ist und unter anderem Ersatzteillager für Automobilhersteller betreibt. Die Unternehmensberatung McKinsey sagt in einer aktuellen Studie voraus, dass die Umsätze im After-Sales-Bereich auf Jahre hinaus wachsen werden (siehe Kasten Seite 17). "Service gewinnt als Verkaufsargument immer mehr an Bedeutung", bestätigt Christian Dieckhöfer, Geschäftsführer der BLG Industrielogistik. Als zweiten Wachstumstreiber nennt er technologische Fortschritte. "Dinge wie Big Data und Predictive Analytics geben zusätzlich Schub", so Dieckhöfer. Ein Beispiel: Durch Auswertungen von Maschinendaten können die Hersteller mittlerweile frühzeitig erkennen, wann ein Defekt droht, und das kritische Teil austauschen. Diese sogenannte vorausschauende Wartung verhindert den Stillstand, bevor er eintritt - vorausgesetzt, die nötigen Ersatzteile werden vom Logistiker rechtzeitig bereitgestellt. Höhere Anspruchshaltung der Kunden Hohes Tempo ist in der Ersatzteillogistik aber heute schon Standard. Hellmann etwa beliefert Autowerkstätten im Nachtsprung. Die Fahrer der Lkw haben einen Schlüssel für den Werkstattbetrieb und hinterlegen hier nachts die bestellten Ersatzteile, sodass der Mitarbeiter sie gleich am nächsten Morgen einbauen kann. Weniger dringende Lieferungen werden über das normale Stückgutnetz abgewickelt. Meist wählt der OEM die in der Ersatzteillogistik eingesetzten Transportdienstleister aus. Er schreibt die Organisation des Lagers getrennt von den Transporten aus. Wer sich als Transportunternehmer in der Ersatzteillogistik etablieren will, sollte sich also zunächst an die jeweiligen Hersteller richten - nicht an die Betreiber der outgesourcten Lager. Allerdings herrscht längst nicht in allen Branchen ein so hohes Tempo wie in der Automobilindustrie. Vielerorts sind lange Lieferzeiten, fehlende Bestandsinformationen und lückenhafte Sendungsdaten an der Tagesordnung. Hier wird der Amazon-Effekt in den nächsten Jahren für ein Aufholen sorgen - übrigens nicht nur bei den Dienstleistern, sondern auch in der Organisation der OEM. "Mancherorts klaffen Anspruch und Wirklichkeit noch auseinander", gibt Hellmann-Manager Wehner zu bedenken. Selbst die IT-Systeme der Hersteller seien oft noch nicht gerüstet für den Austausch von Echtzeitdaten. Alle Prozesse komplett papierlos Wie die Verlader auf den Amazon-Effekt reagieren, zeigt das Beispiel Trumpf: Der Maschinenbauer arbeitet daran, in seinem neuen Zentrallager alle Prozesse komplett papierlos abzuwickeln und so zu beschleunigen. "Wir spüren eine höhere Anspruchshaltung der Kunden. Ich glaube, das ist getrieben vom B2C-Geschäft", so Till Küppers, Leiter Services Werkzeugmaschinen, unlängst im Interview mit der Außenwirtschaftsgesellschaft Germany Trade & Invest. Haben Transportdienstleister überhaupt eine Chance, in einer neuen Branche als Ersatzteillogistiker tätig zu werden? Wehner von Hellmann ist optimistisch. "Unabhängig von der jeweiligen Industrie gibt es ähnliche Anforderungen." Wer zum Beispiel schon Ersatzteile aus dem Automobilbereich transportiert habe, werde keine Probleme haben, Gleiches für die Hersteller von Landmaschinen zu tun. Ein absolutes Muss in diesem Sektor ist natürlich ein leistungsfähiges IT-System, das für den Datenaustausch in Echtzeit taugt. "Sie müssen in der Lage sein, sich in einer komplett digitalen Ersatzteil Supply Chain zu bewegen", betont BLG-Geschäftsführer Dieckhöfer. Wehner jedoch warnt davor, diesen Faktor zu stark zu betonen. "Ersatzteillogistik ist nach wie vor ein 'People Business', die Kommunikation mit dem Kunden ist extrem wichtig." Der Grund ist: Anders als in der Produktionsversorgung kommt es im After-Sales-Bereich häufiger zu Abweichungen vom Standardprozess, die den Endkunden direkt betreffen. Und wenn das dringend benötigte Teil irgendwo auf der Welt zum Beispiel im Zoll festhängt, muss ein erfahrener Mitarbeiter da sein, der sich des Problems annimmt und mit dem Kunden kommuniziert. "Der kleinere Teil ist die IT, der größere Teil der Mensch", sagt Wehner. Die Ansprüche an die Ersatzteillogistik werden infolge des Amazon-Effekts aber steigen. 4flow-Berater Kick erwartet zum Beispiel, dass Lieferungen noch genauer getrackt werden. Als Vorbild nennt er den Lieferdienst Foodora, bei dem Kunden in Echtzeit verfolgen können, wo sich das Lieferfahrrad mit ihrer Mahlzeit befindet. Zusätzlich kommt wohl bald auch die Zustellung an den Standort des Kunden: Das Ersatzteil könnte genau dorthin geliefert werden, wo ein Wartungstechniker gerade im Einsatz ist. In Nischen, etwa bei Hydraulikschläuchen für Baumaschinen, existieren solche Lösungen schon. Künftig könnten sie zum Standard gehören. All diese Services - Vorhersagen zum Lieferzeitpunkt, genaue Statusmeldungen und schnelles Umrouten der Transporte - können nur Dienstleister leisten: "Diesen Mehrwert kann nur der Transporteur bieten", so Kick. In der Welt der total flexibilisierten Belieferung werden vor allem die großen KEP-Dienste den Ton angeben. Doch Kick erwartet, dass sich neue Transportnetze nach dem Vorbild des Fahrdienstes Uber entwickeln, die ohne eigenen Fuhrpark auskommen und Ersatzteillieferungen via Internet koordinieren. "In einem solchen Netz zusammenzuarbeiten, könnte sich für mittelständische Spediteure künftig lohnen." Mehr zum Thema im Dossier Ersatzteillogistik www.verkehrsrundschau.de/dossiers Studie Mckinsey Ersatzteilmarkt - die wichtigsten Trends Bis 2030 jedes Jahr drei Prozent Wachstum auf dem Ersatzteilmarkt - das sagt die Unternehmensberatung McKinsey in einer aktuellen Studie voraus. Sie bezieht sich auf den Automobilsektor, die dort genannten Trends sind aber auch in anderen Industrien zu beobachten. Die wichtigsten Entwicklungen:- Das größte Wachstum des Ersatzteilmarktes findet in China (plus 8,1 Prozent p.a.) und Asien statt (plus 6,5 Prozent p.a.).VR-Einschätzung: Das Volumen der grenzüberschreitenden Transporte nimmt zu.- Digitale Bestellkanäle etablieren sich. Bis 2035 steigt der Onlineumsatz von Ersatzteilen auf 20 bis 30 Prozent. Nur komplexe Teile werden weiter von den OEM oder Zwischenhändlern verkauft.VR-Einschätzung: Kunden von Transportdienstleistern sind künftig nicht nur OEM, Zulieferer und Werkstätten, sondern zunehmend auch Online-Portale.- Vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance) treibt den Markt für Ersatzteile an. Mit Datenanalysen lassen sich mögliche Probleme früher erkennen und beheben.VR-Einschätzung: Dank vorausschauender Wartung sinkt die Zahl der eiligen, vorab nicht planbaren Transporte.cg