"Situation untragbar"

Karl Nothegger hat genau Buch geführt. "Am Montag, 14. September, haben unsere Lkw-Züge über 110 Stunden im Stau gestanden", sagt der Seniorchef der gleichnamigen Spedition im österreichischen St. Ulrich. "Das entspricht einem Verlust von zehn Fahrzeugtagen." Wie viele Transportunternehmen war auch Nothegger von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) kalt erwischt worden. Am Sonntag, 13. September, teilte der Politiker mit, dass als Folge der Flüchtlingsströme die Bundespolizei mit sofortiger Wirkung die Grenzen vor allem zu Österreich kontrollieren wird. Jedes Unternehmen mit Verkehren aus diesem Nachbarland muss seitdem mit stundenlangen Wartezeiten rechnen, "Allein am Montag stand jeder Lkw drei bis vier Stunden still", berichtet Nothegger. "In den folgenden Tagen sind die Wartezeiten zwar kürzer geworden, die Situation bleibt aber für uns untragbar." Über Transportpreiserhöhungen will Nothegger jedoch - wohl auch wegen des scharfen Wettbewerbs - "vorerst" nicht nachdenken. Stau bis zu zehn Kilometer Allerdings wird die Konkurrenz genau so in Mitleidenschaft gezogen. Seit dem 13. September vergeht kein Tag ohne Stau an der Grenze. Vor allem in den Morgen- und Abendstunden können die Fahrzeugschlangen wegen der zahlreichen Pendler weit über zehn Kilometer lang sein. Den Transport auf verkehrsärmere Zeiten am Vor- oder frühen Nachmittag zu verschieben, hilft nicht unbedingt weiter. Die Bundespolizei wechselt ihre Taktik täglich und kontrolliert mit wechselnden Schwerpunkten und unterschiedlicher Intensität. "Wir können auch mit einer flexiblen Planung nicht auf allen Strecken die gewohnte Pünktlichkeit garantieren", räumt Axel Spörl, Region Manager von GLS Austria, ein. Außer grenzüberschreitenden Verkehren sind zunehmend auch innerösterreichische Relationen vor allem zwischen Salzburg und Innsbruck betroffen, welche in der Regel über das kleine und große Deutsche Eck geführt werden. Über die vier Autobahnübergänge bei Kufstein, Lindau, Passau und Salzburg hinaus kontrolliert die Bundespolizei längst auch kleinere Grenzübergänge in der Region. Umwege über diese Standorte zahlen sich in der Regel nicht aus. Ohnehin gibt es in vielen österreichischen Regionen Transit- und Nachtfahrverbote für überregionale Verkehre. Aber auch Unternehmen mit Quell- und Zielverkehren in der Region bekommen die Folgen der Kontrollen zu spüren. "Für zahlreiche Zulieferungen aus Österreich müssen wir stark verspätete Abfahrtszeiten kalkulieren", berichtet Richard Dusch, Geschäftsführer der gleichnamigen Spedition in Ainring bei Freilassing. "Hierfür hat nicht jeder Empfänger Verständnis." Auch Duschs Lkw-Züge mussten schon mal bei Fahrten aus Österreich auf den Autobahnübergang bei Salzburg ausweichen, weil der einzige Grenzübergang von Freilassing wegen der Flüchtlingsströme gesperrt war. "Das kostet uns allein wegen des Umwegs viel Zeit", sagt der Spediteur. Probleme bis zum Produktionsausfall Wenn der Flüchtlingsstrom anhält und die EU-Kommission keine Einwände erhebt, werden die Kontrollen weit länger als nur einen Monat dauern und auf zusätzliche Grenzen ausgedehnt. Bereits jetzt kontrolliert die Bundespolizei auch Übergänge an der tschechischen Grenze, wenn auch mit "verminderter Intensität", wie ein Sprecher einräumt. Auch nahezu jeder andere ost- und südeuropäische Staat hat Kontrollen eingeführt. Vor allem Verlader, deren Liefer- und Distributionsketten mehrere Grenzen überqueren, müssen sich auf zusätzliche Verzögerungen einstellen. Auch Unternehmen, die mit Risk-Management-Maßnahmen wie der Entwicklung von Alternativrouten ihre Supply Chains flexibler gemacht haben, könnten dann größere Probleme bis hin zum Produktionsausfall bekommen. In den ersten Tagen sind die meisten Hersteller und Händler mit den Lieferverzögerungen offenbar klargekommen, meldet der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME). Aber es gibt Ausnahmen. So berichtet der Verband von einem Zulieferer der Automobilindustrie, dessen Zulieferstrukturen bereits nach wenigen Tagen zusammenbrachen: Weil er seine Transporte mit Begegnungsverkehren organisierte, wurden die Verspätungen mit jedem Liefervorgang größer. "Viele Unternehmen konnten sich auch wegen der guten Informationspolitik ihrer Dienstleister auf die veränderte Situation gut einstellen", lobt Gunnar Gburek, Bereichsleiter Logistik des BME, die Logistikwirtschaft. Bleibt die Frage, wie lange diese Zufriedenheit anhält. "Spätestens bei der Forderung nach Preiserhöhungen werden die Verlader ärgerlich", schwant es Nothegger. Die Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) pocht deshalb auf weitergehende Erleichterungen wie längere Lenkzeiten, temporäre Aufhebung von Fahrverboten oder um zehn Prozent reduzierte Mautsätze. "Solche Maßnahmen kann die Politik mit einem einfachen Erlass durchsetzen", sagt WKÖ-Geschäftsführer Peter Tropper. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier Stau www.verkehrsrundschau.de/dossiers So wird Kontrolliert Auf das lange Warten im Stau folgen in der Regel keine langwierigen Kontrollen. Die Bundespolizei begnügt sich mit einem kurzen Blick in den Laderaum, berichten Transportunternehmen übereinstimmend. "Auch schwere Lkw werden stichprobenartig kontrolliert", berichtet Günter Fridrich, Prokurist von Lagermax. Vor allem ältere Fahrzeuge mit osteuropäischen Kennzeichen winken die Polizisten den bisherigen Beobachtungen zufolge heraus. Auch Unternehmen, die ihre Flotten ausgeflaggt haben, müssen demnach verstärkt mit Kontrollen rechnen. Entscheidend sei letzten Endes das "Bauchgefühl des Polizisten", sagt ein Polizeisprecher. bot

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