Moskau. In Westeuropa sind die absehbaren Sanktionen der EU gegen Russland ein großes Thema – in der russischen Geschäftswelt selbst sieht man das noch recht gelassen. Erstens ist noch nicht aller Tage Abend, zweitens wird üblicherweise heißer gekocht als gegessen, drittens hat man – der Westen dürfte sich wundern – gegenwärtig ernsthaftere Probleme. Dieser Eindruck entsteht jedenfalls, wenn man die Berichterstattung einschlägiger russischer Medien und Internetportale für Logistik und Außenhandel studiert.
Noch viel mehr als das Verhältnis zu Europa besorgt die Logistiker gegenwärtig die wachsende Konfrontation zwischen Moskau und der neuen Regierung in Kiew. Während Moskau die neue Führung nicht anerkennen will, beschuldigt diese Russland, gegen die Ukraine kriegerische Handlungen zu führen. Fast jeden Tag gibt es Meldungen, die befürchten lassen, dass die bisherige enge, fast symbiotische Verflechtung der beiden Volkswirtschaften in Zukunft drastisch schrumpfen wird – selbst wenn es zu keiner russischen Intervention über das Gebiet der Krim hinaus kommen sollte. Seitens der Ukraine wurde bereits von einer möglichen Schließung der russisch-ukrainischen Grenze oder zumindest einer deutlichen Erschwerung ihrer Passage gesprochen.
Umgehung der Ukraine
Ruslan Kiss, Generaldirektor der russischen Logistikunternehmens RLP erklärt deshalb in einem Kommentar auf dem Außenhandelsportal ProVED, dass wohl schon alsbald der Transitverkehr zwischen Russland und Europa die Ukraine umgehen werde. „Selbst wenn die Grenze nicht geschlossen wird, ist es angeraten, wegen der auf den ukrainischen Straßen entstandenen Kontrollposten und der dort anzutreffenden Persönlichkeiten aus Rücksicht auf die Sicherheit von Fahrern und Fracht das unruhige Gebiet zu umfahren“. Kiss empfiehlt den Transit über Weißrussland als inzwischen für die Geschäftswelt berechenbare Alternative. Verlagern werden sich seiner Meinung auch die bisherigen Warentransitströme über die ukrainischen Häfen nach Russland. Schnelles Umdenken erfordert die Lage gegenwärtig auch von russischen Transporteuren, die die Krim bisher über ukrainisches Gebiet ansteuerten: Welche Güter von der Ukraine noch sicher auf die Halbinsel gelangen können, ist gegenwärtig völlig ungewiss.
Angespannte Wirtschaftslage
Ebenfalls als weitaus größere Bedrohung als mögliche EU-Sanktion empfindet die russische Geschäftswelt gegenwärtig die – auch ohne jeden Krim-Konflikt – angespannte Wirtschaftslage. So sind Russlands Importe in den ersten beiden Monaten dieses Jahres gegenüber dem Vorjahr bereits um fünf Prozent auf 36,5 Milliarden Dollar zurückgegangen, teilte die russische Zollbehörde mit. Angesichts des massiv nachgebenden Rubelkurses – im letzten halben Jahr verlor die russische Währung gegenüber dem Euro um 19 Prozent an Wert, nach Ausbruch der Krim-Krise beschleunigte sich der Absturz – verteuern sich gegenwärtig Importprodukte – aber auch Auslandsreisen – für die Bevölkerung deutlich. Das Transport- und Verkehrsvolumen wird also deutlich sinken.
Orientierung Richtung China
Diskutiert wird in den russischen Medien deshalb, inwieweit es der russischen Wirtschaft jetzt möglich ist, die Hauptrichtung ihres Außenhandels von Europa auf China und andere Schwellenländer umzuorientieren – und welche neuen Abhängigkeiten dabei entstehen werden. Ein eventueller Handelskrieg mit dem Westen würde diesen Prozess natürlich beschleunigen.
Stark betroffen wären davon aber auch so manche EU-Staaten, für die der Russland-Transit gegenwärtig ein erkleckliches Business darstellt: So kommen einem Bericht der lettischen Nachrichtenagentur LETA zufolge gegenwärtig 77 Prozent der von der lettischen Bahn beförderten Güter aus Russland oder gehen dorthin. Die im Hafen von Riga umgeschlagene Kohle und Mineraldünger stammen vollständig aus Russland, bei Ölprodukten sind es 70 Prozent. (ld)