Früher Feierabend

Vor der Bundestagswahl 2013 versprach die Union die Mütterrente, die SPD die Rente mit 63. Das Ergebnis ist das am 1. Juli 2014 in Kraft getretene Rentenpaket, das aus vier Elementen besteht: Neben der Mütterrente und der Rente mit 63 zählen dazu die Erwerbsminderungsrente sowie die Erhöhung des Reha-Budgets. Bis zum Jahr 2020 soll das Ganze rund 60 Milliarden Euro kosten. Die Mehrkosten sollen dabei bis einschließlich 2018 die Rentenkassen tragen, danach sind Zuschüsse aus Steuermitteln geplant. Besonders die Rente mit 63 hat zu vielen Kontroversen geführt. Wir erklären, was es damit auf sich hat und was Arbeitgeber erwartet (siehe Kasten auf Seite 35). Wer kann mit 63 Jahren in Rente gehen? Nach dem bisherigen Recht konnten besonders langjährig Versicherte mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen, wenn sie 45 Jahre lang in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hatten. Nun ist das Zugangsalter vorübergehend auf 63 Jahre abgesenkt worden. Das bedeutet: Jeder Beitragszahler, der vor dem 1. Januar 1953 geboren ist, 45 Jahre pflichtversichert war und noch keine Rente bekommt, erhält die Bezüge abschlagsfrei ab 63. Für Jahrgänge ab 1953 wird die Altersgrenze stufenweise wieder bis auf 65 Jahre angehoben - und zwar ab 2016 in Schritten von jeweils zwei Monaten pro Jahrgang (siehe Kasten auf Seite 36). Für Beitragszahler mit Geburtsjahren ab 1964 liegt das Renteneintrittsalter für die vorgezogene, abschlagsfreie Rente wieder bei 65 Jahren. "Damit haben nur die Jahrgänge bis 1963 die Möglichkeit, seit dem 1. Juli 2014 abschlagsfrei früher Rente zu beziehen", erklärt Achim Backendorf, Abteilungsleiter Sozialpolitik beim Sozialverband VdK. "Voll von der Rente mit 63 profitieren daher nur die zwischen dem 1. Juli 1951 und 31. Dezember 1952 Geborenen", so der Rentenexperte. Was zählt alles zu den 45 erforderlichen Beitragsjahren? Dazu zählen laut Deutscher Rentenversicherung alle Zeiten, in denen während einer Berufstätigkeit Pflichtbeiträge gezahlt worden sind. Angerechnet werden unter anderem auch Zeiten des Wehr- oder Zivildienstes, der Pflege von Angehörigen, der Kindererziehung bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes, des Bezugs von Arbeitslosengeld I oder Teilarbeitslosengeld sowie des Krankengeldbezugs. Darunter fallen zudem Zeiten, in denen man Leistungen bei beruflicher Weiterbildung bezogen hat oder Kurzarbeiter-, Schlechtwetter-, Winterausfall- sowie Insolvenzgeld bekommen hat. Schul-, Fachschul- und Studienzeiten werden dagegen nicht berücksichtigt. Zählen Zeiten der Arbeitslosigkeit in jedem Fall mit? Bei einem Jobverlust sollten Beschäftigte genauer hinsehen: "Arbeitslosigkeit wird angerechnet, wenn Arbeitslosengeld gezahlt worden ist", erklärt Andreas Feuser von der Deutschen Rentenversicherung. Zeiten, in denen Arbeitslosenhilfe oder Arbeitslosengeld II bezogen wurde, zählten hingegen nicht mit. Langzeitarbeitslose profitieren somit nicht von der Neuregelung. Problematisch ist auch eine Arbeitslosigkeit kurz vor dem Ruhestand. Denn: "Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn werden nur berücksichtigt, wenn diese aufgrund einer Insolvenz oder Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers entstanden sind", so Feuser. Der Gesetzgeber möchte Missbrauch verhindern und führt dazu einen sogenannten rollierenden Stichtag ein. Doch es gibt einen Ausweg. Um die erforderlichen Beitragsjahre dennoch voll zu bekommen, können gekündigte Mitarbeiter einen beitragspflichtigen Minijob annehmen. Das ist nicht illegal. Welche Mitarbeiter in der Transportund Logistikbranche profitieren von der Rente mit 63? Die Rente kommt vor allem denjenigen zugute, die viele Jahre gearbeitet haben. Um 45 Beitragsjahre voll zu bekommen, muss ein Mitarbeiter spätestens mit 18 Jahren, etwa als Auszubildender, in das Berufsleben eingestiegen sein und mehr oder weniger ununterbrochen gearbeitet haben. Weil Schul-, Fachschul- und Studienzeiten nicht mitzählen, kommen im Prinzip nur die klassischen Ausbildungsberufe wie Berufskraftfahrer, Lageristen, Speditions- oder Bürokaufleute oder Mitarbeiter ohne Ausbildung in Betracht. Müssen Arbeitnehmer die Rente mit 63 beantragen? "Ja, Leistungen aus der Rentenversicherung werden nur auf Antrag gewährt", sagt Anke Voss, stellvertretende Präsidentin des Bundesverbands der Rentenberater. "Wer 63 Jahre alt ist und 45 Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hat, kann die abschlagsfreie Rente mit 63 jederzeit beantragen." Allerdings gilt die Regelung nicht rückwirkend. "Wer bereits eine Rente bezieht, kommt nicht in den Genuss", so Voss. Beschäftigte, die noch keinen bindenden Rentenbescheid in Händen halten, können ihren Antrag allerdings zurücknehmen. Voss: "Das ist aber nur innerhalb der Rechtsbehelfsfrist von einem Monat möglich und sollte sehr gut überlegt sein." Muss der Mitarbeiter kündigen? Das kommt darauf an. Das Arbeitsverhältnis endet nicht automatisch mit Erreichen des Rentenalters, sondern nur, wenn das in einem anwendbaren Tarifvertrag, in einer Betriebsvereinbarung oder im Arbeitsvertrag ausdrücklich so geregelt ist. Ansonsten ist eine Kündigung erforderlich. Kann ein Mitarbeiter auch weiterarbeiten, wenn er will? Ja. Die Rente mit 63 ist freiwillig. Arbeitnehmer, die die Voraussetzungen erfüllen, sind nicht verpflichtet, die Rente auch in Anspruch zu nehmen. Sie können vorbehaltlich tarifvertraglicher oder anderer arbeitsrechtlicher Regelungen bis zum Erreichen der Regelaltersrente oder darüber hinaus weiterarbeiten. Was gilt für Selbstständige? "Wer mindestens 18 Jahre lang Pflichtbeiträge in die Rentenkasse abgeführt hat und danach freiwillig rentenversichert war, erhält die freiwilligen Beitragszeiten ebenfalls angerechnet", sagt Feuser von der Deutschen Rentenversicherung. Der Gesetzgeber hat damit vor allem Handwerker im Blick gehabt, die per se jedenfalls 18 Jahre lang pflichtversichert sind. Für viele Selbstständige ist das laut Feuser allerdings nicht der Fall. Daher dürften die wenigsten Unternehmer in der Branche selbst von der Rente mit 63 profitieren. Gibt es für bestimmte Berufsgruppen Einschränkungen? "Nein, es gibt keine bestimmten Berufsgruppen, die von der Rente mit 63 ausgeschlossen sind", erklärt Feuser. "Allerdings kommen manche nicht auf die 45 erforderlichen Versicherungsjahre." Für Akademiker ist das nicht verwunderlich, weil Studienzeiten nicht mitzählen. Anders sieht es bei vielen Ausbildungsberufen aus, bei denen die Lehrlinge eine Ausbildungsvergütung erhalten und damit auch in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Allerdings gibt es auch Ausbildungen, für die keine berufliche, sondern eine Fachschulausbildung erforderlich ist. "Sie teilen insofern das Schicksal der Hochschulabsolventen, da Schul-, Fachschul- und Studienzeiten nicht angerechnet werden", so der Experte der Deutschen Rentenversicherung. Da für die meisten Lehrberufe in der Transport- und Logistikbranche aber klassische berufliche Ausbildungen erforderlich sind, dürften diese davon kaum betroffen sein. Was sagen die Kritiker zur Rente mit 63? "Männer profitieren stärker von der Rente mit 63 als Frauen" erklärt Backendorf vom Sozialverband VdK. "Weil sie ihre Erwerbsbiografie öfter für die Kindererziehung unterbrechen, erreichen weit weniger Frauen als Männer die 45 Beitragsjahre." Kritiker stören sich weiterhin daran, dass die Älteren einseitig zulasten der Jüngeren profitieren. Manche sprechen daher sogar von einem "Verrat an der jüngeren Generation". Ungerecht auch: Selbstständige, die nicht mindestens 18 Jahre in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert waren und anschließend freiwillig weiterzahlten, haben keine Chance auf die Rente mit 63. Zudem wurde bemängelt, dass es technische Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen Arbeitslosengeld (inzwischen ALG I) und Arbeitslosenhilfe (inzwischen ALG II) gebe. Eine Sprecherin der Arbeitsagentur bestätigt: "Bei uns werden die Daten nur fünf Jahre gespeichert, dann erfolgt ihre Löschung." Die Gesetzgebung hat das Problem inzwischen gelöst. In der verabschiedeten Fassung ist festgeschrieben, dass Versicherte für fehlende Daten über ihre Arbeitslosigkeit vor 2001 auch eine eidesstattliche Versicherung abgeben können. Stimmt es, dass die Rente mit 63 teilweise gegen das Grundgesetz verstößt? Tatsächlich bezweifelt der wissenschaftliche Dienst des Bundestags die Verfassungsgemäßheit eines Anrechnungsdetails. Dabei geht es um die Frage, wann Zeiten der Arbeitslosigkeit in den letzten beiden Jahren vor Eintritt in die Rente für die nötigen 45 Beitragsjahre anzuerkennen sind. Es sei "nicht nachvollziehbar, dass diejenigen, die aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung ausscheiden und infolgedessen tatsächlich unfreiwillig arbeitslos werden, weniger schutzwürdig sein sollen als diejenigen, die aufgrund einer Insolvenz oder vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden", schreiben die Fachleute. Grünen-Rentenexperte Markus Kurth, der das Gutachten in Auftrag gegeben hat, geht nun davon aus, dass die Rente mit 63 bald vor Sozialgerichten und später beim Bundesverfassungsgericht landen wird. Rente mit 63 Dieses Szenario erwartet die Transport- und Logistikbranche Von der Rente mit 63 dürften vor allem die klassischen Ausbildungsberufe im Gewerbe profitieren: Berufskraftfahrer, Lagerkräfte oder Speditionskaufleute. Wie viele das allein 2014 betrifft, lässt sich allerdings kaum vorhersagen. Bereits Ende Juni lagen der Deutschen Rentenversicherung mehr als 6000 Anträge aus allen Branchen vor. Experten schätzen, dass bei den regionalen Rentenversicherungsträgern ähnlich viele Anträge eingegangen sein dürften. Zu einem Stichtag vorliegende Antragszahlen seien allerdings nur eine Momentaufnahme, sagt Andreas Feuser von der Deutschen Rentenversicherung."Wir wissen nicht, wie viele Anträge etwa für dieses Jahr noch eingehen werden und ob sie alle tatsächlich zu einem Rentenanspruch führen." Prognosen dazu seien schwierig.Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, äußerte sich indessen besorgt, dass viele Erwerbstätige früher ausscheiden könnten und den Unternehmen letztlich Fachkräfteengpässe drohten. Detlef Neufang, Geschäftsführer des Bundesverbands Wirtschaft, Verkehr und Logistik (BWVL), sieht das für die Transport- und Logistikbranche gelassener. Zwar sei das Alter der Fahrer sowohl im Werkals auch im gewerblichen Verkehr sehr hoch, wehalb Unternehmen damit rechnen müssten, dass einige Mitarbeiter einen Antrag auf die Rente mit 63 stellten. Zu einem Fachkräftemangel dürfte das aber nur bei wenigen Betrieben führen, so Neufang.Betroffen sein könnten vor allem Unternehmen mit einer ungünstigen Altersstruktur. Konkrete Prognosen wagt in der Branche allerdings niemand. Es ließe sich quantitativ kaum festmachen, wie viele Beschäftigte die Rente mit 63 betrifft, heißt es vonseiten der Verbände. Für die Personalabteilungen vieler Unternehmen bedeutet das: abwarten. ir

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