Russlandgeschäft auf Talfahrt

Eckhard Cordes wählte klare Worte. "Die aktuellen Zahlen über den Warenaustausch zwischen Deutschland und Russland übertreffen selbst unsere schlimmsten Befürchtungen. Die negative Entwicklung seit Beginn der Sanktionen bedroht in Deutschland unmittelbar 150.000 Arbeitsplätze", sagte der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft Ende Juni in Berlin. Was Cordes und andere Top-Manager so bestürzte: In den ersten vier Monate des Jahres ist der deutsche Außenhandel mit Russland gegenüber dem Vorjahr um mehr als 30 Prozent auf 16,7 Milliarden Euro zurückgegangen. Die deutschen Exporte brachen sogar um 34 Prozent auf 6,8 Milliarden Euro ein (siehe auch Grafik Seite 21). Der einstige Daimler- und Metro-Manager Cordes bezeichnete die vor einem Jahr als Reaktion auf den Ukraine-Konflikt gestarteten Wirtschaftssanktionen als "zunehmend kontraproduktiv" und fordert den "Einstieg in den Ausstieg aus den Sanktionen". Innerhalb der EU zahle die deutsche Wirtschaft für die Krise mit Abstand den höchsten Preis. Vor allem mittelständische Betriebe in den neuen Bundesländern seien betroffen. Der Ostausschuss hat für einzelne Unternehmen und Branchen die Folgen von Sanktionen und Rubelschwäche ausgeführt (siehe Kasten Seite 19). Leiden müssen Exportzugpferde wie der Fahrzeug- und Maschinenbau. So manch ein Unternehmen fürchtet, dass die Geschäftseinbrüche in Russland nicht von vorübergehender Natur sind: "Die Wirtschaftsbeziehungen Russlands mit Deutschland und der EU schrumpfen, während sich Russland Partnern wie China, Indien oder Südkorea zuwendet", befürchtet Cordes.Gemeinsam mit ihren Kunden müssen auch die deutschen Transport- und Logistikdienstleister zusehen, wie ihr Geschäftsvolumen mit der osteuropäischen Großmacht schmilzt. Ein Beispiel dafür ist der Hamburger Hafen, Drehscheibe für deutsche Exporte wie auch Transshipmenthafen für russische Importe aus aller Welt: Im ersten Quartal wurden zwischen Hamburg und russischen Häfen an der Ostsee insgesamt nur noch 109.000 TEU (20-Fuß-Container) transportiert. Das ist im Vergleich zum Vorjahresquartal ein Minus von 34,8 Prozent. Im Jahr 2014 war Russland mit 660.000 TEU noch der zweitwichtigste Handelspartner Hamburgs im Containerverkehr. Sassnitz spürt die Russland-Krise Auch andere Verbindungen schwächeln: Die Eisenbahnfähre zwischen Sassnitz und dem russischen Ust-Luga fährt erst seit einem Treffen von Wirtschaftsminister Christian Pegel und dem Vizepräsidenten der russischen Staatsbahn zumindest wieder einmal im Monat. Geplant waren zu besseren Zeiten einmal zwei Abfahrten pro Woche. Auch in anderen Transithäfen herrscht Flaute wie im finnischen Kottka, das früher unter anderem ein wichtiger Umschlagpunkt für Fahrzeugexporte war. "Viele Geschäfte sind weggebrochen", sagt Tapio Mattila, Vizepräsident des finnischen Logistikdienstleisters Steveco Oy. Schwerer fällt die Quantifizierung der Mengeneffekte bei den Eisenbahn-Verkehren und im Straßengüterverkehr. DB Schenker Rail bestätigt auf Anfrage lediglich, dass es Auswirkungen der Russland- und Ukraine-Krise auf das Geschäft gebe, ohne nähere Zahlen zu nennen. Und im fragmentierten Lkw-Markt ist eine quantitative Analyse ohnehin schwer möglich. Die Arbeitsgemeinschaft zur Förderung und Entwicklung des internationalen Straßenverkehrs (AIST) berichtet, dass die Transportleistung der Carnet-Tir-Kunden der Organisation in Richtung Russland um 50 Prozent zurückgegangen ist. Einbruch bei den Transportmengen Ulrich Schröder, Geschäftsführer der Loxx Logistics, spricht von zwei Wellen, die zu verkraften waren. "Die erste Welle waren die EU-Sanktionen und die Gegenmaßnahmen der Russen zum Beispiel gegen Agrarimporte. Von dieser Welle sind wir bei Loxx nicht getroffen worden, weil wir diese Güter nicht transportieren", sagt Schröder. Die zweite Welle mit dem Rubelverfall und den geänderten Konsumgewohnheiten der Russen hätten dagegen durchaus Einfluss auf die Mengen gehabt. Loxx transportiert Komplettladungen, Teilladungen und Stückgut unter anderem nach Russland, Kasachstan, Weißrussland, in die Ukraine und ins Baltikum. "Durch den Einbruch bei den Mengen ist deutlich mehr Frachtraum am Markt als normalerweise", hat Schröder beobachtet. Bei Loxx will man jedoch der Versuchung widerstehen, bei den Frachtführern auf Schnäppchenjagd zu gehen. "Wir setzen weiterhin auf unsere Unternehmer, die teilweise schon viele Jahre für uns fahren. So halten wir die Qualität hoch", sagt Schröder. Um die Auslastung möglichst hochzuhalten, ist es dem Loxx-Vertrieb gelungen, unter anderem Beiladungen aus Spanien und Frankreich zu akquirieren. Loxx habe sich trotz der Krise vorgenommen, weiter in Russland aktiv zu bleiben. "Langfristig sind wir optimistisch. Ein stabiles Europa ist nur unter Einbeziehung Russlands möglich", erklärt Schröder, der hofft, dass sich die Sanktionsspirale nicht weiter dreht. "Je länger wir brauchen, um die Sanktionen zu überwinden, desto intensiver schauen sich die Russen nach anderen Beschaffungsquellen um." Dieses Risiko sieht auch Thomas Schleife, Geschäftsführer von Transco Berlin-Brandenburg. "In den letzten 12 Monaten ist viel kaputt gegangen, was in den letzten 20 Jahren aufgebaut worden ist", sagt der Osteuropa-Experte. "Die Probleme werden sich weder in 2015 noch in 2016 lösen lassen." Schleife beobachtet einen deutlichen Preisverfall in den Russland-Verkehren, hervorgerufen durch Überkapazitäten: Weil die Mengen wegbleiben, sind viele russische Lastzüge ohne Beschäftigung. Die Folge: Viele russische Unternehmen versuchen, um jeden Preis in den Markt zu kommen. Noch misstrauen viele westeuropäische Verlader und Spediteure diesen Niedrigpreisen. "Die Masse der Kunden legt Wert auf Sicherheit und Qualität. Doch es gibt auch Hasardeure", sagt Schleife. Wer zu billig einkauft, muss auf Überraschungen gefasst sein. So hat Schleife beobachtet, dass auch schon mal Medikamente zusammen mit Chemikalien verladen wurden, um die Auslastung zu verbessern. Auf der anderen Seite verkaufen die ersten osteuropäischen Transportunternehmen Fahrzeuge und entlassen Fahrer. "Wenn das Geschäft wieder anspringt, wird es möglicherweise nicht genug qualitativ hochwertigen Frachtraum geben", sagt der Geschäftsführer voraus. Momentan schlägt das Pendel noch in die andere Richtung aus. Russische Unternehmen nutzen nach Beobachtungen Schleifes die Möglichkeit, im Anschluss an grenzüberschreitende Verkehre bis zu drei Anschlusstransporte im westlichen Ausland auszuführen, bevor sie wieder nach Russland fahren. Das setzt andere Transportmärkte unter Druck. Polnische Fuhrunternehmen, so Schleife, können bei diesen Kostenstrukturen kaum noch mithalten. Sebastian Jürgens, Geschäftsführer der Lübecker Hafengesellschaft, hat ähnliche Beobachtungen gemacht. Russische Lkw versuchen an Ladung zu kommen, die üblicherweise im Kombinierten Verkehr oder auf dem Feederschiff transportiert wird. Zumindest eines hat sich durch die politischen Spannungen nicht verschlechtert: Weder Transitzeiten noch die Abfertigung an den Grenzen haben nennenswert gelitten. Auch auf der Schiene scheint alles zu laufen wie immer. "Operativ haben wir keine Probleme für Züge nach Russland. Die GUS-Grenzen fertigen alle Züge aus der oder in die EU nach wie vor schnell ab", sagt eine Sprecherin von DB Schenker Rail. Das gilt auch für die Transitzüge nach China. Russische Spediteure leiden besonders Auch wenn deutsche Speditionen unter den Sanktionen und dem Rubelverfall leiden: Für einige russische Spediteure kamen die Sanktionen Russlands einem Frontalzusammenstoß gleich. So hatten sich einige auf den Transport von Fisch aus Norwegen spezialisiert. Vor allem Lachs kam so quer durch Finnland bis nach Moskau. "Von einem Tag auf den anderen standen diese Firmen still", berichtet Alexander Dazjuk vom russischen Verband der Internationalen Spediteure (Asmap). "Sie standen für anderthalb Monate, bis sie sich umorientiert hatten. Als ich nach einiger Zeit nachfragte, hieß es: Alles in Ordnung, uns reichen sogar die Fahrzeuge nicht aus." Laut Dazjuk haben sich die betroffenen Firmen auf Fahrten ins Zentrum und den Süden Russlands verlegt. Gute Kühltransporter seien in dieser Destination jetzt mehr gefragt denn je. Für den Spediteur sei es zweitrangig, ob er im nationalen oder internationalen Verkehr arbeitet, so Dazjuk. Doch vor allem kleinere und mittlere Fuhrbetriebe hätten nicht genug Ressourcen, um sich an neue Bedingungen anzupassen - und müssten zumachen. "Import-Substitution" und "Lokalisierung" sind gegenwärtig die Hauptschlagworte in Russlands Wirtschaftspolitik: Nicht nur in der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie möchte die Kreml-Führung die Eigenproduktion stimulieren, um nun verbotene oder zu teuer gewordene Importe zu ersetzen. Doch das braucht Zeit. "Deshalb wurden Russlands Gegensanktionen auch um ein Jahr verlängert und nicht nur um ein halbes wie diejenigen der EU. Das ist schon nicht mehr Politik, sondern Protektionismus", sagt Vitali Tschernow, Chefredakteur des Seeverkehr-Portals "PortNews" in St. Petersburg. Nach einem Jahr Gültigkeit haben die Gegensanktionen die Importstruktur bei Lebensmitteln kräftig durcheinandergewirbelt: Die Mengen sind um 30 bis 50 Prozent zurückgegangen. Finnland ist laut Zollstatistik nicht mehr zweitgrößter Importeur von Milchprodukten (nach Weißrussland), sondern Argentinien. Die Niederlande haben ihren dritten Platz (nach der Türkei und Ägypten) bei Gemüse an Israel abgegeben. Und Norwegen, 2014 noch größter Fischlieferant, wurde von den Färöer-Inseln und Island abgelöst. Frachtvolumen bricht um ein Drittel ein Auch in Russlands Häfen und an den Grenzübergängen ist die Krise deutlich spürbar: Der Containerverkehr insgesamt ist um 15 Prozent zurückgegangen, der Import sogar um 30 Prozent, berichtet Tschernow. "Beim Frachtverkehr über die russisch-finnische Grenze beträgt das Minus in diesem Jahr 30 Prozent", so Asmap-Vertreter Dazjuk. Er betont allerdings, dass ein Teil dieses Verkehrs nun über günstiger gewordene Häfen der baltischen Staaten laufe. Olaf Metzger, Geschäftsführer der Russland-Tochter des deutschen Logistik-Unternehmens Rhenus, beziffert in einem Interview mit der Moskauer Deutschen Zeitung den aktuellen Rückgang der Russland-Frachten aus Westeuropa auf 33 Prozent. Wirken da die Sanktionen? Vielleicht. Aber russische Wirtschaftspolitiker wie unabhängige Experten führen in seltener Einigkeit den ökonomischen Einbruch vorrangig auf die Halbierung des Ölpreises in der zweiten Jahreshälfte 2014 zurück. Das Lebenselixier der wenig differenzierten russischen Wirtschaft sind nun einmal Petro-Dollars. Als sie nur noch spärlich flossen, ging im Herbst und Winter der Rubel-Kurs in den Keller, begleitet von einem Inflationsschub von 17 Prozent. "Ein effektiver Schaden durch die Sanktionen ist auf russischer Seite kaum zu erkennen", sagt etwa Klaus Horst Philipp, der westeuropäische mittelständische Maschinenbauer in Russland vertritt. Seine Petersburger Firma "Philipp Industrievertretungen" verzeichne sogar "ein gutes Jahr". Andreas Bitzi, Director-Partner der Unternehmensberatung Schneider Group und Leiter ihrer Petersburger Niederlassung, sieht hingegen Zweitrundeneffekte bei den Finanzsanktionen: "Sie betreffen zwar nur wenige große Institute, doch färbt dies auf den ganzen Bankensektor ab. Dass Finanzierungen in Russland jetzt so teuer geworden sind, hat schon auch mit den Sanktionen zu tun." Manches geplante Geschäft wurde deshalb auf Eis gelegt. Positiv: Russland exportiert mehr Die russische Krise entwickelt inzwischen ihre eigene Dynamik: Weil der Rubel jetzt gegenüber Dollar und Euro 45 Prozent schwächer ist als vor einem Jahr, lohnt sich der Export von Gütern mehr denn je. Die russischen Seehäfen melden für die ersten fünf Monate 2015 dann auch einen Anstieg der Export-Abfertigung um 6,3 Prozent auf 218 Millionen Tonnen. Da Russland 16 Mal mehr Frachten - in erster Linie Öl, Ölprodukte und Metalle - exportiert als importiert, gibt es beim Gesamtumschlag ein Plus von 4,4 Prozent. Auch Andreas Bitzi kennt ein Unternehmen, dem es jetzt bedeutend leichter falle, Tanklastwagen für Chemikalientransporte nach Westen zu befüllen. Der russische Absatzmarkt leidet hingegen Not. Ein guter Indikator für Zuversicht und Liquidität der Bevölkerung sind die Verkaufszahlen von Neuwagen: Im Frühjahr lagen sie 30 bis 40 Prozent unter dem Vorjahr. Russlands einst boomende Autobranche steht deshalb mit dem Rücken zur Wand. General Motors war allerdings bisher der einzige Autokonzern, der darauf auf die denkbar radikalste Art reagierte - mit der Schließung seines erst 2008 eröffneten, 300 Millionen US- Dollar teuren Petersburger Werkes. Ein Ende der Ölpreis-Diät ist momentan nicht abzusehen, ebenso eine der gegenseitigen Sanktionen. In Russland nimmt man die Krise dennoch erstaunlich gelassen - und verweist darauf, dass der Einbruch aufgrund der Finanzkrise 2009 noch heftiger war. Ein Preis der wirtschaftlich-politischen Krise ist allerdings die Entfremdung zwischen Ost und West: Auf der russischen Seite verstärkt sich die Burgmentalität, in Europa und Nordamerika ist das Vertrauen in den russischen Markt und Staat erschüttert. Unternehmensberater Andreas Bitzi rechnet deshalb auch mit "psychologischen Folgen", die bleiben, selbst wenn die Sanktionen eines Tages aufgehoben werden: "Das ganze Geschirr, das zerschlagen wurde, lässt sich zwar wieder zusammenkleben. Aber man wird immer sehen, dass es einmal kaputt war." Russland-Krise: Wie deutsche Firmen leiden Schlechte Geschäfte Volkswagen:Die Produktion im Werk Kaluga wurde gedrosselt. Von April bis Juni wurde an 14 Freitagen nicht gearbeitet. Im Werk Nischni Nowgorod (VW, Skoda) wird nur noch an vier Tagen pro Woche produziert. Von Januar bis Mai 2015 lieferte VW 47,2 Prozent weniger Fahrzeuge aus als im Vorjahreszeitraum.Opel:Schließung des Werks in St. Petersburg Ende 2015 und Entlassung von 1150 Mitarbeitern. Sonderbelastungen von 600 Millionen US-Dollar.Knauf:Wegen Kursverfall des Rubels entgeht dem Baustoff-Konzern ein dreistelliger Millionenbetrag. Die Beschäftigtenzahl sinkt von 7000 auf 5200.Rheinmetall:Der Maschinenbau- und Rüstungskonzern fordert vom Bund 120 Millionen Euro Entschädigung für verbotene Russland-Geschäfte.MAN:Die Fertigung am Standort Sankt Petersburg wurde aufgrund der Krise ausgesetzt.FAM:Drei Projekte im hohen zweistelligen Millionenbereich wurden storniert.Deutsche Bahn Industrie:Die Bestellungen sind 2014 um über ein Drittel geschrumpft (laut VDB).Siemens:Der Umsatz auf dem russischen Markt ist um 50 Prozent eingebrochen. Die Partnerschaft zwischen Siemens und der russischen Staatsbahn RZD ist wegen der Krise ins Stocken geraten. hel Aktuelle Lage Wirtschaft schrumpft im ersten Quartal um 2,2 Prozent Russlands über Jahre beeindruckendes Wirtschaftswachstum war schon vor Ausbruch der Krim-Krise erlahmt: 2013 wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur noch um 1,3 Prozent - alle Zeichen standen bereits auf Stagnation. 2014 wurde - wegen des rapiden Verfalls des Ölpreises wie auch des Beginns der Sanktionen - noch ein Miniwachstum von 0,6 Prozent verbucht.Dieses Jahr kippte die Wirtschaft endgültig in die Krise: Im ersten Quartal 2015 schrumpfte die Wirtschaftsleistung um 2,2 Prozent, im Mai um 4,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Besonders heftig litt in diesem Monat mit einem Minus von 8,3 Prozent das verarbeitende Gewerbe. Die russische Eisenbahn RZD verbuchte im Juni einen Frachtrückgang um 3,3 Prozent, im ersten Halbjahr 2015 waren es 1,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr.Für das Gesamtjahr 2015 erwartet das Wirtschaftsministerium einen BIP-Rückgang von 2,8 Prozent. 2016 soll nach der amtlichen Prognose die Wirtschaft wieder wachsen. Viele unabhängige Experten halten diese Vorhersage jedoch für zu optimistisch. ld