Mehr Druck, mehr Grip

Es regnet an diesem Tag zwar keine Hunde und Katzen, auf der Fahrbahn vor uns steht trotzdem das Wasser. Für das Nass sorgt in Vertretung von Petrus eine technische Anlage, und zwar auf vollen Touren. Sie bewässert den Test-Rundkurs von Reifenhersteller Michelin im französischen Ladoux. Das scheint dem roten Scania R 490 aber zunächst nichts auszumachen, er hält tapfer Tempo und Spur. Als er die Hälfte durchfahren hat, bricht der Kontakt zur Straße mit einem Mal ab. Beide Vorderräder geraten ins Driften. Der Fahrer reagiert gekonnt und holt den roten Boliden sofort durch Gegenlenkbewegungen zurück auf Kurs. Anders verhält sich der Verfolger, ein R 490 in Blau - bei ihm behalten die Reifen trotz des beachtlichen Tempos den Straßenkontakt, die 22,5-Zöller halten den Lkw sicher auf der nassen Fahrbahn, und das bei beachtlichen Fliehkräften. Profiltiefe ist nicht alles Die identischen Scanias sind mit abgenutzten Reifen derselben Laufleistung bestückt, der blaue allerdings mit den neu entwickelten Michelin X Multi D, während der rote auf Produkten eines Konkurrenten rollt. Die Demonstration soll verdeutlichen, was die Spreu vom Weizen trennt. Die beiden Lkw sind auf Pneus mit fünf Millimetern Profiltiefe unterwegs. Damit soll gezeigt werden, wie das Nassbremsverhalten tatsächlich und vor allem bei Kurvenfahrten aussieht. Nicht die Profilhöhe, sondern die Haftleistung ist für die Sicherheit verantwortlich, so die Philosophie von Michelin. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass bessere Produkte nachhaltiger sind und vorzeitiger Reifenwechsel nicht zu mehr Sicherheit, sondern lediglich zu höheren Kosten, mehr Müll und mehr CO2-Ausstoß führt. In den Nachfolger des Michelin X Multiway XD steckten die Entwickler eine ganze Reihe neuer Technologien, die in Kombination sowohl die Laufleistung als auch die Performance heraufsetzen sollen. Die "Long Live Performance" - so nennt der Hersteller seine Leistungstechnologien - beinhaltet eine mechanische Verbesserung der Karkasse, aber auch neue Ideen für Profil und Reifenmischung. Die Karkasse ermöglicht mit hochfesten Drahtseilen und endlos gewickeltem Stahlseil im Gürtel Gewichtsvorteile und soll über weniger Rollwiderstand den Spritverbrauch reduzieren. Diese Eigenschaft wird durch die neuen Gummimischungen "Silicion" und "Carbion" chemisch unterstützt. Eine große Rolle dabei spielen Silica (Kieselsäure-Mischung) sowie flüssiger Ruß, der die Lauffläche bedeutend homogener wie abriebfester machen soll. Reifenbauformen einfach drucken Ihren Ideen für das Profil konnten die Techniker des französischen Reifenherstellers allerdings nur mit neuen Bauformen umsetzen. So komplex ist die sogenannte Regenion-Lamellentechnologie mit laut Beschreibung selbstgenerierenden Profilblöcken und zusammengeschalteten Wassertropfen-, Delta- und Stablamellen, dass man 3-D-Metalldruck nutzt, um die auf dem Bildschirm berechneten feinsten Rillen und Lamellenmuster umsetzen zu können. Die speziellen Lamellen- und Querrillenmuster verändern sich bei Abnutzung in ihrer Länge und Breite und dieses Zusammenspiel soll dafür sorgen, dass die maximale Traktion sowie optimale Brems- und Hafteigenschaften bis zur Mindestprofiltiefe gewährleistet bleiben. Auch für die neuen Winterreifen-Kochformen nutzte man die neue Fertigungstechnologie. Dank ihrer war es möglich, in den Negativprofilen präzise die vorgegebenen Winkel und Abstände der Lamellengegenstücke einzuhalten. 500 Mikrometer-Schichten werden beim 3-D-Metalldruck per Laser verflüssigt und aufeinandergesetzt - ein formloses Fertigungsverfahren, das vor vier Jahren für den Michelin X Line Energy und den X Incity eingesetzt wurde. Trotz hoher Prozesskosten - das Verfahren funktioniert nur unter Schutzgas - hat die Vorgehensweise Einsparpotenzial: kein Materialverschnitt, einfache Reproduzierbarkeit dank digitaler Datengrundlage sowie optimale Modifikations- und Entwicklungsmöglichkeiten. "Auch die Formenentwicklung ist so wesentlich zeitsparender", erklärt José Cocovi, Leiter des Bereichs Kochformen im Michelin-Hauptsitz Ladoux bei Clermont-Ferrand. "Wir haben derzeit rund dreißig 3-D-Druckmaschinen im Einsatz und benötigen zur Entwicklung einer neuen Form statt drei nur noch eine Woche." Start-up hilft bei der Entwicklung Hochkomplexe Profilaufbauten wie die am neuen Michelin X Multiway XD führten Ende September 2015 zur Gründung von AddUp, einem Joint Venture zwischen Michelin und dem Anlagenbauer Fives. 25 Millionen Euro hat jeder der beiden Partner investiert. Mit dem 3-D-Spezialunternehmen, das mittlerweile zu den führenden Betrieben dieser Branche gehört, will sich Michelin ein innovatives Standbein in einem attraktiven Industriebereich sichern - damit rote und blaue Lkw auch künftig nicht auf nassen Fahrbahnen ins Schleudern kommen. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier Reifen www.verkehrsrundschau.de/dossiers Reifen-Museum L' Aventure - die Geschichte von Michelin Ein wirklich skurriles Ausstellungsstück im Michelin-Museum ist der 1972 gebaute Michelin PLR. Er hatte den Spitznamen Mille Pattes (Tausendfüßler) und entstand auf Citroen-DS-Basis. Damals war Michelin Anteilseigner des Pkw-Herstellers. Angetrieben durch zwei 7,4-Liter-V8 aus der Chevrolet-Corvette, wiegt der auf dem Testgelände in Ladoux eingesetzte und bis zu 180 km/h schnelle Testwagen dank Bleiplatten 9,5 Tonnen. Beide Vorderachsen sind lenkbar, die hinteren drei Achsen sind hydropneumatisch aufgehängt - so wurden auch Lkw- und Busreifen getestet.Das Museum liegt mitten in Clermont-Ferrand, direkt neben dem Fußballstadion. Dort können an der Marke Interessierte sehen, wie sich Michelin und sein Maskottchen Bib entwickelt haben. Neben den Reifen wird hier lebendige französische Straßengeschichte sichtbar, etwa die typischen, leider inzwischen meist verschwundenen Straßenschilder, die Marcel Michelin gestiftet hat - ebenso die Entwicklung des weltbekannten "Guide Michelin", dessen Sterne noch heute für Gourmets ausschlaggebend sind. gvm

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