Ein anderes Bild von Europa

Überraschend ruhig ist es am Tag nach den Europawahlen im politischen EU-Brüssel geblieben. Der Grund dafür könnte im Wahlergebnis selbst liegen. So hat der Wahlsieger, die Europäische Volkspar-tei (EVP) mit den deutschen CDU/CSU-Abgeordneten, gleichzeitig auch die höchsten Verluste zu verbuchen. Die europäischen Sozialdemokraten hielten den Stimmenrückgang zwar in Grenzen, konnten aber nicht die EVP als stärkste Kraft im Europaparlament ablösen. Liberale, Grüne und Konservative büßten ebenfalls in der Wählergunst ein. Zusammen vereinen diese Parteien, die sich alle klar zu dem Projekt EU bekennen, mehr als 75 Prozent der Stimmen auf sich. Von einer Gefahr für Europa durch das Erstarken nationalistischer oder extremer Gruppierungen zu sprechen, wäre also übertrieben. Trotzdem können Populisten und Europagegner sich als die eigentlichen Sieger der Wahl sehen. In Frankreich, Großbritannien und Dänemark gewannen rechtsnationale Kräfte die Wahlen und lösten damit innenpolitische Erdbeben aus. Deutschland folgte diesem Trend nicht. Zwar erreichte die Alternative für Deutschland auf Anhieb sieben Prozent. Aber in ihrem Wahlprogramm bekennt sie sich klar zu Europa. Und dass die NPD einen Abgeordneten stellen wird und damit nach 1989 mit den Republikanern jetzt ein zweites Mal eine rechtsextreme Partei aus Deutschland im Europaparlament vertreten ist, ist weniger einem Rechtsruck, als vielmehr dem Wegfall der Sperrklausel bei den Wahlen in Deutschland geschuldet. "Der Wahlausgang in Deutschland hat bei den etablierten Parteien nicht viel Veränderung gebracht, allerdings sehe ich das Abschneiden der Eurokritiker mit Sorge", sagt Thomas Hailer, Geschäftsführer des Deutschen Verkehrsforums (DVF). Viel beunruhigender aber seien die großen Wahlerfolge der Extremisten in Frankreich und Großbritannien sowie allgemein die Zersplitterung des künftigen Parlaments. Das sei nicht förderlich bei der Politikgestaltung. Hoffnung auf Kontinuität Tatsächlich hat neben den Rechtspopulisten auch die Zahl der unabhängigen Abgeordneten zugenommen. Sie werden sich nur schwerlich in einer Fraktion organisieren. Für Hailer wichtig: Die deutschen Abge-ordneten, die in der vergangenen Legislaturperiode dem Verkehrsausschuss angehört haben, sind wiedergewählt worden. "Sie waren in der vergangenen Wahlperiode unsere wichtigsten Ansprechpartner im Parlament, aber wir wissen noch nicht, ob sie auch wieder im Verkehrsausschuss sein werden", so Hailer. Stand wegen ihrer guten Listenplätze die Wiederwahl der beiden CDU-Politiker Dieter-Lebrecht Koch und Werner Kuhn sowie von Ismail Ertug und Knut Fleckenstein für die SPD von vornherein gleichsam fest, mussten Michael Cramer (Grüne) und Gesine Meißner (FDP) um ihren Wiedereinzug ins Parlament zittern. Cramer schaffte es letztlich von seinem zehnten Platz aus, weil die Grünen ihre Verluste in Grenzen hielten und insgesamt elf Abgeordnete stellen. Meißner stand auf Listenplatz drei, und genau drei FDP-Abgeordnete wird es im neuen Parlament geben. "Ich hätte mir natürlich ein besseres Ergebnis für meine Partei gewünscht", sagte Meißner der VerkehrsRundschau. Sie fürchtet, dass sich die Zersplitterung des Europaparlaments mit den erstarkten rechtsnationalen Kräften negativ auf grenzüberschreitende Verkehrsprojekte wie den einheitlichen europäischen Luftraum oder die Umsetzung des Kernnetzes des Transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN-V) auswirken. "Hier gilt es gegenzusteuern, unser Binnenmarkt braucht eine europäische Infrastruktur", so Meißner. Viele Personalfragen sind noch offen "Einige gute Verkehrspolitiker werden nicht mehr im Verkehrsausschuss sitzen", zeigt sich auch Cramer unsicher, in welche Richtung die EU-Verkehrspolitik in der nächsten Legislaturperiode steuern wird. Das hängt auch von der Frage ab, wer der neue Verkehrskommissar wird, welcher politischen Partei er angehört und mit wem er sein Kabinett formt. Unklar ist bislang, ob die Generaldirektion Mobilität und Verkehr der EU-Kommission eigenständig bleibt oder - wie bereits in der Vergangenheit - mit einer anderen Generaldirektion zusammengelegt wird. Der Ausgang der Wahlen ist für die Klärung der Verhältnisse in der Kommission nur bedingt relevant. Zur Erinnerung: Die Kommissare werden von den Mitgliedstaaten vorgeschlagen und kommen nicht aus den Reihen der jetzt gewählten Abgeordneten. Auch der neue EU-Kommissionspräsident muss kein gewählter Volksvertreter sein. Zwar sollen die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitgliedstaaten laut den neuen Regeln aus dem Lissabon-Vertrag das Ergebnis der Europawahlen bei ihrem Vorschlag für einen Kommissionspräsidenten berücksichtigen. Rechtlich verpflichtet, den Spitzenkandidaten einer der beiden größten Fraktionen zu nominieren, sind sie aber nicht. Ob der Nachfolger von Manuel Barroso also tatsächlich Jean-Claude Juncker oder Martin Schulz heißt, die jeweiligen Spitzenkandidaten der EVP und Sozialisten, ist zurzeit noch offen. Eine Entscheidung - so die derzeitige Berechnungen - ist spätestens auf dem EU-Gipfel am 26. und 27. Juni zu erwarten. Kurz darauf, zwischen dem ersten und dritten Juli, tritt das neue Europaparlament zu seiner ersten Plenumssitzung in Straßburg zusammen. Dann wird zunächst der Präsident des Europaparlaments gewählt. Ob sich die neuen rechten Kräfte dann auf die Bildung einer neuen Fraktion einigen können, ist noch offen. Die Wahl des neuen EU-Kommissionspräsidenten ist für die Sitzung vom 14. bis 17. Juli vorgesehen. Erste Sitzungen des Verkehrsausschusses sollen am 7. und 22. Juli stattfinden. Nach der Sommerpause geht der Veränderungsprozess mit der Nominierung, Parlamentsanhörung und Wahl der neuen EU-Kommissare weiter. Erst wenn sie gegen Ende des Jahres ihre Arbeit aufnehmen, werden die Posten in den EU-Einrichtungen so verteilt sein, dass demokratische Entscheidungsprozesse wieder in vollem Umfang ablaufen können. Erst dann wird wieder mit neuen Gesetzesinitiativen zu rechnen sein. Die Serie Europa-Wahl 2014 Welche Bedeutung die Europawahlen vom 22. bis 25. Mai für die Verkehrspolitik haben VR 19: Welche Macht das Europaparlament besitzt VR 20: Welche Parteien zur Wahl antreten VR 21: Welche verkehrspolitischen Ämter neu besetzt werden VR 22: Nach der Wahl