In den „Thesen 2016“ befassen sich die Redakteure der VerkehrsRundschau mit den wichtigsten Themen des neuen Jahres. Welche Trends und Entwicklungen bestimmen die tägliche Arbeit von Logistikern? Zugespitzt und kontrovers soll die Thesen-Serie in den ersten Tagen des Jahres 2016 zur Diskussion anregen – nutzen Sie dazu gerne auch die angegebene E-Mail-Adresse oder das Kommentarfeld. Wir freuen uns auf Ihre Meinungen!
Europa – dieses Wort stand einst für den Gedanken von Freiheit und offenen Grenzen. Doch seit einigen Monaten ist von diesem Gefühl der Freiheit kaum noch etwas übrig geblieben. Der anhaltende Zustrom von Flüchtlingen war im September 2015 der Auslöser dafür, dass mehrere Ländern, darunter Deutschland, ihre Grenzkontrollen vorübergehend wieder einführten. Dann kam der Terror von Paris. Das einst gemeinschaftlich agierende Europa präsentierte sich in den letzten Monaten des vergangenen Jahren so uneins wie nie zuvor. Wie kann die Herausforderung der Zuwanderung gemeistert werden? Wie groß ist die Terrorgefahr durch radikale Islamisten tatsächlich? Und hat vor dem Hintergrund von der großen Anzahl an wieder eingeführten Kontrollen der freie Warenverkehr überhaupt noch eine Zukunft? Die Anzahl der Fragen ist groß, Antworten kann darauf noch niemand geben.
Die Vision eines Europas ohne Schranken, das mit dem Schengener Abkommen zur Wirklichkeit wurde, hat mehr denn je an Glanz verloren und steht auf dem Prüfstand. Den Preis dafür zahlt künftig jeder Spediteur, der im grenzüberschreitenden Verkehr in Europa tätig ist. Egal, ob bei Fahrten nach Österreich oder am Fährhafen von Calais: Grenzkontrollen sind für Transporteure mehr als nur eine lästige Formalie – sie kosten unkalkulierbar viel Zeit. An vielen Grenzen beträgt die Wartezeit für eine Lkw-Fahrer mehrere Stunden, die Staus beginnen häufig schon viele Kilometer vor dem Übergang. Dass die Fahrer damit ihre Lenk- und Ruhezeiten nicht mehr einhalten können, ist nur eins der gravierenden Probleme, das diese Entwicklung mit sich bringt. Noch schwerer wiegt die Tatsache, dass die Dauer von einzelnen Transporten generell unplanbar wird. Lieferketten erfahren drastische Störungen, Laufzeiten können nicht mehr eingehalten werden. Sind aus diesem Grund auf bestimmten Destinationen zusätzliche Lkw und Fahrer erforderlich, können diese nicht für andere Aufträge eingesetzt werden. Laderaum wird knapp. Knapper Laderaum wird teuer. Der Preis der verlorenen Freiheit.
Die Luft für Spediteure wird dünn
Wie lange dieser Zustand noch andauern wird, ist völlig offen. Fest steht jedoch: Die Luft für Spediteure in diesem Bereich wird 2016 so dünn wie nie. Noch erfordert die aktuelle Lage vor allem flexible Planungen und ein großes Maß an Organisationstalent. Eine Dauerlösung ist dies jedoch nicht. Aus diesem Grund bleibt den Spediteuren im europäischen Landverkehr ein einziger Weg: Die gestiegenen Kosten an ihre Kunden weiterzugeben. Und damit Gefahr zu laufen, Kunden an andere Verkehrsträger zu verlieren.
Am Ende bleibt nur eine Möglichkeit, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden: Europa muss wieder Europa werden. Jedes Land der europäischen Union muss sich an seine Rechte, aber auch an seine Pflichten erinnern und in der Flüchtlingskrise seinen Beitrag dazu leisten, damit der große Strom an Zuwanderung auf vielen Schultern gemeinsam getragen werden kann. Nur dann hat Schengen die Chance, auch in den kommenden Jahren Bestand zu haben und gelebte wirtschaftliche Realität zu sein. Eine Vision, die in diesem Jahr nicht nur allen Spediteuren, sondern jedem Bürger in Europa von Herzen zu wünschen ist.
Stefanie Nonnenmann, Redakteurin VerkehrsRundschau
Stefanie Nonnenmann betreut das Ressort Politik + Wirtschaft und die Nachrichtenredaktion. Die Diplom-Journalistin (geboren 1976 in Castrop-Rauxel) arbeitet seit 2006 als Redakteurin für die VerkehrsRundschau.
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