Eine Frage der Ehre

Das Leitbild des ehrbaren Kaufmanns hat eine lange Tradition. Nachweislich seit dem 12. Jahrhundert wurden in Europa bestimmte Tugenden in den Handbüchern der Kaufleute gelehrt. Die Wurzeln liegen im italienischen Venedig und dem norddeutschen Städtebund der Hanse. Von dem Handelszentrum im Süden ausgehend verbreitete sich das Leitbild über die Kaufmanns-Vereinigungen im Norden in ganz Europa. Christoph Lütge, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München, hat sich intensiv mit der Geschichte des ehrbaren Kaufmanns beschäftigt. Die ersten Kaufleute - im frühen Mittelalter noch zu Fuß und zu Wasser unterwegs - lebten demnach auf ihren langen Reisen gefährlich und mussten hohe Risiken eingehen, weil sie in jeder Stadt fremd und ohne jegliche Reputation waren. "Oftmals begegnete man den Reisenden mit Skepsis oder sie wurden gar als Betrüger verdächtigt", sagt Lütge. Das erschwerte den Handel beträchtlich. Um das Vertrauen in die Kaufleute zu stärken und die Bedingungen des Wirtschaftens zu verbessern, entstanden mit dem Aufstreben der Städte ab der Mitte des 12. Jahrhunderts vielerorts Kaufmannsgilden und Vereinigungen wie die Hanse. Nach Auskunft des Wissenschaftlers standen sie für spezifische Verhaltensnormen nach dem Grundsatz von Treu und Glauben und fungierten als Gütesiegel. Bestimmte Fähigkeiten sind gefordert Joachim Schwalbach, ehemaliger Leiter des Instituts für Management der Humboldt-Universität Berlin, hat sich während seiner langjährigen Forschungsarbeit ebenfalls mit dem ehrbaren Kaufmann auseinandergesetzt. Seiner Ansicht nach zeichne dieser sich seit jeher durch eine gute humanistische Grundbildung aus. Darauf aufbauend besitze er umfassendes Fachwissen und einen gefestigten Charakter, sagt er. "Ein Kaufmann musste über praktische Fähigkeiten verfügen", erläutert der Betriebswirt die Anforderungen im Mittelalter. Jene seien eine wichtige Basis seines wirtschaftlichen Erfolgs gewesen. "Rechnen, Lesen, Sprachkenntnis, Bildung in den Bereichen Warenkunde, Recht, Geografie und Währung wurden ergänzt durch ein ausgeprägtes Gewinnstreben, durch rationale und emotionale Intelligenz, Organisationstalent sowie politischen Weitblick", betont Schwalbach. Doch das allein machte noch keinen ehrbaren Kaufmann aus. Die Ehrbarkeit entstand erst durch tugendhaftes Verhalten. "Bis zum Anbruch der Moderne wurde Ehre als soziales Kapital verstanden, dessen Wert man steigern oder durch schändliches Verhalten verlieren konnte", sagt Schwalbach. Wer betrog, täuschte oder Pleite machte, verlor seinen guten Ruf und das Vertrauen seiner Kunden, was unweigerlich zu seinem Ruin führte. Schande sei zudem gleichbedeutend mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft gewesen, sagt Schwalbach. So durfte ein schandhafter Kaufmann keine Ämter mehr bekleiden und wurde im schlimmsten Fall aus der Stadt vertrieben. Grundlegende Tugenden waren im Mittelalter Ehrlichkeit, Vorsicht, Misstrauen, die Wahrung von Geschäftsgeheimnissen, Wagemut im richtigen Moment, Friedensliebe, Ernsthaftigkeit, Höflichkeit, Klugheit, Ordnung, eine gute Erscheinung und eine gute Erziehung. "Ein ehrbarer Kaufmann tat Gutes, indem er ehrbar wirtschaftete und damit seinen eigenen und den Wohlstand der Gemeinschaft mehrte", erläutert Schwalbach. Dadurch entwickelte sich eine pragmatische Geschäftsmoral des goldenen Mittelwegs mit dem Ziel, den geschäftlichen Erfolg langfristig zu sichern - auch über Generationen hinweg. Die Rahmenbedingungen ändern sich Im 15. Jahrhundert gelangten die Kaufleute zu größerem Einfluss. "Die Hanse im Norden oder die Fugger und Welser im Süden von Deutschland bildeten regelrechte Handelsmonopole heraus", erklärt Lütge. Die Ehrbarkeit spielte hierbei demzufolge eine wichtige Rolle. "Viele Kaufleute fühlten sich ethischen Grundsätzen verpflichtet. Sie folgten nicht nur bei ihren Geschäftsabschlüssen klaren Prinzipien, sondern sie übernahmen auch Verantwortung für ihre Heimat", sagt der Wirtschaftsethiker der Technischen Universität München. Der Grund: Die Kaufleute wollten ihrer Region etwas zurückgeben, da diese ihren gesellschaftlichen Aufstieg erst ermöglichte. Im Laufe der Zeit passten sich die ethischen Regeln immer wieder an gewandelte ökonomische Rahmenbedingungen an. "In ihrem Kern blieben die Grundsätze aber unverändert. Sie basierten auf christlichen Werten und standen für Verantwortung", betont Lütge. Nach Jahrhunderten blühender Handelsbeziehungen folgte der wirtschaftliche Stillstand während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) und der Niedergang der Hanse. Im 17. und 18. Jahrhundert wandelten sich die Wertvorstellungen in der Wirtschaft fundamental. "Im Zuge der Aufklärung trat die Religion als Grundlage des kaufmännischen Ehrverständnisses zugunsten von Vernunft und Moral zurück", sagt Lütge. Mit dem Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert seien die Tugenden des ehrbaren Kaufmanns zunehmend in Vergessenheit geraten. Gesellschaftliches Ansehen erwarb ein Unternehmer demnach nun durch größtmöglichen Reichtum und nicht mehr durch gemeinnütziges Engagement. Anspruch und Wirklichkeit entkoppelten sich auch dadurch, dass Betriebe immer öfter nicht durch Eigentümer, sondern durch angestellte Geschäftsführer geleitet wurden, die dem Druck, immer höhere Gewinne zu erzielen, nicht so leicht widerstehen konnten. "In der Folgezeit wurde deutlich, dass diese neuen Maßstäbe Unternehmertum und Gesellschaft stark entzweiten. Das Wirtschaften ohne Verantwortungsübernahme ging vor allem auf Kosten der Arbeitnehmer, was letztlich zu Arbeiteraufständen führte", erklärt Lütge. Der Ruf nimmt Schaden In der heutigen Gesellschaft scheinen Ökonomie und Moral häufig nicht miteinander vereinbar zu sein: Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise erschütterte das Vertrauen in die Wirtschaft, verschärfte den Wettbewerb zwischen den Unternehmen. In der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, dass wirtschaftliche Aktivitäten und gesellschaftliche Interessen im Widerspruch zueinander stehen. Im Markt selbst führte die Ellenbogenmentalität vermehrt zu Pleiten. Um diesem Negativtrend entgegenzusteuern, entdeckten zwischen 2007 und 2009 viele Unternehmen die Tugenden des Mittelalters wieder. Der Begriff des ehrbaren Kaufmanns wird heute zunehmend durch Anglizismen wie Good Governance, Fair Play und Corporate Social Responsibility verdrängt. Im Unterschied zu vergangenen Zeiten besteht aber weit weniger Konsens darüber, was einen verantwortungsbewussten Geschäftsmann auszeichnet. Schwalbach hat hierzu ganz konkrete Vorstellungen: "Ein moderner ehrbarer Kaufmann hat ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein auf der Unternehmens- und Gesellschaftsebene", sagt der frühere Professor der Humboldt-Universität Berlin. Dazu gehöre das faire Verhalten gegenüber seinen Mitarbeitern, Kunden und Geschäftspartnern, die er nach tugendhaften Grundsätzen behandele - mit dem Ziel, langfristige Beziehungen aufzubauen und zu erhalten. Die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft drücke sich zum Beispiel durch Engagement am Standort des Unternehmens, die Verteidigung der sozialen Marktwirtschaft und die Berücksichtigung des Umweltschutzes bei allen Entscheidungen aus. "Wirtschaftlichkeit und Moral sind beim ehrbaren Kaufmann keine Gegensätze", resümiert Schwalbach. Das traditionelle Leitbild ist seiner Ansicht nach für die Gegenwart von außerordentlicher Wichtigkeit: "Es sollte Unternehmern und Managern bewusst machen, dass verantwortungsvolles Verhalten die Grundlage für den nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg und für den sozialen Frieden in der Gesellschaft darstellt." § 1 des IHK-Gesetzes Die Industrie- und Handelskammern (IHK) sind 1956 vom Gesetzgeber beauftragt worden, für Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns zu wirken:Die Industrie- und Handelskammern haben [] die Aufgabe, [...] durch Vorschläge, Gutachten und Berichte die Behörden zu unterstützen und zu beraten sowie für Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns zu wirken.