In den „Thesen 2016“ befassen sich die Redakteure der VerkehrsRundschau mit den wichtigsten Themen des neuen Jahres. Welche Trends und Entwicklungen bestimmen die tägliche Arbeit von Logistikern? Zugespitzt und kontrovers soll die Thesen-Serie in den ersten Tagen des Jahres 2016 zur Diskussion anregen – nutzen Sie dazu gerne auch die angegebene E-Mail-Adresse oder das Kommentarfeld. Wir freuen uns auf Ihre Meinungen!
Geht es nach der Anzahl der deutschen Wirtschaftsdelegationen, die den Iran in den letzten Monaten bereist haben, muss man das Land eindeutig zu den Emerging Markets, den wirtschaftlich aufstrebenden Ländern zählen. Kaum ein Wirtschaftsminister, der noch nicht mit einem Tross von Unternehmern vor Ort war: Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel machte im Mai 2015 als erster westlicher Spitzenpolitiker den Anfang. In seinem Windschatten folgten seine Kollegin aus Bayern Ilse Aigner wie auch der niedersächsische Wirtschaftsminister Olaf Lies.
Die Anziehungskraft, die das Land im Nahen Osten ausübt, ist groß. Grund sind die Sanktionen, die der Westen gegen Iran wegen seiner Atompolitik verhängt hatte. Die haben das Land jahrelang in seiner Entwicklung gehemmt. Jetzt, nach Abschluss des Atomabkommens mit dem Westen, sollen die Einschränkungen im ersten Quartal des Jahrs 2016 aufgehoben werden.
Der Traum von westlichen Produkten
Seit dieser Ankündigung geben sich die westlichen Wirtschaftsvertreter in Iran die Türklinken in die Hand. Nicht ohne Grund: Vor allem die Automobilindustrie wittert große Geschäfte in dem Land, das mit 78 Millionen Einwohner fast so groß ist wie die Bundesrepublik, aber im Durchschnitt deutlich jünger. Ein Land, in dem die Menschen über einen für diese Region vergleichsweise hohen Bildungsstand verfügen. Und ein Land, deren Einwohner von westlichen Produkten träumen. So gibt es zwar eine bedeutsame nationale Automobilindustrie, aber der Wunsch nach einem Gefährt aus dem Westen ist besonders hoch, wie Umfragen zeigen.
Kein Wunder, dass die Pkw-Industrie ihre Fühler ausstreckt. Aber auch die Nutzfahrzeugbranche macht sich Hoffnungen: So gehörte zur üppigen Lies-Delegation auch ein Vertreter der Fahrzeugwerke Bernard Krone. Der Auflieger-Hersteller will über sein türkisches Werk in Tire den Iran beliefern und sieht einen hohen Bedarf an Transportlösungen. Es ergibt sich hier also ein großes Betätigungsfeld auch für Transport- und Logistikdienstleister. Iran wird 2016 ein spannender Markt sein – für Westeuropa auch deshalb, weil es in anderen Emerging Markets wie China und Brasilien gerade ziemlich knirscht.
Wobei nicht verschwiegen werden soll, dass es auch Risiken gibt: die geographische Nähe zu den Hochburgen des sogenannten Islamischen Staats (IS), Syrien und Irak, die Unsicherheit über die politischen Absichten der iranischen Machthaber, die restriktiven Marktabschottungsinstrumente, die den Handel erschweren. Aber am Beispiel des Nachbarn Türkei, der einiges gemeinsam hat mit Iran, lässt sich zeigen, welches Potential in dem Land steckt: Anfang der 2000er Jahre boomte die Wirtschaft in der Türkei mit deutlich über sechs Prozent Wachstum pro Jahr. Ab 2012 jedoch, als das Land mit innenpolitischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, betrug der jährliche Zuwachs nur noch durchschnittlich drei Prozent. Es könnte sich also im Iran einer der letzten verschlossenen Märkte in der Nähe Europas öffnen. Ob dieses Experiment glückt oder nicht: So oder so wird Iran 2016 stärker in den Fokus der (Transport- und Logistik-) Wirtschaft rücken.
Michael Cordes, VerkehrsRundschau-Redakteur
Michael Cordes ist für die Ressorts Transport+Logistik, Ausbildung+Karriere, Fuhrpark+IT und Lager+Umschlag zuständig. Der Diplom-Volkswirt (geboren 1965 in Essen/Oldenburg) arbeitet seit 1996 als Redakteur bei der VerkehrsRundschau.
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