Da tun sich Abgründe auf

Wenn Bauingenieure erklären, was mit unseren Autobahnbrücken passiert, ziehen sie gerne den Vergleich mit der Büroklammer heran. Die filigrane Klammer hält es ohne Weiteres aus, mehrmals langsam hin und her gebogen zu werden, ohne Schaden zu nehmen. Wird sie aber zu schnell und zu häufig gebogen, macht es knack und der Metalldraht ist durch. Materialermüdung nennt man das, was unter der Last des über die Jahre angewachsenen Verkehrs in den Brückenbaukörpern vor sich geht, besonders in den älteren Stahlkonstruktionen und den Spannbetonbrücken, die massenhaft in den Jahren zwischen 1950 und 1970 gebaut wurden und nun, früher als erwartet, an ihre Belastungsgrenze gekommen sind. Das Problem: Die Hälfte der Autobahnbrücken in Deutschland sind so gebaut und nähern sich schneller als erwartet dem Ende ihrer Lebensspanne. "Grundsätzlich sind wir erstaunt, dass die Bauwerke aus den 50er- bis 70er-Jahren relativ kurz halten", erklärt Professor Martin Mertens von der Hochschule Bochum, wo er Studenten erklärt, wie stabile Brücken gebaut werden. Der Brückenfachmann wird gerne gefragt, wenn es wieder einmal auf einer wichtigen Autobahnbrücke heißt: Keine Durchfahrt für Lkw über 3,5 Tonnen. Lkw müssen Umwege fahren In der letzten Zeit häufen sich solche Meldungen - zum Leidwesen der Güterverkehrsbranche. Seit letztem Sommer und mindestens noch bis Mitte des Jahres ist die Rheinbrücke auf der A 1 bei Leverkusen für Lkw über 3,5 Tonnen gesperrt, außerdem besteht eine Geschwindigkeitsbegrenzung von maximal 60 km/h für alle Fahrzeuge. Der Grund sind Risse in der Tragwerkkonstruktion der Schrägseilbrücke, die bei Routineinspektionen 2012 festgestellt wurden. Daraufhin attestierten Experten dem Bauwerk einen "kritischen Bauwerkzustand" weil Stand- und Verkehrssicherheit nicht mehr gegeben waren. Bei den bislang durchgeführten Sanierungsarbeiten wurden die komplett von der Beschichtung freigelegten Schweißnähte in den acht Seilkammern der Brücke begutachtet, dabei kamen weitere Risse ans Tageslicht. Die marode Rheinquerung soll nun bis 2020 durch einen Neubau ersetzt werden. Die gut einen Kilometer lange und 37 Meter breite Schrägseilbrücke wurde 1965 fertig gestellt. Damals war sie für 40.000 Fahrzeuge ausgelegt. Zuletzt befuhren 120.000 Fahrzeuge täglich das filigrane Bauwerk - davon rund 14.000 Lkw. Stahlbrücken zeigen Risse Bereits im Sommer 2013 musste die Rader Hochbrücke, die den Verkehr über den Nord-Ostsee-Kanal führt, für dreieinhalb Monate für Lkw gesperrt werden. Der Grund waren massive Schäden an den Pfeilerköpfen der 40 Jahre alten Stahlbrücke. Erst nachdem alle 28 Pfeilerköpfe verstärkt und sämtliche Risse an den Pfeilern verschlossen waren, konnten auch wieder Lkw über die 1500 Meter lange Brücke rollen. Für den Schwerverkehr über 84 Tonnen ist die Brücke weiterhin gesperrt. Die Brücke wird nach Berechnungen der Statiker nur noch zwölf Jahre halten, deshalb soll sie ebenfalls neu gebaut werden. Genau wie die Leverkusener Rheinbrücke soll sie in einem beschleunigten Planungs- und Genehmigungsverfahren gebaut werden. Mit der erst vergangene Woche vom Bundestag beschlossenen sechsten Änderung des Bundesfernstraßengesetzes wurde damit auch bei der Rader Hochbrücke die Klagemöglichkeit von Projektgegnern auf eine einzige Klageinstanz eingeschränkt. Langwierige Prozesse, die den Bau der Brücken verzögern könnten, sollen dadurch vermieden werden. Aber warum ist die Situation so wie sie ist und warum gehen die Brücken schneller kaputt als gedacht? Brückenbauer Mertens kennt die Erklärung: "Aus heutiger Sicht weisen die Bauwerke Defizite in der Bemessung auf, die damals nicht absehbar waren. Das betrifft nicht nur die Brückenlasten, sondern beispielsweise auch das Temperaturverhalten. Außerdem sind die schlanken Brücken ziemlich empfindlich, was die Zunahme des Verkehrs angeht." Das große Problem unserer Bauwerke - hier scheinen sich alle Experten einig - ist die Zunahme des Lkw-Verkehrs. Die Gewichte der Fahrzeuge wurden immer höher geschraubt, dadurch erhöhten sich die Achslasten. Lag das zulässige Gesamtgewicht eines Lkw im Jahre 1960 noch bei 32,5 Tonnen, liegt es heute bei 40, im Kombinierten Verkehr bei 44 Tonnen. Das bedeutet ausgedrückt in Achslasten: 10 Tonnen früher, 11,5 Tonnen heute auf der Antriebsachse. Für die alten Bauwerke ist das ein Problem, denn die Belastung nimmt exponentiell mit der Achslast zu: "Die Überfahrt eines Lkw schädigt die Substanz je nach Achslast 20.000 bis 50.000 Mal stärker als ein Pkw. Das weiß man aus Versuchen", versichert Mertens. Zusätzlich hat sich die Güterverkehrsleistung im Straßengüterverkehr vervielfacht: von 23,3 Milliarden Tonnenkilometern im Jahr 1960 auf 437 Milliarden im Jahr 2010. Für 2030 liegt die jüngste Prognose des Bundesverkehrsministeriums bei 607,4 Milliarden Tonnenkilometern und damit noch mal um 39 Prozent höher. Brücken haben Verschleißteile "Wir fahren unsere Verkehrsinfrastruktur auf Verschleiß", wiederholte Karl-Heinz Daehre, Leiter einer Kommission zum Thema "Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung" in vielen Interviews und warnte vor den negativen wirtschaftlichen Folgen des Investitionsstaus bei der Verkehrsinfrastruktur. "Brücken müssen gewartet werden", erklärt Mertens. "Eine Brücke hat sehr viele Verschleißteile, beispielsweise die Brückenlager, Fahrbahnübergänge oder die Geh- und Radwege auf der Seite. Die Fahrbahnbeläge müssen alle 20 bis 25 Jahre gewechselt werden." Der Lebenszyklus einer Brücke sei vergleichbar mit einer Autobremse, bei der die Beläge ja auch von Zeit zu Zeit gewechselt werden müssten. Spätestens wenn Metall auf Metall kreischt, ist es zu spät. "Beim Erhalt müssen wir dringend was tun", fordert der Bauingenieur. Das glaubt auch Alexander Eisenkopf, Professor für Wirtschafts- und Verkehrspolitik an der Zeppelin Universität Friedrichshafen: "Man kann von Politikversagen sprechen, die Infrastruktur instandzuhalten. Es wurden Fehler gemacht", urteilt Eisenkopf. "Im Bundesverkehrswegeplan wurde in den letzten 10 bis 15 Jahren zu stark auf Neu- und Ausbau gesetzt und zu wenig Geld in den Erhalt der Straßen gesteckt," so das Urteil des Verkehrsexperten, der Mitglied im wissenschaftlichen Beirat beim Bundesverkehrsminister ist. Es sei einfach attraktiver für die Politik, den Neubau einer Straße zu verkünden als die Reparatur einer in die Jahre gekommen Brücke. Statt Infrastrukturprojekte als Wahlhilfe für Lokalpolitiker zu missbrauchen, empfiehlt Eisenkopf eine strategische Herangehensweise mit klarer Priorisierung von Projekten, die für die Beseitigung von Engpässen wichtig sind. Im Bundesverkehrswegeplan 2015 sei die Idee einer strategischen Priorisierung enthalten. Eisenkopf: "Es bleibt abzuwarten, ob diese auch umgesetzt wird." Programm zur Brückenertüchtigung Tatenlos war die Verkehrspolitik jedoch nicht in den vergangenen Jahren. Die jüngsten Brückensperrungen haben den Handlungsbedarf nur unterstrichen, der aus regelmäßigen Bauwerksprüfungen ohnehin bestens dokumentiert ist. Die vorliegenden Daten belegen die Verschlechterung des Zustandes deutlich. Zwischen 2001 und 2013 hat sich die Brückenfläche im Bundesfernstraßennetz (Autobahn und Bundesstraßen), die mit der bereits kritischen Zustandsnote 2,5 bis 2,9 bewertet wurde, in etwa verdoppelt. In die Kategorie "nicht ausreichender Zustand" oder schlechter fielen 2013 knapp 16 Prozent der Autobahnbrücken und über 9 Prozent der Brücken im Bundesstraßennetz (siehe Grafik Seite 18). Brücken gehen in die Nachprüfung Das Bundesverkehrsministerium (BMVI) hat daher 2010 gemeinsam mit der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) die "Strategie zur Ertüchtigung der Straßenbrücken im Bestand der Bundesfernstraßen" entwickelt. Den Ländern wurde eine Liste mit rund 2200 Brückenbauwerken vorgelegt, bei denen akuter Handlungsbedarf zur Nachrechnung besteht. Mit 30 Prozent entfallen die meisten der fragwürdigen Autobahnbrücken auf Nordrhein-Westfalen, gefolgt von den Bundesländern Bayern (17 Prozent), Hessen (14 Prozent) und Baden-Württemberg (12 Prozent). Die Brücken werden nach einer eigens entwickelten Nachrechnungsrichtlinie auf ihre tatsächliche Belastungsfähigkeit hin noch einmal berechnet. Insbesondere geht es darum, herauszufinden, welche Bauwerke baulich verstärkt werden müssen, um die Lebensdauer so lange zu verlängern, bis ein Neubau die alte Brücke ersetzen kann. Die Prüfung ist in den Ländern noch in vollem Gange. Erste Zwischenergebnisse zeigen aber schon jetzt den dringenden Sanierungsbedarf (siehe Kasten Seite 19). In Nordrhein-Westfalen werden entsprechend der BASt-Liste und selbst benannten weiteren Bauwerken im Transitnetz insgesamt 800 Brücken nachberechnet. Aus den vorliegenden Ergebnissen für 200 Brücken ist bereits ein Trend ersichtlich: In den nächsten 15 bis 20 Jahren muss etwa die Hälfte der Brücken erneuert werden. Die Kosten liegen bei 4,5 Milliarden Euro (siehe Interview). Das Bundesverkehrsministerium schätzte vor zwei Jahren den Bedarf für die Erhaltung der Bundesfernstraßen bis 2025 insgesamt auf über 3 Milliarden Euro jährlich ein. Der Anteil für die Erhaltung der Brücken und Tunnel wurde dabei mit 30 bis zu 45 Prozent dieser Summe angegeben. Der Bedarf spiegelt sich auch im Verkehrsetat wider. Nach der bisherigen Finanzplanung für den Investitionsetat sind in diesem Jahr 5,06 Milliarden Euro für die Straße eingeplant, 5,66 für 2016, 6,06 für 2017 und 5,26 Milliarden Euro im Jahr 2018. 2015 bis 2017 sollen mehr als eine Milliarde Euro für die Modernisierung maroder Brücken ausgegeben werden. Hinzu kommen noch weitere Mittel aus dem Investitionspaket, das dem Verkehrshaushalt zugute kommt. Von den 4,35 Milliarden Euro gehen rund 1,5 Milliarden Euro in die Straße, etwa 400 Millionen Euro sollen für die Brückenmodernisierung bereitgestellt werden (mehr zum Hochlauf der Verkehrsinvestitionen in der Berlin-Korrespondenz auf Seite 14.) Kommunale Brücken verkommen Eine Zeitbombe tickt allerdings in den Brücken, die sich in kommunaler Obhut befinden. Laut einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu) müssen 15 Prozent der rund 67.000 kommunalen Straßenbrücken bis zum Jahr 2030 ersetzt werden. Die Kosten für den Brückenneubau beziffert das Institut mit elf Milliarden Euro zuzüglich 5 bis 6 Milliarden für die nötigen Sanierungsarbeiten. Während die maroden Autobahnbrücken ein Problem der alten Bundesländer darstellen, betreffen die kommunalen Brücken die gesamte Republik. Bauexperte Mertens sieht hier ein ungelöstes Finanzierungsproblem: "Die klamme Haushaltslage lässt kaum Spielraum. Die Kommunen sind die Griechen unter den Straßenbauverwaltungen." Bast-Liste Ein Blick auf die Länder Die BASt hat eine Liste mit bundesweit 2200 Brückenbauwerken herausgegeben, die vorrangig zu untersuchen sind. Anhand dieser Liste überprüfen die Länder derzeit ihre Brücken. Vor allem Bauten in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Hessen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz stehen auf der Liste. Hier gibt es bereits Zwischenergebnisse.Nordrhein-WestfalenVon rund 800 Brücken, die das Land nachrechnen muss, sind rund 250 schon untersucht. Das Ergebnis bisher: Mehr als die Hälfte der Großbrücken in NRW muss in den nächsten 15 bis 20 Jahren erneuert werden.BayernBayern muss 343 Teilbauwerke prüfen, bei rund 80 ist das schon passiert. Die Prüfer kommen bisher zu dem Ergebnis, dass 16 Prozent der Autobahnbrücken vordringlich instand gesetzt oder neu gebaut werden müssen. Bei 46 Prozent der Autobahnbrücken sieht das Land einen zeitnahen Sanierungsbedarf. Bei den Bundesstraßen sind es in Bayern 8 Prozent der Brücken, die vordringlich und 26 Prozent, die zeitnah erneuert werden müssen.HessenHessen hat rund drei Viertel der 65 zu untersuchenden Brücken nachgerechnet. Hier sind bei 12 Prozent der Bauwerke verkehrsbeschränkende Maßnahmen notwendig. Sie müssen neu gebaut werden. 63 Prozent müssen mittelfristig, also vor dem Erreichen der ursprünglich erwarteten Nutzungsdauer, erneuert werden. Immerhin 25 Prozent sollen die erwartete Nutzungsdauer erreichen.Baden-WürttembergIn Baden-Württemberg müssen rund 25 Prozent der Autobahnbrücken vordringlich erneuert werden, 63 Prozent werden ihre vorhergesehe Nutzungsdauer nicht erreichen.Rheinland-PfalzVon 97 Brücken, die das Land prüfen muss, sind bereits 52 nachgerechnet. 34 davon sind auch in Zukunft tragfähig, 10 müssen erneuert und 8 verstärkt werden. ks Überwachung der Bauwerke Bei Brückenprüfungen ist Deutschland vorbildlich - Bei jeder Brücke wird im Abstand von sechs Jahren eine Hauptprüfung durchgeführt, bei der alle Bauteile durch spezielles Gerät auf Herz und Nieren geprüft werden.- Drei Jahre danach wird eine einfache Prüfung mit reduziertem Umfang durchgeführt.- Zusätzlich erfolgt eine jährliche Besichtigung durch die zuständigen Straßen- und Autobahnmeistereien.- Alle zwei Jahre erfolgt zudem eine Beobachtung im Hinblick auf augenscheinliche Schäden. Ergebnisse von Prüfungen werden in einem Prüfbericht dokumentiert und Zustandsnoten zwischen 1 und 4 vergeben.SpannbetonbrückenViele der älteren Spannbetonbrücken aus den Jahren 1950 bis 1970 sind überlastet und dürften das Ende ihrer Lebensdauer bald erreichen - wenn nicht bald baulich nachgebessert wird. Viele müssen ganz ersetzt werden. Die empfindlichsten Stellen bei Spannbetonbrücken sind die Spanngliedkopplungen der Brücken, also dort, wo die Spannelemente aus Stahl miteinander verbunden werden. Die Spannglieder liegen in Hüllrohren im Beton. Die Kopplungen liegen in Arbeitsfugen, die sich als sehr empfindlich erweisen. An diesen Stellen tauchen Risse im Beton auf.StahlbrückenBei den älteren Stahlbrücken tauchen Ermüdungsschäden im Bereich der Verbindungsstellen der Fahrbahnplatten auf. Der Prozess wird begünstigt durch:- zu geringe Blechdicken- ausgereizte Konstruktionen- ungeeignete Stahlgüten/-sorten diwi

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