Kräftemessen

Eine 4x2-Sattelzugmaschine für den Fernverkehr mit mindestens 500 PS und einer Hochdachkabine mit ordentlichen Platzverhältnissen. So lautet - vereinfacht dargestellt - die Ausschreibung für den Euro Truck Test 2019. Die ging natürlich an alle sieben großen europäischen Hersteller; warum sich am Ende mit Mercedes-Benz, Scania und Volvo Trucks nur drei Produzenten dem "Showdown" stellen, vermögen wir nicht zu beurteilen. Vielleicht fehlt dem Rest das Vertrauen ins eigene Produkt? Im Vorfeld des Tests legte man in Wörth am Rhein, Södertälje und Göteborg nochmals mehr oder weniger intensiv nach. Am radikalsten fällt das jüngste Update des Actros aus. Dessen digitales Bedienkonzept und die konventionelle Außenspiegel ablösenden Kamerasysteme sind innovative Ansagen an die Konkurrenz. Neben der laut Daimler verbesserten Sicht nach hinten sollen die "Mirror Cams" auch den Windwiderstand des Daimlers nach unten korrigieren. Zusammen mit den leichten aerodynamischen Maßnahmen an der Front der StreamSpace-Kabine und der neuen 2,41er-Hinterachse des Testfahrzeugs soll das für Verbrauchsvorteile von bis zu drei Prozent zum Vorgängermodell sorgen. Letztere soll beim Euro Truck Test (ETT) die 510 PS starke Version des 12,8 Liter großen OM-471-Reihensechszylinders beweisen. Neu bei Scania: 540-PS-Sechszylinder Erst seit wenigen Wochen bestellbar ist die neue Topmotorisierung des DC13-Reihensechszylinders bei Scania. 540 PS und 2700 Newtonmetern (Nm) Drehmoment presst diese auf den Asphalt, wodurch Scanias Sechser zumindest der schwächsten Leistungseinstellung des V8 mit 520 PS und ebenfalls 2700 Nm in die Parade fährt. Warum die Schweden den 540er-Motor in den Test schicken? Er soll durch nochmalige Verbesserungen bei der inneren Reibung um zwei Prozent zurückhaltender beim Kraftstoffkonsum sein als die schwächeren Vertreter des DC13. Technisch aufwendig fällt das "I-Save"-Update von Volvo Trucks aus, mit dem die Göteborger der 500 PS starken Version ihres FH um bis zu sieben Prozent niedrigere Trinksitten beigebracht haben wollen. Die "Waffen" dafür - neben dem verbesserten, jetzt kartenbasiert arbeitenden GPS-Tempomaten und einer neuen Hinterachskonstruktion mit geringerer Ölfüllung für weniger Planschverluste: Drehzahl und steigungsbedingte Rückschaltungen runter! Dafür sorgt die Turbo-Compound-Turbine, die dem FH mit I-Save-Paket (5000 Euro) zusätzlich Beine macht. Sie ist dem Turbo nachgeschaltet und nutzt die Energie des immer noch heißen Abgases. Die Wärme wird in mechanische Energie umgewandelt und direkt per Getriebe auf die Kurbelwelle übertragen. Lohn der Mühe ist ein nicht weniger als um 300 Nm höheres Drehmoment - bezogen auf den Normal-FH mit 500 PS. 2800 Nm kommen so an den Hinterrädern an, und zwar bereits ab 900 Touren. Da können Scania und erst recht Daimler nicht mithalten, ihr maximales Drehmoment von 2700 beziehungsweise 2500 Nm steht "erst" ab 1000 respektive 1100 Touren zur Verfügung. Papierwerte, die sich auf der Straße bestätigen. Trotz der längsten Gesamtübersetzung, mit der bei Marschtempo 85 lediglich 1050 Umdrehungen anliegen, überwindet keiner der drei die anspruchsvollen Berge der Testrunde souveräner als der Volvo, was lediglich drei (!) steigungsbedingte Schaltungen auf den gesamten 342 Kilometern der Testrunde widerspiegeln. Mit 900/min und 40 Tonnen bergauf Für den Fahrer ist es zunächst zwar ungewohnt, dass sich die Steuerungselektronik des wie immer ohne Tadel arbeitenden I-Shift-Getriebes vom Gewicht unseres 32 Tonnen schweren Fliegl-Testaufliegers völlig unbeeindruckt zeigt und viele Steigungen ohne Rückschaltung mit nur 900 Touren überwindet. Erst wenn es bergseitig richtig zur Sache geht, wird eine Rückschaltung eingeläutet, zu keinem Zeitpunkt liegen aber mehr als 1200/min an. Subjektiv erlangt man so das Gefühl, sehr langsam unterwegs zu sein. Bezogen auf die beiden Konkurrenten lässt der Volvo an den drei Bergwertungen der Testrunde aber keine Zeit liegen. Der Scania setzt an Steigungen ebenfalls auf Gang halten (acht steigungsbedingte Schaltungen). Ähnlich wie beim Volvo muss man aber aktiv darauf achten, den Gangwechsel mitzubekommen - das Thema Geräuschdämmung nehmen die schwedischen Entwickler beider Hersteller sehr ernst. Zudem präsentiert sich das Opticruise-Getriebe in Sachen Schaltgeschwindigkeit und Strategie auf Zack und rückt damit sehr weit an das I-Shift von Volvo Trucks heran. Der Actros gibt sich dagegen auch in seiner neuesten Auflage als eher rauer Geselle. Die lange kritisierte, verbesserungswürdige Geräuschdämmung des Vorgängers ging Daimler beim neuen Modell leider nicht an, weshalb der Fahrer mehr vom Wirken des OM 471 mitbekommt, als er möchte. Auch beim Wertungspunkt Schaltkomfort kann der Mercedes-Benz nicht mit den Konkurrenten mithalten. Zwar wechselt das Daimler-eigene Powershift-Getriebe die Fahrstufen ebenfalls schnell, geht dabei aber nicht so geschmeidig vor wie seine Pendants aus Schweden. Dabei hat Powershift auf der Testrunde deutlich mehr zu tun. Insgesamt 16 steigungsbedingte Schaltungen auf der Testrunde zeugen davon, dass Mercedes-Benz trotz der kürzesten Hinterachsübersetzung (1100/min bei 85 km/h) eine andere Strategie verfolgt. Wohl auch, weil der Daimler-Antrieb sein maximales Drehmoment erst bei 1100 Touren freisetzt, agiert die Steuerungselektronik des Actros vorsichtiger und setzt an Bergen früher auf eine Drehzahlerhöhung. Nach wie vor top ist die Programmierung des vorausschauenden Tempomaten PPC. Kein anderes GPS-System spielt wirkungsvoller mit den topografischen Gegebenheiten der Teststrecke. Manches Manöver der Elektronik mutet im ersten Moment gewagt an, trotzdem liegt der Kollege Computer immer richtig. Verändert hat Mercedes zuletzt die Ecoroll-Strategie, der Actros geht nun nicht mehr wie früher bei nahezu jeder Rollphase in den Neutralmodus, sondern nutzt vermehrt die Schubabschaltung. Und nur das Daimler-System verfügt über eine innovative Landstraßen-Funktion, die neben Tempolimits oder Ortseingängen sogar scharfe Kurven berücksichtigt. Bergab stemmt sich beim Daimler-Testfahrzeug die Power-Motorbremse dem Gefälle entgegen. Mit der Regelgenauigkeit nimmt sie es zwar nicht immer genau und bremst die Fuhre mitunter erst bei 92 km/h ein, die 410 Kilowatt Leistung genügen aber in fast jedem Gefälle, die 40 Tonnen gesetzestreu im Zaum zu halten - auch weil PPC in Form von vorausschauend frühen Rückschaltungen vor dem eigentlichen Gefälle aktiv unterstützt. Bei Scania ist der Retarder gesetzt Für den Fahrer ist trotzdem der Retarder, der bei Volvo und Scania bergab verzögert, die komfortablere Wahl. Den könnte natürlich auch Daimler in Form seiner Wasser-Dauerbremse liefern, was aber ein paar Kilogramm mehr Gewicht zur Folge hätte. Eine Abwägung, die auch Volvo-Käufer in Betracht ziehen könnten, wogegen der Retarder bei Scania angesichts der 242 kW schwachen Motorbremse immer gesetzt sein sollte! In diesem Zusammenhang noch eine Frage nach Södertälje: Worin liegt eigentlich der Vorteil von dauerhaft eingeschalteten Bremslichtern beim Retarder-Einsatz? Bei Dunkelheit sind die für den Hintermann kein Vergnügen. Dagegen beim Actros nach wie vor verbesserungswürdig: das Hineinrollen in Steigungen im Ecoroll-Modus. Erst wenn die Tachonadel exakt wieder auf das eingestellte Tempomat-Tempo gefallen ist, reagiert die Elektronik. Bis der Kraftschluss dann wieder voll gegeben ist, hat man einige km/h verloren, die es mühsam in der Steigung aufzuholen gilt. Hand ans GPS-System legte auch Volvo. I-See wurde auf längere Rollphasen getrimmt, nutzt aber gleichzeitig die Schubabschaltung konsequenter. Gut gefällt uns das Angasen vor Steigungen bis zum Begrenzer, was viele Rückschaltungen erspart. Diese Strategie verfolgt auch Scania, allerdings um höchstens plus drei km/h. Vielen Fahrern nicht gefallen wird dagegen die neue Eigenart des Volvo, nach Steigungen längere Zeit an der unteren Hysterese-Grenze dahinzurollen, wenn das System weiß, dass gleich wieder ein Berg zum verbrauchsfreien Beschleunigen folgt. Nicht wenige werden diese Strategie per beherztem Tritt aufs Gas beenden. Wo wir gerade bei Fahrereingriffen sind: Besonders Mercedes-Lenker werden sich daran gewöhnen müssen. Mit jedem Motorneustart aktiviert sich beispielsweise der Economy+-Modus neu. In diesem ist das Höchsttempo allerdings auf 82 km/h limitiert. Wer schneller fahren will, muss jedes Mal am rechten Lenkstockhebel ein anderes Fahrlevel auswählen. Aber Vorsicht, auch hier merkt sich das System im Vorfeld programmierte Tempi nicht, sondern hat stets zunächst gesetzeskonforme 80 km/h hinterlegt. Digitales Statement von Daimler Und warum, liebe Daimler-Entwickler, muss der Fahrer eigentlich nach jeder Tagesruhepause die Schwungspitzen und die untere Hysterese des GPS-Tempomaten neu setzen, wenn er von den Standardeinstellungen abweichen will? Was zudem über die fummeligen, mit feuchten Fingern aber gar nicht bedienbaren Soft-Touch-Lenkradtasten zu tun ist. Verbindliche Drucktasten wie beim Vorgänger wären klar die bessere Wahl! Davon abgesehen ist der neue Actros ein digitales Statement. Analoge Anzeigen und Bedienelemente wichen zwei Bildschirmen. Zentral hinter dem Lenkrad präsentieren sich gestochen scharf und perfekt ablesbar alle wichtigen Fahrfunktionen wie Drehzahlmesser und Tempoanzeige. Über den Bildschirm rechts werden alle Funktionen gesteuert, wobei Schnellwahltasten helfen, das Gewünschte zu finden. Fühlt man sich vom neuen Bedienkonzept zunächst erschlagen, verinnerlicht man schon nach wenigen Minuten die Logik des Systems und findet sich überraschend schnell zurecht. Trotzdem sei die Frage erlaubt, was besser daran sein soll, wenn man zunächst die Funktion Heizung auswählen muss, um dann im Untermenü die Temperatur zu verändern? Sicher ist es aber nur eine Frage der Zeit, bis andere Hersteller in Sachen Digitalisierung nachziehen werden und diese neue Art der Bedienung zum Selbstverständnis wird. Bis dato fühlen wir uns mit dem klassischen Bedienkonzept des Volvo und vor allem im ergonomisch perfekten Scania aber noch wohler. Beim Thema Spiegel sieht die Sache anders aus. Man gewöhnt sich sehr gerne an die Vorzüge der Mirror Cams im Actros, Stichwort Aufliegerverfolgung, Hilfslinien beim Überholen und Rangieren, der unversperrte Blick aus dem Seitenfenster oder die geringere Breite auf engen Landstraßen. Alles andere ist reine Gewöhnung, wie beispielsweise, dass sich der Blickwinkel beim Rückwärtsfahren von konventionellen Spiegeln unterscheidet, was bei ersten Rangiermanövern etwas irritiert. Zu verbessern bliebe das nicht gänzlich scharf auf den Monitoren wiedergegebene Bild der Kameras und dass die Tagfahrleuchten von hinten nahender Pkw flackernd dargestellt werden. Trotzdem: Die Vorteile des Systems überwiegen - deshalb gerne nachmachen, liebe Wettbewerber! Scania und Daimler mit Topverbrauch Ob die beim Actros nicht im Wind stehenden Spiegelgehäuse tatsächlich einen Verbrauchsvorteil bringen, ist schwer zu beurteilen. Fest steht aber, dass der Actros durch seine zahlreicheren Schaltvorgänge keinen Nachteil einfährt. 26,34 l/100 km sind auf der Testrunde ein Topwert, den allerdings der Scania sogar noch mit 0,23 l/100 km unterbietet. Nicht überbewerten darf man den Testverbrauch des Volvo, der von seinem Ziel minus sieben Prozent weit entfernt bleibt. Das Testfahrzeug hatte lediglich 12.000 Kilometer auf dem Tacho, die Einfahrphase also längst noch nicht abgeschlossen. Zudem war die Zugmaschine üppig ausgestattet. 7,61 Tonnen bringt sie auf die unbestechliche Waage, eine Menge Holz für einen Volvo, wo man das Thema Leichtbau erwiesener Maßen beherrscht. Allein 180 Kilogramm werden für die luftgefederte Vorderachse fällig - verglichen zur Einblatt-Parabel. Sie bringt dafür den Vorteil, dass sich der FH ab Tempo 60 um drei Zentimeter absenkt und aerodynamischer an den Asphalt schmiegt. Wir haben übrigens mal nachkonfiguriert: Mit einem vergleichbaren, gewichtsmäßig abgespeckten FH mit normaler Globetrotter-Kabine wäre Volvo locker unter der Sieben-Tonnen-Marke geblieben. Das schaffen Mercedes und Scania nicht, obwohl man besonders in Södertälje den nicht gerade als Fliegengewicht bekannten Scania auf 7,37 Tonnen abspeckte. Der R 540 rollte sogar ohne Dachluke zum ETT - spart immerhin 15 Kilogramm. Mehr (50 kg) bringt die seit Kurzem auch bei Scania lieferbare Einblatt-Parabel für die Vorderachse. Um am 7288 Kilogramm leichten Actros vorbeizuziehen, reicht es trotzdem nicht. Außerdem erweist sich die abgespeckte Federung des Schweden als eher holperig, weshalb der R 540 nicht das gewohnt gute Fahrverhalten eines Scania an den Tag legt. Verbessert hat sich das Fahrverhalten des Actros. Die optimierte Gummilagerung der Kabine ist spürbar weicher, zudem kümmert sich ein zusätzlicher Dämpfer um die Schwingungen in Längsrichtung. Fahrers Liebling ist trotzdem der Volvo, der die Fahrerwertung für sich entscheidet. Mit Vollluftfederung rollt der FH wie auf Schienen, zudem sammelt die elektromechanische Lenkung "Dynamic Steering" (Option) Pluspunkte. Und dann ist da noch dieser "drehzahlgeizige" Antriebsstrang. Nur knapp hinter dem Volvo landet der Scania in der Fahrerwertung. Wie der Actros punktet er zusätzlich beim Verbrauch und ist auf der Testrunde sogar noch etwas schneller als der Mercedes-Benz. Das Kapitel Wirtschaftlichkeit erfüllen der Actros 1851 und vor allem der R 540 damit am besten. Alle Tests- und Fahrberichte für Abonnenten www.verkehrsrundschau-plus.de In Kürze Drei Sattelzugmaschinen treten im direkten Vergleich gegeneinander an. Es geht um Verbrauch und Transportgeschwindigkeit, aber auch um Komfort und Fahrverhalten. Wo die Stärken und Schwächen von MB Actros, Scania R und Volvo FH liegen, klärt der Euro Truck Test. Test mit Referenz-Lkw Der redaktionseigene Mercedes-Benz Actros 1845 mit Curtainsider von Schmitz Cargobull sorgt für vergleichbare Testergebnisse. Dafür wurde die VR-Testrunde unter guten Wetterbedingungen abgefahren. Liegen die Verbrauchswerte des Referenz-Lkw am Testtag über oder unter diesem Wert, ist klar, dass das Testfahrzeug schlechtere oder bessere Bedingungen hatte, was sich entsprechend zurückrechnen lässt.

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