Wettlauf gegen die Zeit

Drohen nach dem Brexit in Großbritannien Versorgungsengpässe? "In den ersten Tagen vermutlich schon. Da möchte ich nicht in England leben", sagt Horst Kottmeyer, Geschäftsführer der Jumbo-Spedition Kottmeyer in Bad Oeynhausen und Präsidiumsmitglied des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL). "Denn wenn die Lkw zu lange an den Grenzen warten müssen, kehren sie um. Die wollen ja nicht die Qualität der Produkte, besonders bei verderblicher Ware, gefährden." Kottmeyer ist in etlichen Geschäftsfeldern tätig und fährt auch Volumen-Transporte, zum Beispiel Just-in-time-Verkehre von Fahrzeugteilen nach England für einen namhaften Automobilbauer, der seine Lagerhaltung weitgehend zurückgefahren hat. Bisher hat dies reibungslos funktioniert. Ob dies auch künftig so sein wird, weiß der Transportunternehmer nicht. Denn bei einem harten Brexit kommen für England-Verkehre neue Zollvorschriften und -kontrollen auf die Unternehmen zu. 100 Kilometer Lkw-Warteschlangen "Ich befürchte dann Chaos an den Grenzübergängen, weil die dafür nötige Infrastruktur nicht da ist. Flaschenhals werden Dover und Folkestone sein", vermutet Kottmeyer. Denn dort kommen täglich 9000 bis 10.000 Lkw an, davon über 90 Prozent aus der EU. Zur Zeit fahren diese Lkw direkt vom Zug beziehungsweise von den Fähren auf die Autobahn. Bei einem harten Brexit müssten diese kontrolliert werden, weil die Briten dann kein Mitglied der Zollunion und des EU-Binnenmarktes mehr wären. "Dauert diese Abfertigungszeit nur zwei oder drei Minuten länger, führt dies jeweils zu 25 Kilometer Stau", fürchtet er. Dauere die Verzollung zehn Minuten, rechnen Experten gar mit über 100 Kilometern Stau. Und auf der französischen Seite des Ärmelkanals, in Calais, droht ein ähnliches Szenario. Bislang liefert Kottmeyer die Fahrzeugteile von Ostdeutschland nach Mittelengland in 48 Stunden aus, wie lange das künftig dauert, weiß er nicht. Jede Verzögerung gefährdet aber die Lieferketten. Und dies trifft aufgrund der heute eng getakteten Logistik alle Branchen, vor allem aber die Automobilindustrie. Der Automobilbauer, für den Kottmeyer fährt, baut daher jetzt schon riesige Lagerkapazitäten. Jedes Teil, das aus Europa kommt, muss er künftig puffern, und möglicherweise gehen dann auch einige Teile via Luftfracht nach England. Noch empfindlicher dürften sich die Warteschlangen an den Grenzen im Lebensmittelbereich auswirken. Schon nach 36 Stunden Nicht-Belieferung, so Kottmeyer, drohen dort in den Supermarkt-Regalen "empfindliche Lücken". Hintergrund für diese Szenarien: "Mit einem No-Deal-Brexit zum 30. März 2019 verlässt das Vereinigte Königreich (UK) nicht nur die EU, sondern auch das gemeinsame Zollterritorium der EU -was im Übrigen auch bei einem geregelten Brexit früher oder später der Fall sein wird", erklärt Ursula Nies, Referentin beim BGL in Frankfurt/Main (siehe Kasten unten). Den freien Warenverkehr in der gewohnten Form wird es zwischen der EU und UK nach dem Brexit also nicht mehr geben - abgesehen von etwaigen Sonderlösungen für Nordirland. Noch weiß aber keiner, ob es zum harten No-Deal-Brexit kommt, ob der Austritt mittels Austrittsabkommen durch eine Übergangsfrist abgefedert wird oder ob UK sogar den Brexit wieder zurücknimmt. "Egal, welches Szenario eintritt, für die Betriebe wird es brisant", warnt Nies. "Denn wird der Brexit wirksam, wird es zwei getrennte Zollterritorien geben: das der EU27 und das von Großbritannien." Mit der Folge, dass die EU-Zollbehörden Großbritannien dann wie einen gewöhnlichen Drittstaat behandeln. Für Produkte, die zwischen der EU und UK gehandelt werden, gelten also künftig Ein- und Ausfuhr-Vorschriften, wie man sie im Verkehr mit anderen Drittländern kennt. Entsprechend kommen bei einem Brexit neue Anforderungen auf Transporteure zu, die Großbritannien-Verkehre abwickeln. Welche das sein werden, hängt davon ab, ob und wie der Brexit erfolgen wird. Zoll ist für Abfertigung nicht gerüstet Im Falle eines Transports von Waren zwischen zwei Zollterritorien (EU und UK) unterliegen die Waren im jeweiligen Abgangsland in der Regel noch dem freien Verkehr - daher müssen sie auf diesem Teil der Wegstrecke nicht zwingend einer Zollbehandlung unterzogen werden. "Erst wenn der Frachtführer das Abgangsland verlässt und in das Bestimmungsland einfährt, ist die zollrechtliche Behandlung der Waren zwingend erforderlich", betont Nies. An der Eingangsgrenze muss die Ware dann dem Zoll gestellt und gegebenenfalls auch der Einfuhrverzollung unterworfen werden. Dieser Prozess ist jedoch sehr zeitaufwendig. Auch Nies warnt daher vor langen Lkw-Warteschlangen und Rückstaus an der heute schon sehr stark belasteten Grenze am Ärmelkanal. Denn die Zollbehörden und insbesondere die Infrastruktur an dieser bisherigen EU-Binnengrenze sind für eine Zollabfertigung im großen Rahmen nicht gerüstet. Daher gilt es, den Zollaufwand an der Grenze so weit wie möglich zu reduzieren. "Zu genau diesem Zweck wurden die sogenannten Zollversandverfahren geschaffen", erklärt die BGL-Referentin. Sie verweist hier auf das Carnet-TIR-Verfahren, das alle EU27-Staaten sowie auch Großbritannien gezeichnet haben und das damit bei Wirksamwerden des Brexits sofort genutzt werden kann. Daneben laufen aktuell auch die Vorbereitungen für eine Aufnahme des UK in das gemeinsame Versandverfahren (gemVV) der EU. "Nutzen Sie eines dieser Versandverfahren. Sie vereinfachen damit die Zollabwicklung und helfen so die Grenzen zu entlasten", sagt Nies. Bei Nutzung eines Versandverfahrens werden die Waren schon bei einer Binnenzollstelle des Abgangslandes unter Zollaufsicht gestellt. "An der Grenze zum Bestimmungsland wird dann nur geprüft, ob die Waren noch vollständig sind. Im Bestimmungsland erfolgt der Weitertransport zum Bestimmungszollamt unter Abgabenaussetzung - das heißt die Eingangsverzollung findet nicht an der Grenze statt, sondern bei einer Zollstelle im Binnenland", erklärt Nies. "So reduziert sich der Zeitaufwand an der Grenze ganz erheblich." Zeitaufwand an der Grenze reduzieren Beide Versandverfahren haben ihre Vorund Nachteile. Größter praktischer Nachteil des Carnet-TIR-Verfahrens ist, dass die eingesetzten Lkw in der Regel zollverschlusssicher sein müssen: Das heißt, man muss sie mittels Zollschnur und Plombe so verschließen können, dass ein unberechtigter Zugriff auf die Ware klar erkennbar wird. "Gerade Curtainsider sind oft nicht zollverschlusssicher und können daher unter TIR nicht eingesetzt werden. Aber auch bei anderen Aufbauarten muss im Einzelfall sichergestellt werden, dass ein gültiges Zollverschlussanerkenntnis vorliegt oder vom zuständigen Hauptzollamt erteilt werden kann", warnt Nies. Außerdem ist das Carnet-TIR-Verfahren noch relativ papierlastig und gewährt daher an der Grenze nicht so viel Zeitersparnis wie ein komplett elektronisches Verfahren. Das Carnet-TIR-Verfahren kennt nur wenige verfahrenstechnische Erleichterungen. Das gemeinsame Versandverfahren (gemVV) ist dagegen vollständig digitalisiert. An der Grenze muss nur noch die MRN-Nummer beziehungsweise der Barcode des Versandbegleitdokuments vom Zoll eingelesen werden. Verfügen Versender und Empfänger des Transports im gemVV über die verfahrenstechnischen Erleichterungen "Zugelassener Versender" (ZV) oder aber "Zugelassener Empfänger" (ZE), so kann ein gemVV im Binnenland sogar ohne Anfahren einer Zollstelle abgewickelt werden: Der Zugelassene Versender stellt den Transport dann durch elektronische Meldung unter Zollaufsicht. Ein zugelassener Empfänger kann das Versandverfahren am Bestimmungsort beenden und die Maßnahmen zur Eingangsverzollung einleiten. Zollverschlusssichere Lkw sind im gemVV nicht zwingend nötig, da die Waren in diesem Verfahren auch anders gesichert werden dürfen, etwa über Packstückverschluss. Zollseitige Herausforderungen Denn die Abgabenaussetzung (sprich: der unverzollte Transportanteil im Bestimmungsland) stellt für den Zoll stets ein Risiko dar, weil Waren unverzollt ins Land gebracht werden. Daher sind für die Nutzung von Versandverfahren Zulassungen und Sicherheitsleistungen erforderlich. "Im Carnet-TIR-Verfahren ist der nationale TIR-Ausgabeverband der Zollbürge, in Deutschland also zuallererst der BGL", erklärt Nies. "Dieser Verband führt auch die Vorbereitung der Zulassung von Transportbetrieben zum TIR-Verfahren durch. Schlussendlich ist indes die Zustimmung der Zollverwaltung erforderlich. Der Transportbetrieb hinterlegt für die Zulassung zum TIR-Verfahren nur eine einmalige Sicherheitsleistung. Die Bürgen-Kette der nationalen TIR-Ausgabeverbände haftet dann für jeden einzelnen TIR-Transport bis zu einer Höhe von maximal 100.000 Euro." Im gemVV kann sich ein Transportbetrieb auch selbst als Verfahrensinhaber etablieren. Dazu beantragt er eine Bewilligung bei seinem zuständigen Hauptzollamt. Dabei wird meist zunächst die volle Absicherung des Referenzbetrags durch Sicherheitsleistung verlangt, die später reduziert werden kann, sofern bei der Nutzung des Verfahrens keine Probleme auftraten. Im Carnet-TIR-Verfahren ist stets der durchführende Transporteur selbst der Verfahrensinhaber, der damit auch die Zulassung benötigt. Im gemVV kann dagegen auch ein Spediteur, Versender oder Empfänger Verfahrensinhaber werden und dem selbst nicht zugelassenen Transporteur die Nutzung des Versandverfahrens ermöglichen. So hat das gemVV für Transportbetriebe, die nur zuweilen ins UK fahren, eine geringere Zugangsschwelle - sofern sie einen Partner finden, der selbst Verfahrensinhaber ist und ihnen den Zugang zum Verfahren ermöglicht. Der Brexit stellt aber Transportbetriebe vor weitere erhebliche zollseitige Herausforderungen: So sind laut Nies die Frachtführer bei Verkehren mit Drittländern zur Erstellung der summarischen Eingangs- (ESumA) und Ausgangsanmeldungen (ASumA) verpflichtet. Diese elektronischen Vorab-Meldungen dienen den Zollverwaltungen zur Risikoanalyse. In der EU wurden sie 2011 verpflichtend eingeführt. UK hat schon angekündigt, sie nach dem Brexit ebenfalls zu verlangen. Damit gilt: Bei einem Transport aus der EU27 ins UK muss ein Transportbetrieb eine ASumA an die EU-Ausgangszollstelle richten und eine ESumA an die britische Eingangszollstelle. Bei Transporten in die Gegenrichtung gilt umgekehrt dasselbe. "Unterschätzen Sie nicht den Aufwand", warnt Nies Frachtführer: "Sie müssen die ASumA und ESumA zwingend elektronisch übermitteln. Und: mindestens zwei Stunden vor Eintreffen der Lkw an der Grenze." Neuland für alle Transporteure Eine weitere Hürde ist die Notwendigkeit der elektronischen Übermittlung an Zollbehörden außerhalb des eigenen Landes. Geeignete Online-Formulare gibt es nur von wenigen EU-Zollverwaltungen, und wie sich die Übermittlung im UK darstellen wird, ist offen. In den bestehenden Drittlands-Verkehren delegieren die Frachtführer die Übermittlung der summarischen Anmeldungen daher weitgehend an Dritte. "Arbeiten Sie am besten eng mit Zollagenten - sowohl im Vereinten Königreich, als auch in der EU. Denn alles das ist Neuland für alle Transporteure, die Großbritannien-Verkehre abwickeln", rät Nies. In Großbritannien wüssten aktuell wohl selbst die Zollbeamten nicht genau, wie sie nach einem Brexit das Thema ASumA und ESumA handhaben. "Kommt es zu einem harten Brexit, wird es für Frachtführer ein Wettlauf gegen die Zeit", sagt Nies. Ihre Hoffnung ist, dass die Behörden dann auf beiden Seiten des Ärmelkanals, zumindest in den ersten Wochen nach einem Brexit, mit Augenmaß handeln, bis sich die neuen Abläufe auf allen Seiten eingeschwungen haben. Mehr zum Thema im Dossier Großbritannien www.verkehrsrundschau.de/dossiers Die Serie Der Austritt und die FolgenIn unserer Brexit-Serie befassen wir uns mit den Folgen des Brexits und geben Tipps, wie sich die Unternehmen darauf vorbereiten können.- Teil 1: Die rechtlichen Grundlagen zum Brexit und die verschiedenen Brexit-Szenarien (VR 50)- Teil 2: Wie Unternehmen ihre Verträge an den Brexit anpassen sollten (VR1/2)- Teil 3: Was sich bei der Zollabwicklung verändern könnte könnte (VR 3/4)- Teil 4: Praxishinweise für Unternehmen zum Umgang mit dem Brexit (VR 5) Experten-Tipps Der Brexit-Guide "Zoll"Die wichtigsten Schritte der Zollabwicklung für Lkw-Transportunternehmen - Tipps von Ursula Nies, Referentin beim Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) in Frankfurt/Main.- Frachtführer im Großbritannien-Verkehr sollten sich unbedingt um Zugang zu einem Versandverfahren kümmern.- Wer sich für das Carnet-TIR-Verfahren entscheidet, wendet sich wegen der Zugangsbedingungen zum Beispiel an die regional zuständigen TIR-Ausgabestellen des Bundesverbandes für Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL).- Wer nicht über zollverschlusssichere Fahrzeuge verfügt, etwa Curtainsider einsetzt, und verschlusssichere Fahrzeuge nicht kurzfristig beschaffen kann, kann das TIR-Verfahren grundsätzlich nicht nutzen. In diesem Fall ist das gemeinsame Versandverfahren ( gemVV) Mittel der Wahl. Hier sollte sich der Unternehmer entscheiden, ob er sich selbst als Verfahrensinhaber etablieren möchte (in diesem Fall unter anderem: Antrag beim zuständigen Hauptzollamt stellen, geeignete zertifizierte Atlas-Software beschaffen) oder ob er den Zugang zum gemVV über einen bereits als Verfahrensinhaber etablierten Dritten, zum Beispiel einen Zollspediteur, sucht. Wichtig ist dann: nach geeigneten Partnern suchen und Konditionen klären, insbesondere auch die Modalitäten der Datenübermittlung.- Frachtführer, die sich für das gemVV entscheiden, sollten mit ihren Versendern und Empfängern besprechen, ob diese Zugelassene Versender beziehungsweise Zugelassene Empfänger im gemVV sind. In diesem Fall kann das Versandverfahren eröffnet / beendet werden, ohne dass der Lkw bei einer Binnenzollstelle vorfahren muss. Im TIR-Verfahren besteht diese Möglichkeit nur eingeschränkt.- Im Fall des harten Brexits müssen Frachtführer sich ab 30. März 2019 um die Erstellung und Übermittlung summarischer Eingangs- (ESumA) und Ausgangsanmeldungen (ASumA) kümmern.Für jeden Transport zwischen der EU27 und Großbritannien werden dabei zwei Meldungen erforderlich: an die Zollbehörden der EU und an die Großbritanniens. Erfahrungen aus bestehenden Drittlandsverkehren zeigen, dass die Frachtführer für diese Meldungen üblicherweise die Dienste von Zollagenten in Anspruch nehmen. Hier gilt es deshalb, geeignete Partner in der EU und in Großbritannien zu suchen Für Ausfuhren aus der EU27 erübrigt sich die ASumA, wenn in der elektronischen Anmeldung des Versandverfahrens Bezug auf die Ausfuhranmeldung genommen wird. Wichtig: Ein Transportunternehmer sollte stets die MRN-Nummer der Ausfuhranmeldung beim Ausführer/ Versender erfragen. eh

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