Verantwortung ist nicht delegierbar

Das überbreite Paket liegt quer auf den Gabeln des Staplers. Fix fährt der Fahrer die Last durch das Lager. Die breiten Gänge geben es gewöhnlich her. Doch dieses Mal verengen einige abgestellte Paletten die Durchfahrt an der Regalzeile. Der Stapler wird langsamer. Ein paar Zentimeter noch. Während der Stapler seine Last links an dem Hindernis vorbei führt, drückt sie jedoch rechts gegen eine der Regalstützen. Die Stütze knickt ein und gibt sofort nach: Erst fallen die darüber liegenden Regalfelder ineinander, dann stürzen die zweite und dritte Ebene herab. In Sekundenbruchteilen verliert die Regalanlage ohne deren Traversen ihre Statik und die Regalböden, Stützen, Traversen, Paletten und Lagerwaren prasseln auf den Boden. Ein schwerer Unfall - die wirtschaftlichen Schäden sind immens. Solche drastischen Fälle, bei denen die Folgen von Regalbeschädigungen sofort zu sehen sind, finden sich unter www.youtube. com. In der Regel sind sie aber eher Folge von Langzeiteffekten unbehandelter Kleinschäden. Denn Schäden an der Regalanlage betreffen oft nicht nur das Sichtbare. "Eine Qualitätskontrolle auf verdeckte Schäden wie Haarrisse oder Sprödbruch ist schwierig", urteilt Carsten Rump, Abteilungsleiter Dienstleistungen von Meta-Regalbau und Obmann im Arbeitskreis Regalinspektion des Verbandes für Lagertechnik und Betriebseinrichtungen (LBE) in Hagen. Selbst bei gerichteten Verformungen der herkömmlichen, kaltgewalzten Blechprofile sind die Original-Eigenschaften des Elements verändert - angesichts von mehreren Tonnen Material in den Stellplätzen und Regalanlagen ein erhöhtes Risiko. Ein Versagen des beschädigten Regals kann zeitversetzt stattfinden. "Daher sind die regelmäßigen Sichtkontrollen so wichtig", verdeutlicht LBE-Geschäftsführer Olaf Heptner (siehe Kasten Seite 26). "Schäden der geringeren Gefahrenstufe, die frühzeitig entdeckt werden, lassen sich meist ohne Zeitverlust und mit geringerem Aufwand beheben." Nicht alles, was dem Regal zustößt, erfordert allerdings sofortiges Handeln. Die Beschädigungen und erforderlichen Maßnahmen sind in der DIN 15635, Abschnitt 9.5 (Regeln zur Bewertung von Schäden an Stützen und Aussteifungselementen), kategorisiert. Die Norm unterscheidet bei Schäden an Stützen und Verbänden (Traversen/Holme) von Palettenregalen je nach Beschädigungsgrad zwischen einer grünen, einer orangefarbenen und einer roten Gefahrenstufe. Die jeweiligen Maßnahmen reichen von regelmäßiger Überwachung bis zur Sperrung des Regalabschnitts und unmittelbarer Reparatur. Hauptverursacher von Schäden an der Regalanlage und damit wichtigster Risikofaktor ist zunächst der Stapler. Einer aktuellen Untersuchung des Regalreparatur-Unternehmens ROS Deutschland in Waiblingen zufolge sehen das 75 Prozent der befragten Logistikexperten so. "Daher finden sich die typischen Schäden am Palettenregal an den Frontseiten in null bis zwei Metern Höhe", erklärt Michael Sänger, Leiter Service Center des Regalherstellers Dexion. "In höheren Gefilden wird vorsichtiger ein- und ausgelagert." Da wird zum Beispiel beim Rangieren die Gassenbreite überschätzt und der Stapler rauscht mit dem Heck gegen die Regalstützen oder die Palette verpasst einem der Querträger einen kräftigen Stoß. "Angefahrene Stützen in allen Beschädigungsgraden machen rund 60 Prozent der Schäden an Regalanlagen aus", sagt Albrecht Erbach-Stanzione, Geschäftsführer der Saar Lagertechnik in Bad Soden. Viele Fallstricke bei Schadensbehebung Dazu kommen Schäden an den Holmen, an denen Paletten beim Auslagern hängen blieben und die kaltgewalzten Blechprofile verdrehten. "Zu schnelles oder zu hohes Anheben der Palette im Regalplatz und ein Einlenken, bevor die Palette ausgelagert ist", verdeutlicht Erbach-Stanzione die Ursachen. "Das geht auf Kosten der Diagonalträger, Rahmen und der Fachbodenanker." Die Schäden werden von Verursachern häufig nicht gemeldet und bleiben oft bis zur Kontrolle durch Fachpersonal unbemerkt. Mit gravierenden Folgen. "Das Kernproblem liegt darin, dass besonders die unteren Bereiche der Regalanlage betroffen sind, in denen die Flächenpressung am höchsten ist", erläutert Sänger. "Da summieren sich die Beschädigungen an den Elementen der Anlage und die Auswirkungen auf die Statik des Gesamtsystems." Anfahrschutz an den Regalstützen, Leitplanken und Radstopp-Winkel an und vor der Anlage - unterschiedlichste Präventionsmaßnahmen sollen die Schäden reduzieren und die Sicherheit im Lager steigern. Nicht selten werden sie erst nachgerüstet. Mit tückischen Effekten: "Einerseits verringern sie die Gangbreiten und damit die Rangierräume für die Stapler", weiß Wolfgang Röthig vom technischen Verkauf von Elvedi in Blumberg. "Hinzu kommt der psychologische Effekt: Ist ja alles geschützt, dann muss nicht mehr so genau aufgepasst werden." Auch die konkrete Schadensbehebung hält viele Fallstricke bereit und ist geprägt von unterschiedlichen Beurteilungen und Optionen im Markt. Das fängt bereits mit den Fragen an, wer Schäden der Regalanlage reparieren darf ,und "wie" dies zu erfolgen hat. Die DIN 15635 führt in Abschnitt 9.7.1 "Auswechseln von beschädigten Bauteilen" aus, Reparaturen an beschädigten Bauteilen seien ohne Genehmigung des Lieferanten der Einrichtung nicht zulässig. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) urteilt hingegen, dass auch andere Firmen sie ohne Zustimmung des Regalherstellers durchführen dürfen, wenn der Reparateur garantiert und bescheinigt, dass die Tragfähigkeit des Regals mindestens dem Neuzustand entspricht. Der Nachweis darüber muss durch Berechnung und/oder Versuche geführt werden können. "Außer bei Dach- oder Halle-tragenden Systemen kann theoretisch jeder Reparaturen am Regal selbst durchführen", sagt Röthig. "Aber wenn Bremsbelege am Auto zu wechseln sind, wendet man sich auch an Experten der Fachwerkstatt." Schon die eigenmächtige Neugruppierung der Einlegeböden kann die Statik der Gesamtanlage beeinträchtigen. "Das mag alles fachgerecht sein, aber wer selbst Hand anlegt, kann im Haftungsfall keinen Nachweis über fachgerechte Ausführung und statische Entsprechungen erbringen", sagt Erbach-Stanzione. Reparatur statt Austausch Insbesondere beim Nachweis über die ausreichende Tragfähigkeit werde es im Bedarfsfall brenzlig, meint Rump. "Die Instandsetzungen sind nach Montage- und Bedienungsanleitung des Herstellers auszuführen, ohne die Statik der Anlage zu verändern. Sonst gibt es Haftungsprobleme." Die statischen Berechnungen liegen allerdings beim Hersteller. Und kaum eine Montagefirma wird für die Reparatur, zum Beispiel von geknickten Holmen, die Statik der Gesamtanlage neu berechnen. "Hersteller plädieren daher generell für den Austausch beschädigter Elemente - möglichst durch Originalteile, das stellt die Nachhaltigkeit der statischen Berechnungen sicher", so Rump. Um die Instandsetzungsarbeiten zu erleichtern, bieten manche Hersteller Regale an, bei denen die ersten ein bis zwei Meter der Stützen mit der weiterreichenden Stütze über Flansche verschraubt sind. Im Falle einer Beschädigung lassen sich diese Teile ohne großen Aufwand austauschen. "Ein Stapler hält Rahmen und Traverse, die Verschraubung wird gelöst, das Stützelement herausgenommen, durch das Neuteil ersetzt und dieses verschraubt", führt Erbach-Stanzione aus. "Binnen einer Dreiviertelstunde ist alles fertig und das Lager wieder sicher." Schäden werden nicht immer behoben 13 Prozent der befragten Firmen, so die ROS-Untersuchung, setzen dennoch auf Reparatur statt Austausch. Der überwiegende Teil von ihnen beauftragt dafür ein zertifiziertes und geprüftes Unternehmen. Davon gibt es bundesweit etwa 60 bis 70 herstellerunabhängige Betriebe. Je nach Beschädigung werden bei Reparaturen die Stützen und Querträger mit technischen Hilfsmitteln gerichtet, in ihre ursprüngliche Form zurückversetzt und gegebenenfalls mit additiven Bauteilen verstärkt. So bietet die Firma Klein in Schweinschied ein Reparaturset für beschädigte Regalstützrahmen. Damit werden die defekten Regalstützen gerichtet und dann mit einem verzinkten, vier Millimeter dicken U-Profil stabilisiert. Die Reparatur führt die Firma bei laufendem Betrieb durch. Laut Klein können Lagerbetreiber daher bis zu 80 Prozent der Kosten sparen. Denn Reparatur- beziehungsweise Austauscharbeiten - etwa von Querstreben am Regal - können meist nur im spannungs- oder aber lastfreien Zustand der Schadenstelle erfolgen. Schon bei der orangefarbenen Gefahrenstufe dürfen die Regalfächer nach Entnahme des Lagergutes nicht erneut beladen werden. Bei rot ist der Regalbereich umgehend zu entlasten und zu sperren. Dies ist oft ein Grund für die nachlässige Dokumentation und Instandsetzung von Regalschäden. Angesichts durchschnittlicher Instandsetzungszeiten von zwei bis drei Wochen nach Schadensmeldung kann damit eine Beeinträchtigung des Lagerbetriebs nebst entsprechenden finanziellen Einbußen verbunden sein. Trotz der Verpflichtung zur jährlichen Regalinspektion kommen viele Anlagenbetreiber daher der Auflage nicht nach. "50 bis 60 Prozent der Betreiber umgehen die jährliche Regalinspektion", sagt Sänger. "Es herrscht offenbar wenig Bewusstsein darüber, dass die Geschäftsführung in der Verantwortung steht - und die ist nicht delegierbar." Nicht selten kommt es zudem vor, dass die bei Regalinspektionen ermittelten und aufgezeigten Schäden nicht behoben werden. "Die Inspekteure wissen, dass dort ein Originalteil ersetzt werden muss, aber die Betreiber fragen es nicht ab", erklärt Manfred Mehnert vom Vertrieb der Ohra Regalanlagen in Kerpen. Mitunter finden die Inspektoren Regalanlagen vor, an denen schon mehrere der Gefahren-Farbaufkleber prangen, ohne dass Abhilfe geschaffen wurde. Reparatur hin, Austausch her - egal wie die Entscheidung ausfällt, die führenden Hersteller, Verbände und Versicherungen raten, nach Entdeckung eines Schadens Kontakt zum Hersteller aufzunehmen. Der übernimmt in der Regal eine Expertensichtung und Schadenseinstufung durch Außendienstmitarbeiter und veranlasst die erforderlichen Sicherungsmaßnahmen sowie Reparatur oder den Austausch der beschädigten Elemente durch Montageteams. Nur die wenigsten Hersteller unterhalten dafür noch eigene Mitarbeiter. Die meisten setzen auf verbandsgeprüfte Subunternehmen. Die Dokumentation der Schadensermittlung und -behebung sollten die Betreiber über die gesamte Lebensdauer des Regals aufbewahren. "Regalreparaturen sind von der Prüfung bis zur Instandsetzung regelmäßige, sich wiederholende Prozesse", fasst Rump zusammen. "Die Wege zu mehr Sicherheit im Lager sind nicht sehr lang." Mehr zum Thema im Dossier Lagertechnik und Regale www.verkehrsrundschau.de/dossiers Internet-Tipp Weitere Infos zum Thema finden Sie unter www.verkehrsrundschau.de/dossiers im Dossier der VerkehrsRundschau "Lagertechnik & Regale".- Die Gefahrenstufen bei Schäden an Stützen und Verbänden von Palettenregalen gemäß der Norm DIN EN 15 635.- Die einschlägigen Vorschriften, Regeln und Informationen für Regalinstandsetzungen. eh

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