Europa blickt nach Berlin

Gelassen", antwortet der Europaabgeordnete Markus Ferber (CSU) auf die Frage, wie man bei der europäischen Union (EU) auf die anstehende Bundestagswahl in Deutschland blickt. Denn ob Angela Merkel oder Martin Schulz neuer Bundeskanzler sein wird, werde für die EU kaum einen Unterschied machen. Beide seien klar pro-europäisch eingestellt. Die Gefahr, dass Populisten an die Macht kämen, stelle sich in Deutschland nicht. Sicher: Mit Merkel bekomme die EU Kontinuität, Schulz wolle Akzente versetzen. Aber da man auch Schulz gut aus seiner Zeit als EU-Parlamentspräsident kenne und sich seiner EU-Überzeugung bewusst sei, werde es nur graduell einen Unterschied machen, wer letztlich das Rennen gewinnen werde. Deutschland spielt Führungsrolle Diese Meinung wird in Brüssel allgemein geteilt. Sie erklärt die zurzeit fehlende Aufgeregtheit im Vorfeld der deutschen Wahl. Aber natürlich wird der 24. September dann schon eine große Rolle spielen. "Denn trotz des neu entfachten Reformeifers der Franzosen unter Präsident Macron bleibt Deutschland die treibende Kraft bei größeren Reformvorhaben auf europäischer Ebene", sagt Gesine Meißner (FDP), wie Ferber Mitglied des Verkehrsausschusses im EU-Parlament. Diese Sicht wird ebenfalls von fast allen geteilt und als Fakt akzeptiert. Wenn auch nicht immer mit Begeisterung, wie die österreichische EU-Abgeordnete Claudia Schmidt von der bürgerlichen ÖVP zu verstehen gibt. "Ein südländischer Abgeordneter brachte es nach einer langen Debatte einmal frustriert auf folgenden Punkt: 'Das ist unser Dilemma. Es geht nicht mit den Deutschen, aber es geht auch nicht ohne sie'", berichtet Schmidt. Tatsächlich sind viele südeuropäische Mitgliedstaaten unzufrieden mit der aktuellen EU-Politik der konservativ geführten deutschen Bundesregierung. Die unnachgiebige Haltung gerade bei der Sparpolitik und die daraus entstandenen sozialen Missstände in einigen Ländern stoßen vielen sauer auf. "Also wird ein Richtungswechsel in Berlin erwartet und erhofft, um die vielen angestauten Probleme im Zusammenleben der Menschen endlich in einen Lösungsprozess zu überführen - so kompliziert und herausfordernd dieser auch sein mag", skizziert Helmut Scholz (Die Linke) die Hoffnung vieler "Südeuropäer", aber auch anderer EU-Parlamentarier außerhalb der liberal-konservativen Gruppierungen. Denn: "Mit Schulz würde die EU die Möglichkeit bekommen, die Menschen gleichberechtigter an dem Wohlstand in der Union zu beteiligen", sagt auch der verkehrspolitische Sprecher der Sozialdemokraten, Ismail Ertug (SPD). Viele Probleme warten auf Lösungen Doch egal ob Merkel oder Schulz: Die europäischen Baustellen, die auf sie warten, sind bekannt: Lösung des Flüchtlingsproblems, Aufbau einer europäischen Verteidigung, Anstoß von Reformprozessen. Es würden - nachdem die Wahlen in Frankreich und Deutschland vorüber seien - endlich Taten erwartet, sagt Ferber. "2018 wird ein Jahr sein, in dem viel umgesetzt werden kann", meint er. 2019 stünden die Europawahlen an, die EU-Kommission werde neu besetzt. Da dürfe man nicht mehr mit großen Entscheidungen rechnen. "Beim Brexit hat die Bundestagswahl keinen Einfluss, da ist die EU-Haltung ja schon klar", fügt er hinzu. Ähnlich entspannt wie in Brüssel beobachtet man in den deutschen Nachbarländern die anstehende Bundestagswahl: Die Politik- und Wirtschaftsvertreter dort wissen, dass man sowohl mit Merkel als auch mit Schulz klar pro-europäisch eingestellte Politiker als Partner bekommen wird. "Von daher blickt man mit deutlich weniger Angst oder Spannung auf die deutschen Wahlen, als dies beispielsweise in Frankreich oder den Niederlanden der Fall war", sagt der belgische Europaabgeordnete Pascal Arimont. Eine Sicht, die nicht nur in seiner Heimat Belgien, sondern auch in den Niederlanden geteilt wird. Dort bekäme vor allem das klare "Bekenntnis zum freien Handel und gegen Protektionismus" der beiden Kanzlerkandidaten Beifall, berichtet Günter Gülker, Geschäftsführer der deutschniederländischen Handelskammer mit Sitz in Den Haag. Europapolitische Impulse erhofften sich die Niederländer unter anderem bei Themen wie Infrastruktur- und Glasfasernetzausbau sowie Cyber Security. Auch eine Weiterentwicklung der Eurozone werde gewünscht - allerdings ohne Vergemeinschaftung der Schulden. Ähnliche Erwartungen hegt man in Österreich. "Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten würde in Österreich mehrheitlich begrüßt", gibt Arnold Kammel, Direktor der Denkfabrik Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik, die Stimmung in seinem Land wieder. Europapolitisch gebe es oft viel Übereinstimmung mit Deutschland. In Österreich erwarte man auch, dass Deutschland im Tandem mit Frankreich eine Führungsrolle in der EU einnimmt. Dadurch erwachse allerdings auch eine Aufgabe. "Österreich erwartet Visionen, ein neues Narrativ für die EU", sagt Kammel. Gerade auch mit Blick auf die Flüchtlingspolitik hege man dort manchmal Zweifel, ob Merkel diese neuen Visionen liefern könne. Wichtig für Österreich sei auf jeden Fall, von Deutschland bei dem möglichen Prozess einer EU-Vertiefung mitgenommen zu werden. Nachbarländer mit Erwartungen Das erhofft sich auch Italien, sagt Jörg Buck, geschäftsführender Vorstand der deutsch-italienischen Handelskammer in Mailand. "Man geht davon aus, dass Merkel Kanzlerin bleibt. In Italien mag darüber nicht jeder glücklich sein. Aber Italien setzt europapolitisch auch Hoffnungen in sie, da man künftig noch enger mit Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten möchte. Man wünscht sich eine Triade Deutschland, Frankreich, Italien, um auf der EU-Arbeitsebene stärker als gleichwertiger Partner berücksichtigt zu werden", sagt Buck. Ansätze dazu habe es in den vergangenen Monaten bei der Digitalinitiative "Industrie 4.0" gegeben. In Polen schaut man sehr genau auf die Bundestagswahl in Deutschland und bevorzugt mehrheitlich Merkel als künftige Kanzlerin. "Man glaubt zu wissen, woran man bei ihr ist", so Dieter Bingen, Leiter des deutschen Polen-Instituts in Darmstadt. Deutschland bleibe Polens engster Partner, sowohl wirtschaftlich als auch politisch - selbst wenn die aktuelle PiS-Regierung oft andere Töne anschlage. "Eine entscheidende Rolle Deutschlands in der EU wird von vielen in Polen gewollt - weil Deutschland von allen EU-Staaten am meisten an Polen interessiert ist", sagt Bingen. Merkel sei eine geachtete Politikerin, weil sie selbst eine Ost-Vergangenheit habe. Man sieht in ihr eine Vermittlerin zwischen den alten und neuen ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten. Nur im Zusammenspiel mit dem eigenen Land will dagegen Frankreich Deutschland die Führung in der EU zugestehen. "Das gilt grundsätzlich, aber auch besonders für den neuen Präsidenten Macron, der an die Tradition eines Charles de Gaulle anknüpft", sagt Frank Baasner, Direktor des deutsch-französischen Instituts in Ludwigsburg. Macron könne sich noch als unbequemer Partner für jeden deutschen Kanzler herausstellen. Denn für ihn gelte: zuerst Frankreich, dann Europa.

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