Kommt der Abschied vom Frachter?

Sie könnten bald eine Seltenheit auf deutschen Startbahnen werden: reine Frachtmaschinen, für den Laien vor allem an den fehlenden Fenstern zu erkennen. Denn in der Luftfrachtbranche findet derzeit ein Umbruch statt: Immer mehr Airlines schaffen die sogenannten Vollfrachter ab. So hat die Fluggesellschaft British Airways schon im vergangenen Jahr bekannt gegeben, dass ihre Tochter IAG Cargo Ladungen künftig nur noch im Unterdeck von Passagiermaschinen befördern wolle. Bei Finnair Cargo wurde dieser Schritt ebenfalls vollzogen und Air France-KLM-Martinair Cargo, einer der größten europäischen Anbieter, hat seine Flotte zuletzt sogar halbiert. Die Diagnose scheint eindeutig: Viele Airlines in Europa stoßen ihre Frachter ab oder steigen sogar ganz aus dem Cargo-Geschäft aus. Wenn überhaupt, werden Sendungen als Beifracht im Unterdeck von normalen Passagiermaschinen (Fachwort: Belly) befördert. Experten erwarten, dass sich diese Entwicklung fortsetzt. "Main-Deck-Kapazitäten zu finden, sprich auf dem Hauptdeck von Frachtern, wird für Spediteure schwieriger", erwartet Dirk Steiger, President der Triple A, Hong Kong, einer auf die Luftfahrtbranche spezialisierten Unternehmensberatung. Zu den wenigen Ausnahmen gehören laut dem Marktkenner die weltweiten KEP-Dienste UPS, DHL oder FedEx, die weiter Frachter einsetzen oder sogar ihre Flotte ausbauen. Dass immer weniger reine Frachtmaschinen über den Wolken unterwegs sind, hat viele Gründe: Zum einen läuft das Geschäft mit Luftfracht insgesamt nicht rund. Während Airlines um die Jahrtausendwende im Schnitt noch 12 Prozent ihres Umsatzes mit Fracht machten, ist der Anteil mittlerweile auf acht Prozent abgesackt. Die Cargo-Auslastung liegt bei mageren 45 Prozent (in der Passage sind es 80 Prozent); allein dieser Wert wäre in vielen anderen Branchen das Signal, aus dem Markt auszusteigen. Konkurrenz durch Passagierflugzeuge Dass die Nachfrage nach Luftfracht so gering ist, liegt am Preisverfall bei vielen Produkten. "Oft lohnt sich Luftfracht einfach nicht mehr", erklärt Steiger. Das beste Beispiel ist Unterhaltungselektronik: Ehemals teure Flachbildschirme sind mittlerweile für wenige Hundert Euro zu haben und bei diesem Preisniveau sind die Kosten eines Lufttransports nicht zu rechtfertigen. Zur allgemeinen Nachfrageschwäche kommt, dass neue Passagierflugzeuge den Frachtern Konkurrenz machen: Das Modell 777 von Boeing etwa kann 25 Prozent mehr Ladung im Unterdeck transportieren als eine 747 - bei der gleichen Anzahl von Sitzplätzen. Vor allem die europäischen Cargo-Airlines verkleinern deshalb ihre Flotten. Diese Entwicklung wird auf lange Sicht das Geschäft der Dienstleister beeinflussen. "Es ist denkbar, dass die Frachter nur noch auf den großen 'Rennstrecken' eingesetzt werden - und auf entlegeneren Routen gar keine Kapazitäten mehr vorhanden sind", warnt Reinhard Lankes, Geschäftsführer des Fachausschusses Luftfrachtspedition beim DSLV, Berlin. Branchenexperte Steiger schließt sich dieser Prognose an: "Es wird auf vielen Relationen nicht mehr die Auswahl zwischen mehreren Anbietern geben, daneben wird die Zahl der Verbindungen pro Woche sinken." Freilich trifft diese Entwicklung nicht alle Luftfracht-Spediteure gleichermaßen. Denn 85 bis 90 Prozent der gesamten Tonnage können auch von Passagierflugzeugen befördert werden. In diesem Segment können Spediteure sogar tendenziell auf mehr Kapazitäten zugreifen, weil zum Beispiel die Airlines aus den Golfstaaten ihre Streckennetze ausbauen. Schwieriger wird das Leben nur für jene Dienstleister, die den Laderaum eines Frachters zwingend benötigen, zum Beispiel, weil sie Dinge befördern, die höher sind als die Decke im Belly, also rund 1,60 Meter. Daneben gibt es einige Waren, die schlichtweg nicht in Passagiermaschinen mitfliegen dürfen, wie zum Beispiel Lithium-Ionen-Akkus (wegen einer möglichen Explosionsgefahr). Fazit: Wer sich als Spediteur auf Großvolumiges spezialisiert hat, könnte Schwierigkeiten bekommen, eine Maschine für seine Sendung zu finden. Darüber hinaus werden vermutlich auch die Gewinnmargen sinken, denn in Passagiermaschinen lässt sich Fracht nicht so gut konsolidieren wie auf dem Main-Deck. Spediteure müssen Preismodelle prüfen Absehbar ist auch, dass die Airlines den knapperen Frachtraum teurer verkaufen. Im Zuge dessen werden die Dienstleister wohl auch über neue Preismodelle nachdenken müssen. "Die alte Praxis, Fracht nur nach Kilogramm zu bepreisen, ist nicht haltbar", meint Steiger. Die Frage ist, ob es den Spediteuren gelingen wird, die höheren Kosten an die Verlader weiterzureichen. Wer könnte von dieser Entwicklung profitieren? Einige Experten sehen die sogenannten Integratoren wie DHL im Vorteil, schließlich betreiben sie ihre Frachterflotten weiter. Mancher Verlader wird auf der Suche nach Zuverlässigkeit dem Hausspediteur Lebewohl sagen und zu den Integratoren wechseln, so die Erwartung. Andere Branchenkenner sind skeptisch. "Bei KEP-Diensten passt das nicht ins Portfolio, sie sind stark bei standardisierten Sendungsgrößen und Abläufen - nicht bei großen Einzelladungen", meint Lankes vom DSLV. Er rechnet auch nicht mit einer stärkeren Verschiebung in Richtung Seefracht, weil die Zielorte, etwa in der Ölindustrie, nicht immer an einem Hafen lägen. "Die Entwicklung spielt eher den Charter-Anbietern in die Hände", vermutet Lankes. Werden reine Frachter auf lange Sicht womöglich aussterben? Sicher nicht, denn die Vorteile der Maschinen bleiben bestehen, allen voran die Flexibilität. Ein Beispiel aus der Praxis: Der Luftfrachtspediteur bekommt überraschend einen Auftrag herein. Ein Kunde will eine 30.000-Kilogramm-Ladung kurzfristig von einem mittelgroßen Airport in China ausfliegen lassen. Doch der Frachter steht schon in Shanghai. In diesem Fall kann es sich lohnen, den Flug kurzfristig umzuleiten, damit die Fracht noch an Bord genommen werden kann (Fachwort: Diversion). Solche Aufträge wären mit Passagiermaschinen nicht möglich. Allerdings könnte für die Frachter die Luft in Zukunft noch dünner werden, denn über der Branche schwebt das Damoklesschwert eines gigantischen Schadensersatzprozesses. 2010 hatte unter anderem die EU die Lufthansa und weitere Airlines für schuldig befunden, illegale Preisabsprachen getroffen zu haben. Im Januar nun haben BMW, der Autozulieferer Continental und die Deutsche Bahn angekündigt, dafür einen Schadensersatz einklagen zu wollen - von so ziemlich jeder namhaften Airline weltweit. Im Raum steht eine Summe von fast drei Milliarden Euro. Sollten die Prozesse Erfolg haben, wäre das ein schwerer finanzieller Schlag für die ohnehin schon schwache Luftfrachtbranche. "Die Airlines könnten ihre Aktivitäten weiter zurückfahren oder gar komplett abgeben", erwartet Steiger. Doch es gibt auch positive Signale. Insider weisen darauf hin, dass einige Airlines schon darüber nachdenken, angesichts der niedrigen Treibstoffpreise eingemottete Frachtmaschinen zu reaktivieren. Wenn sie in Hangars geparkt waren (und nicht, wie teilweise üblich, auf US-amerikanischen Wüstenflughäfen), könnten diese alten Frachter bald wieder starten - und wieder für mehr Laderaum am Himmel sorgen.