"Lieber Schlaglöcher als Funklöcher"

Alle sprechen gegenwärtig von Logistik 4.0. Welche Rolle spielt die Digitalisierung aus Ihrer Sicht im Güterverkehrssektor? Die Digitalisierung verändert den Transport- und Logistiksektor entscheidend. Das hat viele Vorteile: Güterverkehre lassen sich zum Beispiel optimieren, Lieferketten lassen sich dadurch energieeffizienter, intelligenter und sicherer gestalten. Ein aktuelles Stichwort lautet Connected Trucks. Hier besteht eine große europäische Kompetenz. Der Güterverkehr der Zukunft benötigt eine funktionierende digitale Infrastruktur. Lkw-Platooning - also das teilautomatisierte Fahren - klappt nur, wenn die Fahrzeuge mit entsprechenden Sensoren und zuverlässiger Software ausgestattet sind und die Vernetzung reibungslos funktioniert. Die Fahrzeuge sind mitunter bereit für den Autopiloten, aber das Straßenumfeld ist es noch nicht. Woran machen Sie das fest? Wenn ich etwa von Brüssel über Stuttgart, Ulm und Augsburg nach München gefahren werde, weiß ich anhand der Funklöcher genau, wo ich mich gerade befinde. Dasselbe Problem gibt es im grenzüberschreitenden Verkehr sowie in den Nachbarländern. Das liegt daran, dass die Mobilfunk-Frequenzen noch national versteigert werden. Es genügt nicht, dass es keine Zollgrenzen gibt. Konnektivität muss ebenfalls grenzüberschreitend sein. 4G ist heute noch nicht überall die Regel. Um einen digitalen EU-Binnenmarkt zu schaffen, befinde ich mich im regelmäßigen Austausch mit den Kommunikationsanbietern. Es geht um einheitliche Standards. Wir brauchen diesbezüglich mehr Europa. Eine europäische digitale Strategie ist nötig, da jeder der 28 Mitgliedstaaten für sich alleine zu wenig Gewicht hat, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. Wie versuchen Sie die digitale Infrastruktur in der EU von Brüssel aus zu verbessern? Die EU steckt 700 Millionen Euro in die Entwicklung des neuen Mobilfunkstandards 5G, mit dessen Hilfe ab etwa 2020 Datenmengen von bis zu zehn Gigabit pro Sekunde übertragen werden können. Die großen Telekommunikationskonzerne steuern im Gegenzug den fünffachen Betrag bei. Gemeinsam soll nun die neue Technologie grenzüberschreitend getestet werden - zum Beispiel im Benelux-Raum, in Deutschland und Frankreich. Aber auch die Schweiz, die Westbalkanstaaten, Norwegen und die Türkei müssen dabei sein. Unsere Autobahnen enden schließlich nicht an Landesgrenzen. Der Straßentransport ist kontinental. Die EU-Kommission hat zudem kürzlich einen Vorschlag für einheitliche Regeln der Nutzung der schnellen 700-Megahertz-Frequenzen für Mobilfunkdienste vorgelegt. Durch den mobilen Breitbandausbau sollen der Internetzugang für alle Europäer verbessert und die Entwicklung grenzübergreifender Anwendungen erleichtert werden. Nur so lassen sich funktechnische Störungen vermeiden und können innovative Anwendungen wie in vernetzten Fahrzeugen auch europaweit funktionieren. Bisher gibt es mancherorts nicht einmal mobiles Internet mit LTE-Geschwindigkeit. Was muss passieren, damit sich dies ändert? Telekommunikationsunternehmen müssen Milliarden investieren. Es geht vor allem um die Installation zusätzlicher Funkmasten sowie die Modernisierung und Nachrüstung bestehender Funkmasten. In unterversorgten Landkreisen und Kommunen müssen die Mitgliedstaaten die Ausbauprojekte für schnelles Internet fördern, da dort die Marktanreize für die Anbieter nicht ausreichen. Wie steht Deutschland derzeit in puncto Digitalisierung da? Die digitale Revolution ist dynamisch und schnell. Wir haben hier viel Know-how bei den Fahrzeugherstellern und deren Zulieferern. Es wird Ende dieses Jahrzehnts entschieden sein, wer dabei zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern zählt. Wie sehen Sie die Güterverkehrsbranche? Deutsche Transport- und Logistikunternehmen brauchen eine kluge Big-Data-Strategie. Im Güterverkehrsgewerbe kursiert heute eine Fülle von Daten - die der Dienstleister selbst und die ihrer Kunden. Start-ups mit IT-Hintergrund drängen auch in diesen Markt, stellen konventionelle Geschäftsmodelle entlang der Supply Chain infrage und erhöhen den Konkurrenzdruck auf die etablierten Player. Tesla, Uber und Google arbeiten etwa an neuen Mobilitätsdienstleistungen. Wer die Daten hat, der hat künftig die Macht. Wer nicht mehr die Kundenschnittstelle besitzt, gerät aus dem Zentrum der Wertschöpfung heraus. Für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen ist die digitale Infrastruktur wichtiger als die Infrastruktur der Verkehrswege. Diese sollten eher Schlaglöcher als Funklöcher akzeptieren. Der zunehmende Datenverkehr birgt auch Risiken. Stichwort: Cyber Crime. Was tut die EU-Kommission, um für die nötige Sicherheit auf dem Weg zur Logistik 4.0 zu sorgen? Cyber-Security ist entscheidend, um Vertrauen in die digitale Infrastruktur zu schaffen. Datensicherheit und Datenschutz sind wichtig. Gerade im Bereich des Straßengüterverkehrs muss in einem Höchstmaß gewährleistet sein, dass niemand unberechtigt auf sensible Informationen zugreifen kann und wichtige Infrastrukturen stören kann. Deshalb ist im Juli eine neue EU-Richtlinie über Netz- und Informationssicherheit verabschiedet worden, die europäische Strategien zur Bekämpfung von Hackern und anderen IT-Bedrohungen sowie verbindliche Standards in allen Mitgliedstaaten etwa zu den Sicherheitsbestimmungen und Berichtspflichten für Betreiber wesentlicher Dienste im Verkehrsbereich vorsehen. Deutschland ist bei der Umsetzung mit dem IT-Sicherheitsgesetz, das im vergangenen Jahr in Kraft getreten ist, sozusagen Vorreiter in Europa. Derzeit macht es nicht den Anschein, als würde Europa enger zusammenwachsen. Wie bewerten Sie das Brexit-Votum? Ich bin überzeugt davon, dass der Brexit für Großbritannien ein erheblicher wirtschaftlicher und politischer Schaden sein wird. Es wird dort derzeit weniger investiert, weil die Wirtschaftsbeteiligten nicht wissen, wie es weitergeht. Zum Beispiel steht die Frage im Raum, was die Schotten machen. Welche Einschnitte erwarten Sie für die deutsche Wirtschaft? Es gibt heute viele Unternehmen, die in Großbritannien produzieren. Fraglich ist derzeit, ob es künftig weiterhin möglich ist, Waren ohne Zölle und ohne größere Bürokratie nach Europa einzuführen. Umgekehrt ist Großbritannien für die deutschen Autohersteller der wichtigste Absatzmarkt innerhalb der EU. Allein die Unsicherheit, die in den nächsten Jahren besteht, schadet allen, die exportieren und importieren, und wird Investitionen bremsen. Darüber hinaus leben die Logistiker und Transporteure in Deutschland vom internationalen Handel und davon, dass es offene Märkte gibt. Ich erwarte deshalb vor allem von deutschen Unternehmern mehr Unterstützung für die Stärkung der EU. Die neue britische Premierministerin Theresa May sagt, die Verhandlungen über den geplanten EU-Austritt des Vereinigten Königreichs würden nicht vor 2017 beginnen. Wäre es ihnen kurz und schmerzlos lieber? Wir dürfen Großbritannien nicht abstrafen. Es darf auch keine Rosinenpickerei geben. Den Zeitplan gibt London vor. Die britische Regierung muss einen Brief nach Brüssel senden und die Trennung gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags beantragen. Sie haben zuletzt mehrfach betont, dass Sie das Projekt Europa zunehmend in Lebensgefahr glauben. Weshalb? In anderen Mitgliedstaaten der EU könnten Rechtspopulisten auf die Idee kommen, dem Brexit nachzueifern. Das macht mir etwas Sorge. Aber ich bin mir sicher, die Argumente für einen europäischen Binnenmarkt sind so überragend, dass niemand ernsthaft daran zweifeln kann. Und ich denke, die Menschen in Frankreich oder den Niederlanden sind klug genug, zu wissen, dass sie noch mehr als die Briten auf diesen angewiesen sind. Das gilt auch für den Transport- und Logistiksektor. Ein Beispiel dafür ist der Hafen Rotterdam, der stark vom Umschlag von Gütern lebt, die aus Deutschland in alle Welt verschifft werden sollen oder für den deutschen Markt bestimmt sind. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier EU-Kommission www.verkehrsrundschau.de/dossiers Vita Günther Oettinger Günther Hermann Oettinger (62) ist seit 1974 Mitglied der Christlich Demokratischen Union (CDU). Der studierte Jurist begann seine berufliche Laufbahn 1984 als Rechtsanwalt bei einer Steuerberatungs- und Anwaltskanzlei, in der er bis 2005 tätig war. Die politische Karriere startete Oettinger in Ditzingen. In seiner Heimatstadt gründete er 1977 einen Ortsverband der Jungen Union und leitete zwischen 1977 und 1983 als Vorsitzender die örtliche CDU. Auf Landesebene wirkte Oettinger seit 1984: Zunächst war er Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg (bis 2010). 1991 übernahm er das Amt des CDU-Fraktionsvorsitzenden im Landtag von Baden-Württemberg, an deren Spitze er 14 Jahre lang stand (bis 2005). Bundespolitische Bedeutung erlangte er nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg (2005-2010). Bevor er 2014 in Brüssel das Amt des EU-Kommissars für digitale Wirtschaft und Gesellschaft antrat, war er fünf Jahre lang EU-Energiekommissar. ag

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