Unternehmen hoffen auf ein Geld-zurück-Urteil

Verstoßen die deutschen Lkw-Maut-Sätze gegen EU-Recht, und sind sie deshalb überhöht? Darüber streiten die Spedition Abtrans aus Polen und die Bundesregierung aktuell vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) von Nordrhein-Westfalen. Da die Klärung in dieser Frage von großer Bedeutung ist und es zu dem Streitpunkt noch keine Rechtsprechung gibt, auf die sich die Richter stützen können, haben sie den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg um eine Antwort gebeten. Darum geht es: "Das OVG möchte vom EuGH wissen, welche Kosten gemäß der EU-Wegekostenrichtlinie die Höhe der Lkw-Maut-Sätze beeinflussen dürfen, und somit ausloten, welchen Entscheidungsspielraum es in dieser Sache hat", erklärt Martin Pfnür, Rechtsanwalt der Kläger und Partner der gleichnamigen Kanzlei in Görlitz. Wegekostenrechnung wird hinterfragt Die EU-Wegekostenrichtlinie regelt die Gebührenerhebung für die Straßennutzung durch Nutzfahrzeuge in den Mitgliedstaaten. Zu klären sei auch, ob jeder Spediteur sich unmittelbar darauf berufen kann und die von der Bundesregierung festgelegten Lkw-Maut-Sätze vor deutschen Gerichten anfechten darf. "Das Verfahren kann für den Bund folgenschwer sein", sagt er. OVG hat bereits Bedenken geäußert Die Abtrans-Geschäftsführer Adam und Anna Piasny haben mithilfe von Pfnür gegen die Bundesrepublik Deutschland geklagt, weil die vom Staat beauftragten Experten von Progtrans und des IWW aus ihrer Sicht die Gebühr für die Autobahnnutzung im deutschen Wegekostengutachten von 2007 falsch berechnet haben. Die Kläger behaupten, dass deshalb die seit Juli 2011 im Bundesfernstraßenmautgesetz geregelten Lkw-Maut-Sätze gegen die EU-Wegekostenrichtlinie verstoßen und zu hoch gewesen sind. Laut Unionsrecht darf die Berechnung der Mautgebühren ausschließlich auf Infrastrukturkosten beruhen. "Ein Beispiel sind die Baukosten für Straßen", erklärt Pfnür. Das OVG von Nordrhein-Westfalen hat in der mündlichen Verhandlung am 27. und 28. März 2019 nach Anhörung der vom Bund hinzugezogenen Gutachter bereits Bedenken geäußert, dass die deutsche Berechnung unionsrechtlich nicht einwandfrei sein könnte. Grund zum Zweifeln geben der Ansatz der Polizeikosten im deutschen Wegekostengutachten von 2007 und die Ermittlung der Grundstückskosten. Abtrans verlangt folglich die Maut für den Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis 18. Juli 2011 zurück, die sie hier für Lkw-Fahrten auf Autobahnen zahlen musste. Es geht um 12.420 Euro. Anwalt stützt sich auf ähnliche Prozesse Vorausgegangen war eine Verhandlung am Verwaltungsgericht in Köln, wo das für die Lkw-Maut-Erhebung zuständige Bundesamt für Güterverkehr sitzt. Die Richter dort hatten die Klage der polnischen Spedition zunächst abgewiesen. Diese legte dagegen Rechtsmittel ein. Der neunte Senat am OVG von Nordrhein-Westfalen ließ daraufhin die Berufung in der nächsten Instanz zu. Binnen weniger Jahre muss er sich nun schon wieder mit der deutschen Lkw-Maut beschäftigen (siehe Kasten auf Seite 32). Der Jachten-Transporteur Günter Obst sowie der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) hatten 2005 beziehungsweise 2009 zum selben Thema gegen die Bundesregierung geklagt. Der Rechtsanwalt der Spedition Abtrans stützt sich in dem aktuellen Verfahren auf die ähnlich gelagerten Fälle. "Unser Verfahren knüpft an die bisherigen Fälle an, und der Senat in Münster berücksichtigt dabei auch die in den anderen Prozessen erörterten Sachfragen." Schon damals habe das OVG von Nordrhein-Westfalen erörtert, inwiefern es eine wirksame Rechtsgrundlage für die Erhebung der Lkw-Maut gibt und die Berechnung der Gebühr richtig sei, erklärt Pfnür. Allerdings sei es in den Fällen von Obst und des BGL nie zu finalen Entscheidungen gekommen. "Der Bund hat die Verfahren mit außergerichtlichen Einigungen beendet, um eine Klärung zu verhindern und das Risiko größerer finanzieller Schäden zu begrenzen", sagt der Fachanwalt für Transport- und Speditionsrecht sowie internationales Wirtschaftsrecht. Pfnür will sich nicht mit einem "Schweigegeld" für seine Mandanten begnügen. Er strebt ein Urteil an, auf das sich andere Unternehmen berufen können, die im gewerblichen Güterverkehr unterwegs sind - auch deutsche Branchenvertreter. Abtrans ficht Musterverfahren aus Das vorliegende Verfahren dient als Musterverfahren für etliche weitere polnische Speditionen, die auch einen Teil der gezahlten Lkw-Maut zurückverlangen. Pfnür hat insgesamt acht Klagen erhoben, bei denen die Argumentation gleich gelagert ist. Er hat für einige darüber hinaus außergerichtlich Ansprüche auf Gebührenerstattung geltend gemacht. "Mit den Vertretern der Bundesregierung haben wir uns darauf geeinigt, nur ein Verfahren durchziehen und dass dann dessen Ergebnis für die anderen Fälle übernommen werden kann", erläutert der Rechtsanwalt. Dadurch soll der Aufwand für alle Beteiligten handhabbar bleiben. Hinzu kommen außergerichtliche Verfahren in derselben Sache. "Insgesamt vertreten wir 39 Unternehmen aus Polen, die von der Bundesregierung eine Rückzahlung fordern." Es geht um insgesamt 22 Millionen Euro Dabei geht es auch um eine Erstattung der zu viel gezahlten Lkw-Maut, nachdem das Bundesamt für Güterverkehr im vergangenen Oktober infolge der BGL-Klage selbst Rundungsfehler bei der Berechnung eingeräumt hatte. Insgesamt beziffert der Klägeranwalt die geltend gemachten Ansprüche aller Spediteure allein für die Jahre 2010 und 2011 auf zirka 22,4 Millionen Euro. Die aktuelle Klage der polnischen Spedition Abtrans vor dem OVG in Münster und die Einschätzung des EuGH in Luxemburg zu dem Fall können weitreichende Konsequenzen haben. "Denn die deutschen Wegekostengutachten sind in den umstrittenen Punkten fortgeschrieben worden", erklärt Pfnür. Das heißt, die Bundesregierung bezieht bei der Kalkulation der Lkw-Maut bis heute nicht nur die reinen Infrastrukturkosten ein, sondern auch die umstrittenen Polizei- und Grundstückskosten. "Wie der EuGH die Rechtslage einschätzt, ist zwar noch nicht absehbar, wir sind aber optimistisch, dass in Luxemburg die Auffassung des OVG Münster bestätigt wird", sagt der Rechtsanwalt aus Görlitz. Er rechnet frühestens 2020 mit einer Antwort. Bestätigen sich die unionsrechtlichen Bedenken, droht dem Staat eine Klagewelle durch Tausende Güterverkehrsunternehmen, die aus demselben Grund jahrelang gezahlte Lkw-Maut-Gebühren zurückfordern könnten. Schreiben an das BAG wahrt Ansprüche "Ich rate daher Transport- und Speditionsunternehmen dringend dazu, ihre Ansprüche auf eine mögliche Erstattung der eigenen Lkw-Maut-Zahlungen ab dem Jahr 2016 geltend zu machen, sofern sie dies in der Vergangenheit nicht getan haben", sagt Pfnür. Das sei durch ein Schreiben an das Bundesamt für Güterverkehr möglich. Seit der Lkw-Maut-Klage von Günter Obst hat die Behörde dies akzeptiert und von sich aus schriftlich bestätigt, dass die Verjährung so lange gehemmt ist, bis alle Klageverfahren gegen die Lkw-Maut geklärt sind. Geld aus der Zeit davor können Betriebe, die jetzt erst Ansprüche für den Fall einer erfolgreichen Lkw-Maut-Klage anmelden, nicht mehr zurückfordern, weil die gesetzliche Verjährung drei Jahre beträgt. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier Lkw-Maut www.verkehrsrundschau.de/dossiers Oberverwaltungsgericht von Nordrhein-Westfalen Erst Obst, dann BGL, nun Abtrans: Richter in Münster haben reichlich Erfahrung mit Lkw-Maut-KlagenMautspreizung, kalkulatorische Zinsen oder Wegekostengutachten: Diese Begriffe sind für das Oberverwaltungsgericht (OVG) von Nordrhein-Westfalen keine Fremdworte. Schließlich beschäftigen sich die Richter in Münster bereits zum dritten Mal mit der deutschen Straßennutzungsgebühr, die Unternehmen zahlen müssen, die mit schweren Lastwagen unterwegs sind.Der Jachten-Transporteur Günter Obst zweifelte 2005 erstmals die Rechtmäßigkeit der Lkw-Maut-Sätze an und klagte gegen die damalige Mauthöheverordnung. Seitdem war der Fall zweimal vom OVG entschieden und beide Male vom Bundesverwaltungsgericht an die Richter in Münster zurückverwiesen worden.Das OVG hatte im Oktober 2012 die Bundesrepublik Deutschland verurteilt, dem selbstständigen Fuhrunternehmer eine 2005 gezahlte Maut von 22,41 Euro zu erstatten. Begründung: In der maßgeblichen Verordnung sei die Höhe der Maut nicht sachgerecht geregelt, die pro gefahrenem Kilometer zu zahlen war. Danach gingen beim Bundesamt für Güterverkehr mehr als 6000 Anträge von Unternehmern ein, die auch Mautzahlungen zurückforderten. Dazu kamen Erstattungsklagen.Obst legte den Streit im August 2013 bei. Denn die bis dahin nur per Verordnung festgelegten Mautsätze waren von der Regierung zwischenzeitlich mit dem höheren Gewicht eines Gesetzes bestätigt worden - rückwirkend bis 2003.Der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) klagte 2009 gegen die damalige Mauterhöhung, weil diese aus seiner Sicht nicht im Einklang mit der EU-Wegekostenrichtlinie stand. Die Sache landete auch vor dem OVG. Der Verband empfahl den Mitgliedern, dem Bundesamt für Güterverkehr zu schreiben, dass sie die seit dem 1. Januar 2009 gültige Lkw-Maut nur unter Vorbehalt zahlen und zugleich Anspruch auf Erstattung erheben, sollte ein Gericht diese für unzulässig erklären. Dazu kam es nie. Im Juni 2018 zog der BGL seine Klage zurück, weil sie sich durch die Weiterentwicklung des EU-Wegekostenrechts und die Änderungen des deutschen Mautgesetzes inzwischen überholt habe. Kurz darauf bekamen rund 10.000 Unternehmen einen kleinen Teil der von 1. Januar 2009 bis 26. Juli 2013 gezahlten Lkw-Maut erstattet, weil in dem Verfahren Rundungsfehler aufgefallen waren. ag

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