Das lange Warten

Seit 2013 beherrscht die Brexit-Debatte das Tagesgeschehen - sowohl im Vereinigten Königreich (UK) als auch in der europäischen Union (EU). Doch die Briten und EU-Diplomaten konnten sich noch immer nicht auf einen gemeinsamen Austrittsvertrag einigen. Und das, obwohl Großbritannien schon am 1. Februar 2020 aus der EU ausgetreten ist. Harter Brexit rückt näher Wie das konkrete Regelwerk für die zukünftige wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der EU und Großbritannien aber aussehen wird, ist nach wie vor offen. Sicher ist nur: Am 31. Dezember 2020 endet endgültig die Übergangsfrist. Haben sich bis dahin Großbritannien und die EU nicht auf ein Handelsabkommen geeinigt, droht der harte Brexit. "Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich beide Seiten doch noch auf den großen Wurf einigen, weil man nicht weiß, wie viel Verhandlungstaktik dahinter steht", sagt Niels Beuck, Geschäftsführer beim DSLV Bundesverband Spedition und Logistik in Berlin. "Mit jedem weiteren Tag schwindet aber die Hoffnung auf eine vernünftige Lösung". In der zweiten Dezemberwoche sei der letzte Termin, an dem das Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien ratifiziert werden könnte. Wenngleich vorerst wohl nur auf Englisch. "Das Problem ist, dass dieses Abkommen in 23 Landessprachen übersetzt werden müsste, weil das EU-Parlament den Vertrag noch ratifizieren muss." Ob das bis zum Jahresende gelingt, bezweifelt er. Es sei denn, dass sich da das EU-Parlament kulant zeige und auch mit der englischen Version arbeite, was bei einigen Ländern zumindest unsicher sei. "Für alle, die Geschäfte mit Großbritannien machen, ist das eine Hängepartie. Das zieht sich jetzt schon Jahre", moniert Florian Hofmann, Mitglied der Geschäftsleitung und Brexit-Koordinator der Karl-Dischinger-Gruppe (siehe Seite 16). Seit nunmehr drei Jahren beschäftigt sich das Speditions- und Logistikunternehmen mit diesem Thema. Anfangs seien die Verlader da sehr interessiert gewesen, sagt Hofmann. Doch dieses Interesse sei, so sein Eindruck, durch die langwierigen Austrittsverhandlungen erlahmt. Vielleicht auch weil die Corona-Krise einiges überlagert habe. "Für die Planbarkeit unserer Ressourcen und Prozesse brauchen wir aber jetzt die Informationen", betont Hofmann. Doch diese kämen bislang nur zögerlich oder auch gar nicht. "Das ist im Moment extrem schwierig." Sorgen machen dem Spediteur aber noch zwei andere dringliche Probleme: Alle Kraftwagenspediteure, die in Großbritannien niedergelassen sind, haben zum 1. Januar 2021 keine Gemeinschaftsgenehmigung mehr. Sprich: Wer da keine Cemt-Genehmigung beantragt habe, dürfe dann keine Transporte mehr mit UK abwickeln, betont Hofmann. Er befürchtet, dass das nicht jeder Spediteur und Verlader im Blick habe. Laderaum nach UK wird knapper Erschwerend kommt hinzu, dass sich gerade kleinere Transportbetriebe aktuell aus dem UK-Geschäft zurückziehen oder aber es zumindest ankündigen, weil sie befürchten, dass diese Verkehre durch den Mehraufwand in Zukunft unlukrativ werden, etwa durch die längeren Wartezeiten an den Grenzen. "Der Laderaum in das und aus dem vereinigten Königreich wird sich höchstwahrscheinlich verknappen", befürchtet Hofmann. "Die Transportpreise werden da deutlich ansteigen." Horst Kottmeyer, Geschäftsführender Gesellschafter der Spedition Kottmeyer in Bad Oeynhausen, sieht das auch so. Mit 150 Lkw fährt er bis zu 15-mal täglich nach Großbritannien. Bislang hat das reibungslos funktioniert. Doch dem 2. Januar 2021 blickt er mit großer Skepsis entgegen. "Bis dahin sind es zwar nur noch wenige Wochen, trotzdem tauchen jeden Tag neue Hindernisse und Fragen auf", klagt Kottmeyer. Manche deutsche Transportunternehmer wüssten ja nicht einmal, ob sie für England-Verkehre künftig eine Cemt-Genehmigung brauchen. Prophylaktisch habe er aber schon über 100 Cemt-Genehmigungen beim BAG beantragt. Um auf Nummer sicher zu gehen, hat Kottmeyer im Sommer mit einem deutschen Großversender und Eurotunnel sogar einen kompletten Probelauf mit fiktiven Dokumenten für den Fall eines harten Brexits durchgespielt. Neu ist künftig auf jeden Fall die Master Registration Number (MRN-Nummer), die der Warenversender für jeden zu exportierenden Artikel nach England im deutschen Zollsystem beantragen muss. Neben der MRN-Nummer braucht ein Transporteur, T1, eine EU-Lizenz, den CMR-Frachtbrief sowie Handelsrechnung, Lieferschein und Ausfuhrerklärung der Exportware. Bei einem harten Brexit kommen noch die Cemt-Genehmigung und im Bedarfsfall Ursprungszeugnisse dazu. Und dies betrifft nur den Warentransport von Deutschland nach England. Trivial wird es im Englandgeschäft für Transportbetriebe also künftig nicht. Zumal die britischen Behörden laut Kottmeyer sehr erfinderisch sind, was neue Auflagen betrifft. So dürfen ab 1. Januar 2021 Lkw nur noch die Autobahn M25 befahren, die von London Richtung Dover und Folkestone führt, wenn sie die erforderlichen Zollpapiere dabeihaben, erzählt der Geschäftsführer. Dieses müsse im Vorfeld auch für Leerfahrten elektronisch für den sogenannten Kent Access Permit. angemeldet werden. Andernfalls drohen 300 Pfund Bußgeld. Und warum? Nur um lange Staus auf dieser Strecke zu vermeiden. Und das sei nur ein Beispiel von vielen. Wartezeiten durch zu wenig Zollagenten Das weitaus größere Problem für Transportbetriebe sei aber, betont Kottmeyer, dass sich in England fast alle Zollämter in Häfen oder auf Flughäfen befinden. "Es gibt kaum Binnenzollämter. Trotzdem wollen es die englischen Behörden offenbar unterbinden, dass künftig Lkw-Fahrer die Zollämter in Häfen für die Verzollung anfahren. Stattdessen solle man Zollagenten einsetzen. "Doch weil England bislang in der EU war und kaum Drittlandsware hatte, gibt es auf englischer Seite viel zu wenige Zollagenten und -spediteure", weiß er. Lange Wartezeiten seien so vorprogrammiert. Gar nicht zu reden von den drohenden Wartezeiten dies- und jenseits des Ärmelkanals. Gerade zu Beginn sei mit Chaos zu rechnen, selbst wenn ein Transportbetrieb alle erforderlichen Dokumente und Zollpapiere dabeihabe, schätzt er. Er selbst wird im Englandverkehr weiterhin auf den Eurotunnel setzen - wie heute auch schon, der sei zwar etwas teurer als die Fähre, aber pünktlicher. Kurzum: Das Transportgeschäft von und nach Großbritannien wird sehr komplex. "Informieren Sie sich als Unternehmer spätestens jetzt dringend über die IT-Systeme der Zollbehörden der EU-Eingangsländer, wie dort der Handel künftig ablaufen soll. Denn eine EU-einheitliche Lösung wird es so schnell nicht geben", mahnt DSLV-Geschäftsführer Beuck. Hilfreich dafür sei zum Beispiel das "UK Border Operating Modal", das informiert, wie die Abwicklung an der Grenze funktioniert, vor allem aber die Informationswebsite GOV.uk des öffentlichen Sektors in UK, sagt er. Diese habe am 18. November Informationen herausgegeben, worauf sich Lkw-Fahrer, Kraftwagenspediteure und Verlader ab 1. Januar 2021 einstellen müssen (mehr dazu auf dem Online-Portal www.verkehrsrundschauplus.de/brexit-uebersicht). "Die Informationen von GOV.uk beruhigen. Das hat Hand und Fuß und soll noch in andere EU-Sprachen, darunter hoffentlich auch ins Deutsche, übersetzt werden", lobt Beuck. "So steht jetzt fest, dass UK den Lkw-Führerschein deutscher Fahrer auf britischem Boden anerkennen wird. Denn selbst das war bislang nicht klar." Er erwartet trotzdem gerade in den ersten Wochen Schwierigkeiten. "Zwar haben die Behörden diesseits und jenseits des Ärmelkanals ihre Hausaufgaben weitgehend gemacht. Aber die Zeit für die Vorbereitung ist einfach zu knapp." Die Spediteure hätten sich ja schon seit Jahren auf einen harten Brexit, also die No-Deal-Lösung, eingestellt. Aber gerade kleine und mittlere Verlader seien häufig noch immer nicht umfassend auf den Brexit vorbereitet. "Großbritannien hat aber ein vitales Interesse daran, die Versorgungssicherheit für die eigene Bevölkerung zu gewährleisten", macht der DSLV-Geschäftsführer Mut. "Deshalb wird man wohl in den ersten Wochen auf Behördenseite einiges kulanter regeln. " Mehr zum Thema finden Sie unter #Brexit www.verkehrsrundschau-plus.de/brexit-uebersicht In Kürze Noch sind die Verhandlungen zwischen dem vereinigten Königreich und der EU nicht final abgeschlossen. Noch ist alles im Fluss. Deshalb stellen wir VerkehrsRundschau-Abonnennten die wichtigsten Brexit-Infos kostenfrei unter dem Link www.verkehrsrundschau-plus.de/brexit-uebersicht zur Verfügung. "Das macht es für alle Beteiligten extrem anstrengend" - im Interview: Florian Hofmann, Geschäftsbereichleiter des Speditions- und Logistikunternehmens Karl Dischinger Was würde ein harter Brexit für die Fachspedition Karl Dischinger bedeuten? Zunächst einmal ein Ende der langen Hängepartie. Wir bereiten uns ja schon seit über drei Jahren darauf vor. So beschäftigen wir in unseren Zoll- und Außenhandelsbetrieben allein dafür 23 Mitarbeiter. Im Grunde behandeln wir aber im Falle eines harten Brexits alle Sendungen aus und nach Großbritannien wie aus anderen Drittstaaten. Problem aufseiten der Importeure und Exporteure ist, dass nicht klar ist, welche Abgaben zu erwarten sind. Gelten im Falle eines harten Brexits dann tatsächlich ab 1. Januar 2021 alle neuen zollrechtlichen Pflichten, oder gibt es da eine kleine Schonfrist für alle Beteiligten? In UK können die Firmen innerhalb der ersten sechs Monate für die Zollabgaben noch einen Zahlungsaufschub erwirken. Da finden auch noch keine Vorabanmeldungen (summarische Eingangsmeldungen) statt. Spätestens ab 1. Juli 2021, in der Phase 3, gibt es aber keine Vereinfachungen mehr. Ab dann müssen für britische Exportwaren in die EU Einfuhranmeldungen und Vorabmeldungen abgegeben werden. Ab 1. Juli finden auch verstärkt physische Kontrollen der Waren und Probeentnahmen statt. Zudem müssen Firmen für ihre Waren am Einfuhrort vollständige Zollerklärungen abgeben und die Zölle zahlen. Schon im April 2021 müssen tierische Produkte wie Milch und Honig sowie pflanzliche Produkte aus Großbritannien in der EU vorab angemeldet werden - mit entsprechenden Gesundheitsnachweisen. In der EU gibt es diese Sonderregelungen nicht. Importe in die EU und Exporte aus der EU müssen ab 1. Januar 2021 vollumfänglich wie in jedes andere Drittland abgewickelt werden. Was ist für Sie aktuell beim Thema Brexit die größte Herausforderung? Wir alle wollen zum 1. Januar 2021 starten. Doch es gibt noch immer Unklarheiten, vor allem in den Abgabehöhen. Das macht es für alle Beteiligten extrem anstrengend, die jetzt Prozesse und Ressourcen planen müssen. Keiner, wirklich keiner der Verlader kann zum jetzigen Zeitpunkt vollständig vorbereitet sein. Und die Zeit läuft.

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