Kann Amazon fresh?

Lange war darüber spekuliert worden, jetzt ist es offiziell: Amazon Fresh startet - nach Berlin im Juni und Hamburg im Juli - auch im Süden Deutschlands. Aus 300.000 Produkten können Amazon-Prime-Kunden in München wählen. Geliefert werde von Montag bis Samstag. Wer in München bis mittags bestellt, erhalte seine Lieferung bis zum Abendessen, sichert das Unternehmen seinen Prime-Kunden zu. Bestellungen bis 23 Uhr werden auf Wunsch am nächsten Tag in einem gewählten Zwei-Stunden-Zeitfenster von 8 bis 22 Uhr zugestellt. Auf Kundenwunsch könne die Lieferung auch zwischen 5 und 22 Uhr an einem geschützten Ort abgegeben werden. 9,99 Euro im Monat bezahlen Prime-Mitglieder für den Service im Stadtgebiet München - mit unbegrenzter Anzahl an Gratis-Lieferungen bei einem Mindestbestellwert von je 50 Euro. Und als Zusatz-Schmankerl können sich Kunden in München und Berlin auch eine Auswahl von Produkten binnen einer Stunde oder innerhalb eines wählbaren Zwei-Stunden-Fensters liefern lassen. Während Amazon Fresh vor wenigen Wochen seinen Lieferservice in den USA in neun Bundesstaaten in Teilen aufgegeben hat, gibt das Unternehmen in Deutschland also mächtig Gas. Und das gerade auf dem deutschen Lebensmittelmarkt, der als härtester Markt Europas gilt. Denn Verbraucher zahlen hier für Lebensmittel nicht nur die niedrigsten Preise, sondern haben auch die höchsten Qualitätsansprüche. Andererseits locken in Deutschland auch mächtige Umsatz- und Wachstumspotenziale: Bei 200 Milliarden Euro soll der Umsatz im Lebensmittelsegment liegen, sagt eine Studie der Beratung McKinsey aus dem Jahr 2015. Nur rund 0,5 Prozent (2016) davon werden bislang online gekauft. Schon im Jahr 2020 jedoch, schätzen die McKinsey-Experten, soll der Online-Anteil im Lebensmittelsegment bei fünf Prozent liegen. Das wären zehn Milliarden Euro Umsatz. Grund genug also für viele, auch für Amazon Fresh, in dieses Segment zu streben. Allerdings haben sich auch in den vergangenen Jahren immer wieder, etliche Unternehmen die Finger in diesem Geschäft verbrannt: Fresh Parcel schon vor etlichen Jahren, im Jahr 2016 gab der Lebensmittel-Lieferdienst Bonativo von Rocket-Internet auf; Emmas Enkel wurde an Metro verkauft, selbst Discounter-Größe Lidl zog soeben die Reißleine und stampfte sein Online-Lebensmittel-Sortiment weitgehend ein. Fakt ist: E-Food-Logistik ist kostenintensiv, auch weil im sensiblen Segment der Lebensmittel die gesetzlichen Vorgaben hoch sind. Die durchgängige Kühlkette bei gekühlten und tiefgekühlten Produkten und hohe Hygienevorschriften sind nur wenige Beispiele. Sieben bis 15 Euro Kosten müssen pro Zustellung gedeckt werden, anders funktioniert das nicht, haben Logistiker ausgerechnet. Kein Zuckerschlecken also - zumal die Preise und die dadurch erzielbaren Margen im deutschen Lebensmittelsegment niedrig sind. Völlig neue Denke für Amazon Stellt sich nur die Frage: Kann Amazon frisch? Immerhin erfordert dieser Service für das Unternehmen eine völlig neue Denke und Herangehensweise. Der Erfolg Amazons basiere bislang auf seiner schieren Größe, den immensen Mengen, die das Unternehmen durch sein System schleuse, sowie auf seinen zentralen und standardisierten Strukturen, erklärt Logistikexperte Christoph Kuntz, Chef der Beratung Prolog in Landau. "Amazon Fresh dagegen ist lokal. Das ist Neuland für Amazon. Damit begebe sich das Unternehmen auch auf relativ dünnes Eis, denn lokal könnten auch andere. Das lokale Geschäft, so Kuntz, erfordere nicht nur ein anderes Konzept, sondern auch eine andere Software und andere Organisationsstrukturen. Viele Themen ließen sich dann nicht mehr zentral steuern, meint Kuntz. Einen Salatkopf könne man weltweit eben nicht zentral einkaufen, sagt er und lacht. Trotzdem ist er sicher: "Amazon wird auch Frische können." Aber einfach wird das nicht. Um das Ganze betriebswirtschaftlich zu machen, müssen viele Parameter passen, etwa die Bevölkerungsdichte (Stichwort Stoppzahl), die flache Topografie der Stadt und natürlich die Immobilie, etwa in punkto Stellfläche für die Anliefer-Lkw und zulässige Anlieferzeiten (Stichwort innerstädtische verkehrliche Restriktionen). Und dies seien, betont Kuntz, nur einige wenige Beispiele, die beachtet werden müssen. Letztlich kämpfe also Amazon Fresh mit den gleichen Problemen, sagt er, die jedes Unternehmen in diesem Fall hätte. Nur mit dem Unterschied, dass anderen Firmen irgendwann das Geld ausgehen würde. Vielleicht aber spart Amazon schon bald an anderer Stelle Geld ein - Stichwort Zustellung letzte Meile. Noch setzt Amazon Fresh auf externe Dienstleister wie GO! und Interkep in Berlin und deutsche Post DHL in München. Doch Amazon holt jetzt, wie kurz vor Redaktionsschluss bekannt wurde, auch sein Konzept "Amazon Flex" nach Deutschland. Amazon Flex ist ein uber-ähnlicher Paketdienst. Sprich: Privatleute werden zu Paketboten. Vorteil für Amazon sind niedrigere Kosten, vor allem Flexibilität, wenn in Spitzenzeiten Fahrer fehlen. Amazon Flex basiert auf dem Ansatz von Crowddelivery, einem Ansatz, mit dem Uber hierzulande für massive Konflikte im Taxigewerbe gesorgt hatte. Ob und wie sich Amazon von diesem Konzept abgrenzt, ist bislang nicht bekannt. Es wird aber gemunkelt, dass Amazon und Uber zusammenarbeiten sollen. Doch das sind Gerüchte. Ein Amazon-Sprecher hat dies auf Anfrage dementiert. Knackt Amazon den Lebensmittelmarkt Spannend wird unabhängig davon sein, wie Amazon die Zustellung durch Privatleute versicherungsrechtlich lösen will, welche Voraussetzungen die privaten Paketboten erfüllen müssen und ob diese auch gekühlte und tiefgekühlte Lebensmittel ausliefern werden - Stichwort durchgängige Kühlkette. Viele Fragen sind also offen. Fragen, zu denen Amazon-Fresh-Deutschland-Chef Fritz Baumgartner vor Redaktionsschluss nicht zu sprechen war. Wir werden sehen, ob Amazon tatsächlich über kurz oder lang den deutschen Lebensmittelmarkt erfolgreich knackt und damit einmal Geld verdient. Oder ob das Ganze wieder nur eine weitere Idee des US-Giganten ist, wie manche vermuten, um an Endverbraucherdaten zu gelangen. Das aber ist eine andere Geschichte. Mehr zum Thema im Dossier "Lebensmittellogistik" www.verkehrsrundschau.de/dossiers

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