"Bei uns wird zu viel geredet"

Herr van de Camp, die EU kämpft angesichts des Flüchtlingsstroms darum, dass die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten offen bleiben. Was würde es bedeuten, wenn dort wieder systematische Kontrollen eingeführt würden? Für die Verkehrswirtschaft wäre es ein großes Unheil. Für die gesamte Wirtschaft würde ein immenser Schaden entstehen, denn alle Grundfreiheiten, die Personen-Freizügigkeit, der Waren-, Kapital- und der Dienstleistungsverkehr würden dadurch beeinträchtigt und die darauf beruhende Arbeitsteilung. Wir müssen das Problem an den Außengrenzen lösen - aber bitte keine Grenzkontrollen innerhalb der EU. Verkehrskommissarin Violeta Bulc hatte sich viel vorgenommen in der europäischen Verkehrspolitik. Bislang hat sie aber nur wenig umgesetzt. Sind Sie enttäuscht? Nein, das wäre zu einfach. In Wirklichkeit gibt es da große Unterschiede. Das Eisenbahnpaket etwa kommt gut voran. Ich denke, wir können den politischen Teil im März oder April abschließen. Politisch streiten hier nur noch der Rat und das Parlament. Die kleinen Staaten wollen ihren Markt vor den großen Eisenbahngesellschaften DB, SNCF, NS schützen. Die Kommission spielt da nur noch eine technische Rolle. Der Einfluss von Frau Bulc auf diese Verhandlungen ist nur gering. Im Dezember hat sie ihre Luftfahrtstrategie vorgelegt und damit bin ich eigentlich zufrieden. Es gibt da auch Schwächen, die nachgebessert werden müssen. Aber es gibt schon eine Vision, ein geschlossenes Konzept. Ich würde dafür eine Zwei geben. Und die Straße? Was das Straßenpaket angeht: Ich gehe davon aus, dass die Kommission es im November vorlegt. Die etwas merkwürdige Diskussion, die wir vor allem mit dem Sozialdemokraten Frans Timmermans führen, betrifft nicht das Ob, sondern das Wie. Wird das Straßenpaket als einzelnes Projekt nur von Violeta Bulc vorgelegt oder als Teil eines Binnenmarktpaketes. Und man hat sich jetzt darauf verständigt: Das Straßenpaket wird ein Kapitel im Rahmen der Gesetzgebung zur Verbesserung des Binnenmarktes. Das heißt dann vielleicht anders, aber der Inhalt bleibt gleich. Wer wird das Gesetz dann vorlegen? Ich denke, die Binnenmarktkommissarin Elzbieta Bienkowska, aber auch Verkehrskommissarin Bulc. Unser Problem ist: Das geht alles viel zu langsam. In unseren Institutionen wird zu viel geredet und es kommt zu wenig dabei raus. Das Straßenpaket wird also im Rahmen der Binnenmarktgesetzgebung vorgelegt. Welche politische Botschaft vermittelt das? Es gibt Leute, die darin eine Schwäche der Verkehrskommissarin sehen, einen Indikator für den Stellenwert der Verkehrspolitik in der Kommission. Ich glaube das nicht: Es kommt darauf an, was die Kommissarin am Ende vorlegt. Letztlich kann die Verkehrskommissarin nur etwas erreichen, wenn sie gut mit den anderen zusammenspielt. Als "einsame Wölfin" im Kollegium hat sie keine Chance. Erwarten Sie, dass die Kommission am Ende alles vorlegt, was das Straßenpaket enthalten sollte: Eurovignette, einheitliche Mauttechnik, Marktzugang? Ich denke schon, dass wir das alles im November sehen werden. Jedenfalls bekommen wir dann ein Konzept dafür, auch wenn einzelne Gesetzesvorschläge erst später vorgelegt werden. Auch die Straßenagentur? Darüber wird noch gestritten, auch im Parlament. Nicht darüber, ob wir sie brauchen, sondern was sie machen soll. Persönlich bin ich sehr für die Straßenagentur. Wir brauchen sie für die ganzen Probleme, die wir haben: Mit der Kabotage, dem schlechten Zustand vieler Lkw, dem Parkplatzmangel, der Übermüdung der Fahrer, die ihre Ruhezeiten nicht einhalten. Das muss von der Agentur kontrolliert und verbessert werden. Für die Luftfahrt und die Bahn haben wir schließlich auch Agenturen. Soll die Agentur auch Sozialvorschriften überwachen? Das ist die Frage. Da bin ich strikt dagegen, denn das ist Sache der Mitgliedstaaten. Die EU ist hier nicht zuständig. Die Sozialdemokraten möchten, dass die Straßenagentur auch kontrolliert, ob "unfaire" Löhne gezahlt werden Das lehnt die EVP strikt ab. Natürlich können wir keinen Missbrauch dulden, wenn zum Beispiel Fahrer aus Osteuropa mit ihrer ganzen Familie im Lkw leben. Aber die Frage, ob man in Deutschland den Mindestlohn zahlen muss, sollen die Deutschen beantworten. Im Raum steht der Vorwurf des Sozialdumpings vor allem gegenüber den Osteuropäern. Jeder ist dagegen, aber nicht jeder versteht darunter das Gleiche. Vor allem die Sozialdemokraten benutzen den Begriff gerne, in der EVP halten wir nicht so viel davon. Im Binnenmarkt gibt es unterschiedliche Löhne. Ein Fahrer aus den Niederlanden oder Deutschland verdient mehr als ein polnischer oder rumänischer Fahrer. Das ist aber kein Dumping, sondern Wettbewerb. "Social dumping" ist, wenn man eine Briefkastenfirma in Zypern gründet, die einen rumänischen Fahrer für sechs Euro die Stunde einstellt. Unfairer Wettbewerb ist, wenn der polnische Fahrer nicht nur weniger Lohn bekommt, sondern auch keine Steuern und Sozialabgaben zahlt. Denn die Konkurrenz in Westeuropa muss diese Kosten tragen. Apropos Kosten: Der Verkehrsausschuss hat sich darüber beklagt, dass nicht genug Geld aus dem Europäischen Investitionsfonds (EFSI) in Verkehrsprojekte fließt. Das stimmt nicht. Im Ausschuss gibt es die Abgeordneten, die an den EFSI glauben, wie Herr Juncker das tut, und es gibt die Ungläubigen. Ich glaube an EFSI. Bis jetzt wurden 55 Milliarden Euro aus dem Fonds vergeben, 30 Prozent davon für Verkehrsprojekte. Das ist doch sehr ordentlich. Das Problem ist: Das meiste Geld bekommen Straßenprojekte. Denn Straßenprojekte sind rentabler, mit der Maut kann man den Schuldendienst finanzieren. Liegt das vielleicht auch daran, dass die Verkehrskommissarin im Kollegium keine starke Stellung hat? Nein, denn die Entscheidungen werden von der Europäischen Investitionsbank getroffen. Das sind Banker, die genau auf die Wirtschaftlichkeit achten. Natürlich könnten wir mehr als 30 Prozent für Verkehrsprojekte gebrauchen, aber insgesamt können wir damit sehr zufrieden sein. Die Eisenbahn gilt als umweltfreundliche Alternative zum Straßengüterverkehr. Ist diese Vision in Ihren Augen noch richtig? Um ehrlich zu sein, ich bin enttäuscht über den Mangel an Innovation und Flexibilität bei der Bahn. An den Grenzen müssen die Züge warten, weil es zu viele verschiedene Vorschriften, Sicherheitssysteme und technische Standards gibt. Die Bahn ist einfach zu langsam im Vergleich zum Lkw. Hier im Parlament gibt es viele Befürworter des Kombinierten Verkehrs. Ich gehöre auch dazu. Aber dafür muss die Bahn schneller und flexibler werden. Wenn der Zug mit dem Container drei oder vier Mal halten muss, bevor er auf einem Lkw ans Ziel gebracht werden kann, sagen doch die Spediteure in Rotterdam: Wir laden den gleich auf den Lkw und schaffen ihn direkt nach Gütersloh oder Paderborn. Sie haben kürzlich vorgeschlagen, die Trassengebühren für die Bahn abzuschaffen. Ja, mir geht es darum, die Wettbewerbsfähigkeit der Bahn gegenüber dem Lkw zu stärken. Selbst wenn es für diese Forderung wahrscheinlich nicht viel Unterstützung gibt: Irgendjemand muss diese Diskussion mal anstoßen. Wer zahlt dann für die Bahn-Infrastruktur? Die nationalen Regierungen. Die bezahlen ja auch für die Straßen. Gerade haben die Regierungen in Paris weitreichende Klimaziele beschlossen. Aber nach dieser Euphorie müssen wir jetzt etwas tun. Da gibt es eine Verantwortung und dieser Verantwortung versuche ich gerecht zu werden. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier "Verkehrspolitik" www.verkehrsrundschau.de/dossiers Vita Wim van de Camp Wim van de Camp ist einer der profiliertesten Abgeordneten im Europäischen Parlament. Der 1953 im niederländischen Oss geborene Christdemokrat studierte Rechtswissenschaft an der katholischen Universität Nimwegen. Danach arbeitete er für den niederländischen Kommunalverband.1986 wurde er zum ersten Mal für die Christdemokraten (CDA) in die zweite Kammer des niederländischen Parlamentes gewählt. In Den Haag blieb er bis 2009 und zog dann in das Europäische Parlament ein. Dort war er bis 2014 Mitglied im Binnenmarkt-Ausschuss und zuständig für die Beziehungen des Parlamentes zu China. Seit 2014 ist van de Camp Obmann der EVP-Fraktion im Verkehrsausschuss und war unter anderem Berichterstatter für die Überarbeitung des Weißbuchs Verkehr von 2011. tw Verkehrspolitik EU-Verkehrsausschuss Der Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr berät alle Vorlagen der EU-Kommission in diesem Politikbereich. Vor einer Abstimmung im Plenum muss die Mehrheit der Ausschussmitglieder eine Empfehlung für das Votum des Parlamentes abgeben. Sie ist zwar nicht bindend, hat aber großen Einfluss auf das Ergebnis. In der Regel werden Verkehrsgesetze und -verordnungen in erster Lesung nur im Verkehrsausschuss beraten. Sein Votum dient dann als Position des EU-Parlamentes in den Verhandlungen mit dem Ministerrat. Der Verkehrsausschuss ist der einzige Ausschuss, der von einem grünen Mitglied des Parlamentes geleitet wird, dem Berliner Abgeordneten Michael Cramer. tw

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