Insolvenzrisiko Scheinselbstständigkeit

Die Touren beginnen in den frühen Morgenstunden und enden meist spät abends. Bis zu zwölf Stunden täglich, vor Weihnachten können es auch 14 Stunden werden, sechs Tage die Woche. Über zehn Millionen Pakete liefern sie durchschnittlich jeden Werktag aus. Die Bezahlung ist mies. Paketfahrer berichten im Fernsehen anonym von Knebelverträgen und ausstehenden Zahlungen. Die negativen Schlagzeilen reißen nicht ab. Große Player wie Hermes, GLS oder DPD wollen von solchen Praktiken angeblich nichts wissen. Die Konzerne arbeiten mit Subunternehmern zusammen, die oft wiederum selbstfahrende Paketboten mit der Auslieferung beauftragen. Bezahlt wird pro zugestelltes Paket. Sozialversicherungsbeiträge führt der Auftraggeber nicht ab. Schließlich ist der Paketbote selbstständig. Das spart Kosten. Zusammenarbeit ist häufig zu eng Doch diese Praxis birgt hohe Risiken. Häufig sind die Fahrer so eng in die Arbeitsorganisation der Transportunternehmen eingegliedert und an deren Weisungen gebunden, dass Sozialgerichte Scheinselbstständigkeit feststellen. Wer Pakete zu festen Zeiten abholen, festgelegte Touren fahren, zur Dokumentation die Scanner des Auftraggebers nutzen, dessen Arbeitskleidung tragen und sich an dessen Verhaltensregeln halten muss, ist nicht selbstständig, sondern eigentlich abhängig beschäftigt, entschied das Sozialgericht Dortmund (siehe Kasten auf Seite 44). Besonders für Auftraggeber hat solch ein Richterspruch unangenehme und vor allem teure Folgen. Sie müssen die vollen Beiträge für Renten-, Arbeitslosen-, Pflege- und Krankenversicherung nachzahlen - sowohl den Arbeitgeber als auch den Arbeitnehmeranteil, rückwirkend für bis zu fünf Jahre. Wurden die Beiträge vorsätzlich vorenthalten, verjähren Nachforderungen erst nach 30 Jahren und es drohen strafrechtliche Konsequenzen. "Diese Nachforderungen sind oft existenzgefährdend", weiß der Brühler Rechtsanwalt Michael Felser. Sie werden auf Basis der Rechnungsbeträge ermittelt und meist mit Säumniszuschlägen in Höhe von zwölf Prozent verzinst. "Scheinselbstständige zu beschäftigen, wird zum Insolvenzrisiko", warnt der Kanzleiinhaber. Bei einem Jahresentgelt von 30.000 Euro für einen Frachtführer addieren sich die Beiträge zu den Sozialversicherungen auf circa 12.000 Euro, rechnet der Gesamtverband Verkehrsgewerbe Niedersachsen (GVN) vor. Muss ein Transportunternehmer für vier Jahre nachzahlen, sind das bereits 48.000 Euro plus Säumniszuschläge. Bei mehreren Scheinselbstständigen kommen schnell sechsstellige Beträge zusammen. Selbstfahrer haften ebenfalls Für die Selbstfahrer sind die Konsequenzen weniger drastisch: Sie haften maximal drei Monate rückwirkend für nicht gezahlte Beiträge. Besteht das Beschäftigungsverhältnis fort, darf der Betrieb die Arbeitnehmeranteile an den Sozialversicherungsbeiträgen der letzten drei Monate vom Gehalt abziehen. Meist wird der ehemals selbstständige Fahrer zum Angestellten mit Anspruch auf Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Kündigungsschutz. Scheinselbstständige klagen ihren Arbeitnehmerstatus häufig vor Gericht ein. Bekommen sie recht, müssen Transportunternehmen die gesamte Vertragsbeziehung als Arbeitsverhältnis neu abrechnen und auch die Lohnsteuer nachzahlen. Dem nun angestellten Fahrer erstattet das Finanzamt im Gegenzug die gezahlte Einkommensteuer. Hat dieser als Selbstständiger freiwillig Beiträge an eine gesetzliche Krankenkasse entrichtet, bekommt er auch diese zurück. Beide Parteien müssen darüber hinaus ihre Umsatzsteuererklärungen und -voranmeldungen berichtigen und gegebenenfalls Vorsteuer an das Finanzamt zurückzahlen. Der Fahrer ist verpflichtet, seine Rechnungen zu korrigieren, da er keine Umsatzsteuer hätte ausweisen dürfen. Auftraggeber können die zu Unrecht gezahlte Umsatzsteuer von ihm zurückfordern. Keine festgeschriebenen Kriterien Angesichts solcher Risiken ist äußerste Vorsicht geboten: "Die Rentenversicherung Bund hat ein Interesse daran, viele Beitragszahler zu haben. Ihre Prüfer entscheiden daher oft, dass eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt", weiß Rechtsanwalt Felser aus Erfahrung. Nahezu jeder Kurier-, Transportunternehmer oder Spediteur lagert Touren an Subunternehmer aus. Werkverträge mit selbstständigen Frachtführern sind übliche Praxis. Auch wenn die Vertragspartner schon jahrelang zusammenarbeiten und Betriebsprüfer bisher nichts zu beanstanden hatten, sind Auftraggeber nicht auf der sicheren Seite. Anzeigen von Fahrern, aber auch von Wettbewerbern, Kontrollen des Zolls und Betriebsprüfer, die neben der Lohn- nun auch verstärkt die Finanzbuchhaltung der Firmen durchforsten, bringen den Stein ins Rollen. "Auch wenn sich selbstständige Fahrer freiwillig rentenversichern möchten oder ein Fragebogen ins Haus flattert, mit der Bitte, fehlende Versicherungszeiten zu ergänzen, prüfen die Beamten, ob vielleicht eine Scheinselbstständigkeit vorliegt", sagt der Experte. Einen gesetzlichen Kriterienkatalog oder eine Checkliste, womit Spediteure feststellen können, ob ihre Subunternehmer als echte Selbstständige durchgehen, gibt es leider nicht. Für die Betroffenen verwirrend und ärgerlich ist, dass die beteiligten Behörden zum Teil ganz unterschiedlich urteilen. So gibt es Fälle, wo das Finanzamt oder sogar ein Finanzgericht den Kraftfahrer als Selbstständigen einstuft, auch das Arbeitsgericht seine Unternehmereigenschaft bestätigt und Krankenkasse sowie Rentenversicherung trotzdem darauf bestehen, dass der Fahrer abhängig beschäftigt ist. Auf Rahmenbedingungen achten Um sich Ärger und teure Rechtsstreitigkeiten zu sparen, rät Felser Transporteuren auf Nummer sicher zu gehen, wenn sie mit Selbständigen zusammenarbeiten. "Alle Fahrer sollten ein eigenes Fahrzeug haben und eigene Mitarbeiter beschäftigen." Dies könne auch die eigene Ehefrau sein, sofern sie mehr als 450 Euro im Monat verdiene. Auftraggeber sollten sich jährlich nachweisen lassen, dass der Subunternehmer Angestellte beschäftigt. Dann gehe auch die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) von einer Selbstständigkeit aus. Wichtig sei immer der Einsatz des eigenen Lkw, kommentiert der GVN ein aktuelles Urteil des Sozialgerichts Stuttgart (siehe Kasten links). "Jeder Unternehmer muss wissen, dass für Sozialversicherungsträger selbständige Kraftfahrer ohne eigenes Fahrzeug nicht existieren", sagt der Hauptgeschäftsführer und Leiter der GVN-Rechtsabteilung Benjamin Sokolovic. Darüber hinaus gilt die Regel, alles zu vermeiden, was einer typischen Arbeitnehmertätigkeit ähnelt. Der Selbstständige darf keine Weisungen erhalten und muss Auftraggeber, Arbeitszeit, -ort und -pausen frei wählen können. "Einzelaufträge sind besser als Rahmenverträge", empfiehlt Felser. "Diese kann ein Fahrer auch ablehnen, was ein Indiz für seine Selbstständigkeit ist." Darüber hinaus sollten Betriebe mit ihren Frachtführern keine monatlichen Pauschalen oder Stundensätze vereinbaren, sondern das Entgelt pro Auftrag aushandeln. Der Rechtsanwalt räumt zudem mit einem Gerücht auf: "Es ist nicht ausschlaggebend, wie viele Auftraggeber ein Selbstständiger hat. Die Prüfer nehmen jeden Auftrag unter die Lupe." Im einen Vertragsverhältnis könne der Fahrer selbstständig sein, im anderen scheinselbstständig. Auch wer nur für einen Spediteur fährt, kann selbstständig und sein. Anhaltspunkte für Fehlkonstruktionen Heikel wird es, wenn der Subunternehmer kein klassischer Frachtführer mit Güterkraftverkehrserlaubnis ist. Beschäftigt solch ein Selbstfahrer keine Mitarbeiter und ist auf Dauer nur für einen Kunden tätig, stufen die Prüfer diesen schnell als rentenversicherungspflichtigen "arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen" ein. "Anders als bei der Scheinselbstständigkeit haftet hier der selbstständige Fahrer selbst für rückständige Beiträge und nicht der Auftraggeber", erklärt Felser das Risiko. Viele Subunternehmer ziehen dann vor Gericht. "Die Rechtsprechung macht diesen Typus Fahrer häufig zum Scheinselbstständigen. Dann muss der Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen." Für relative Sicherheit sorgt ein Statusfeststellungsverfahren bei der DRV Bund. Aber nur vor Aufnahme oder im ersten Monat der Selbstständigkeit, nicht im laufenden Beschäftigungsverhältnis, mahnt Felser. Sonst wird es teuer, sollte die Behörde zu dem Schluss kommen, dass der Fahrer nicht selbstständig war. Besser ist es, sich rechtlichen Rat vom Fachmann zu holen. Denn der Bescheid der DRV gilt nur für den jeweiligen Beförderungsauftrag. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier Arbeitsrecht www.verkehrsrundschau.de/dossiers Praxishilfe Diese Indizien deuten auf eine Scheinselbstständigkeit -> unmittelbare Weisungsbefugnis des Auftraggebers-> feste Arbeitszeiten durch verpflichtende Abhol- und Lieferzeiten sowie vorgegebene Tourenplanung-> Reporting- und Nachweispflichten-> Eingliederung in die Arbeitsprozesse und Infrastruktur des Auftraggebers-> Nutzung der Betriebsmittel des Geschäftspartners (Fahrzeug, Scanner, Berufskleidung, Formulare etc.)-> kein erkennbares unternehmerisches Risiko (Betriebsmittel, Haftung etc.)-> der Selbstständige war zuvor fest im Betrieb angestellt-> kein eigener Unternehmensauftritt (Werbung, Buchführung, Geschäftsräume)-> feste monatliche Bezüge-> Erstattung von Fahrtkosten-> Urlaubsanspruch sah Rechtsprechung Das gilt für Kurier-, Express- und Paketdienstfahrer:Urteile der Sozialgerichte:-> Paketfahrer sind abhängig beschäftigt, wenn sie sich an detaillierte Vorgaben ihres Auftraggebers in Form eines Verhaltenskodexes und Qualitätshandbuches halten müssen. Der Fahrer ist in die Organisation des Auftraggebers eingegliedert, wenn er nicht über seine Arbeitszeit, den -ort und die Art der Tätigkeit selbstständig entscheiden kann ( SG Dortmund, 11.9.2015, AZ. S 34 R 934/14).-> Kurierfahrer, die ihr eigenes Fahrzeug nutzen und selbst betanken, können auch dann selbstständig sein, wenn sie keine eigenen Mitarbeiter beschäftigen. Der Vertrag müsse es jedoch erlauben, Hilfskräfte einzusetzen. Entscheidend sei, dass der Fahrer Aufträge ablehnen, seine Fahrtroute selbst festlegen und selbst entscheiden könne, wann er Pausen nehme und den Arbeitstag beende. Eine vereinbarte Pauschale pro Zustellung sowie die vertragliche Verpflichtung, für Schäden an der ausgelieferten Ware zu haften, spreche für eine selbstständige Tätigkeit ( SG Düsseldorf, 5.3.2015, Az. S 45 R 1190/14). Die DRV Bund hatte zuvor anders entschieden.Deutsche Rentenversicherung Bund:-> Allein die Nutzung eines eigenen Fahrzeugs reicht für das Vorliegen einer Selbstständigkeit nicht aus. Entscheidend ist, ob der Fahrer seine Chancen auf dem Markt selbstständig nutzen und seine Tätigkeit weisungsfrei ausüben kann. Verträge, die eine Weitervergabe der Fahraufträge gestatten, sind kein entscheidendes Kriterium. Nutzt der Transportfahrer diese Möglichkeit aber nur selten und beschäftigt er auch regelmäßig keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer, ist von einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis auszugehen.Das gilt für Frachtführer und Unterfrachtführer:Urteile der Sozialgerichte:-> Lkw-Fahrer, die kein eigenes Fahrzeug, sondern einen Lkw des Auftraggebers nutzen, sind abhängig beschäftigt ( SG Stuttgart, 25.4.2017, Az. S 2 R 1023/13).-> Fahrer, die ohne eigenen Lkw und ohne Güterkraftverkehrsgenehmigung Fahrten für einen Dritten übernehmen, sind abhängig beschäftigt, wenn sich ihre Tätigkeit nicht wesentlich von der eines angestellten Fahrers unterscheidet und kein besonderes Unternehmerrisiko erkennbar ist ( LSG Sachsen, 4.3.2014, Az. L 5 R 425/12).-> Ist eine GüKG-Genehmigung oder Gemeinschaftslizenz vorhanden und verfügt der Frachtführer über eigene Fahrzeuge sowie eine Disposition, liegt Selbstständigkeit vor ( LSG Baden-Württemberg, 23.2.2016, Az. L 11 R 2091/13).-> Bei weitreichenden Weisungsrechten sowohl des Spediteurs als auch des Absenders und Empfängers des Frachtgutes, kann der Frachtführer als abhängig Beschäftigter einzuordnen sein, wenn Vereinbarungen getroffen und praktiziert werden, die die Tätigkeit engeren Bindungen unterwerfen ( BSG, 11.3.2009 - B 12 KR 21/07 R).Deutsche Rentenversicherung Bund:-> Es ist davon auszugehen, dass Frachtführer ein selbstständiges Gewerbe ausüben, wenn sie ein eigenes Fahrzeug einsetzen und eine Güterkraftverkehrserlaubnis oder Gemeinschaftslizenz besitzen. Dies gilt auch dann, wenn sie als Einzelperson ohne weitere Mitarbeiter nur für ein Unternehmen tätig sind und dabei dessen Farben oder ein Logo nutzen. Voraussetzung ist jedoch, dass ihnen weder Dauer noch Beginn und Ende der Arbeitszeit vorgeschrieben wird und sie die nicht nur theoretische Möglichkeit haben, Transporte auch für weitere Kunden auf eigene Rechnung durchzuführen. sah

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