"Ich würde mir mehr Substanz wünschen"

Die Konjunktur brummt, die Arbeitslosigkeit ist gering und der Staat macht keine Schulden mehr. Schwere Zeiten für einen kritischen Wirtschaftswissenschaftler wie Sie, weil die Politik alles richtig macht? Nein, weder sind das für mich schwere Zeiten, noch macht die Politik alles richtig. Aber es ist zunächst mal sehr erfreulich, dass die Wirtschaft gut läuft. Wir wissen jedoch nicht, wie lange dieser Aufschwung anhält. Und nach wie vor gibt es eine Reihe von Risiken. Was sind Risiken, bei denen die Politik in der nächsten Legislaturperiode gefordert ist? Ein wichtiges Themenfeld ist Europa: Die Krise ist noch nicht überwunden. Es gibt viele ungelöste Fragen bei der Währungsunion im Umgang mit den Banken. Die Politik ist zudem gefordert, den Freihandel zu verteidigen. Die Digitalisierung ist ein wichtiges Thema, das die Politik aktiv begleiten muss, und auch bei der Zukunft der Verbrennungsmotoren ist sie gefragt. Die Politik hat also alle Hände voll zu tun. Hinzu kommen zahlreiche Brennpunkte im Ausland. Wird Deutschland als weltweit größter Exporteur unter diesen Entwicklungen besonders leiden? Ich könnte mir vorstellen, dass wir in einzelnen Märkten Einbußen haben. Aber die deutsche Wirtschaft ist glücklicherweise sehr diversifiziert bei den Absatzmärkten. Wir haben es in den letzten Jahren oft erlebt, dass ein Markt Probleme bereitet, dafür aber andere Märkte erschlossen wurden. Das ist ohne Frage eine Stärke der deutschen Wirtschaft. Die globale Finanzkrise hat uns andererseits gezeigt, dass tiefgreifende, globale Probleme auch bei uns ankommen, und zwar verstärkt, weil wir so exportorientiert sind. Wenn die USA sich weiter abkapseln und die Briten sich völlig aus der EU verabschieden: Lassen sich für diese beiden großen Märkte tatsächlich andere finden? Wenn die USA und Großbritannien sich zeitgleich abschotten würden, hätte Deutschland ein Problem. Aber ich rechne nicht damit. Es kann zu Beeinträchtigungen in einzelnen Sektoren kommen, flächendeckende Abschottung wäre ein Extremszenario. Muss sich eine künftige Bundesregierung angesichts der Vielzahl außenpolitischer Risiken stärker international engagieren, um damit die Interessen der deutschen Wirtschaft besser zu vertreten? Bislang hat sich Deutschland im Konzert mit den Europäern engagiert. Der Außenhandel ist eine Zuständigkeit der EU, zumindest größtenteils. Deutschland wird sein Gewicht sicher in die Waagschale werfen, wenn es gilt, eine gemeinsame europäische Position zu beziehen. Dass Deutschland sich zu einer internationalen Ordnungsmacht aufschwingt, sollte man jedoch nicht erwarten. Dazu sind die Möglichkeiten begrenzt. Ist die EU das richtige Instrument, auch wenn dort die Meinungen zum Teil weit auseinanderdriften und man befürchten muss, dass so manche Position verwässert wird? Die EU hat die Zuständigkeit für den Außenhandel. Das sollte Deutschland nicht infrage stellen. Wir sehen derzeit, dass die EU uns schützt, etwa in der Diskussion mit Donald Trump. Trump sieht vor allem Deutschland als ein Land, das zu viel in die USA exportiert. In den Diskussionen ist ihm jetzt jedoch klar geworden, dass er sich an die EU wenden muss. Wenn er jetzt gegen Deutschland Sanktionen ergreift, muss er befürchten, dass amerikanische Unternehmen in der gesamten EU Probleme bekommen werden. Das Beispiel zeigt, dass Deutschland davon profitiert, über die EU seine Positionen im Außenhandel zu vertreten. Zurück nach Deutschland: Nahezu alle Parteien haben vor der Bundestagswahl Steuererleichterungen in Aussicht gestellt. Ist das in Zeiten einer prosperierenden Wirtschaft die richtige Maßnahme? Das Ziel von Steuersenkungen ist derzeit nicht, die Konjunktur anzukurbeln. In guten Zeiten soll man eher für schlechtere Zeiten vorsorgen. Der Grund für Steuersenkungen ist ein anderer: Man beobachtet, dass der öffentliche Sektor wächst und der private Sektor kleiner wird. Wenn man diese Gewichtsverschiebung nicht möchte, ist das eine politische Entscheidung. Ich halte diesen Schritt für sinnvoll. Da derzeit die Steuereinnahmen steigen, ist dann eine Senkung der Steuersätze die logische Konsequenz. Angesichts der sprudelnden Staatseinnahmen: Wenn nicht jetzt, wann dann sollte man Schulden abbauen? Man kann ja auch Ausgaben kürzen. Bei den öffentlichen Ausgaben ist dringend zu prüfen, ob all das, was da ausgegeben wird, tatsächlich gerechtfertigt ist. Gerade in guten Zeiten ist Ausgabenkritik dringend notwendig. Wenn viel Geld da ist, wird auch viel Geld für Unsinn ausgegeben. Die andere, ganz wichtige Leitplanke ist die schwarze Null. Dieses Ziel stellen weder die Union noch die SPD infrage, aus gutem Grund. Denn wir befinden uns jetzt in einer demografischen Sonderphase, in der die Babyboomer-Generation auf dem Höhepunkt ihrer Produktivität ist. Das wird sich in den nächsten zehn Jahren umdrehen. Da werden wir eine massenhafte Verrentung beobachten, weshalb die Ausgaben für Soziales massiv ansteigen werden. Darauf müssen wir uns jetzt vorbereiten und die Schulden abbauen. Aber mit einer schwarzen Null baut man ja keine Schulden ab. Die Wirtschaft wächst. Deshalb sinkt bei einer schwarzen Null die Schuldenquote, also das Verhältnis aus Staatsschulden und Wirtschaftsleistung. Derzeit erwirtschaften wir ja sogar leichte Überschüsse, sodass die Staatsschulden sinken. Wo gibt der Staat "Geld für Unsinn" aus, wie Sie es formulieren? Das ist in allen möglichen Bereichen zu beobachten. Ein besonders krasses Beispiel ist sicher die Rente mit 63. Da hat man viel Geld ausgegeben, das ist schwer zu rechtfertigen. Welche Partei hat aus Ihrer Sicht wirtschaftspolitisch das beste Programm? Solche Pauschalurteile möchte ich nicht fällen. Die Programme der Parteien haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. So eine Antwort hatte ich befürchtet. Wäre es denn zu begrüßen, wenn eine liberale und wirtschaftsfreundliche Partei wieder den Einzug in den Bundestag schafft? Ich halte es für wichtig, dass liberale Wirtschaftspolitik in Deutschland im Parlament vertreten wird. Denn es mangelt nicht an Parteien, die auf problematische Weise in die Wirtschaft eingreifen. Da liberale Kräfte zu haben, die dies ein wenig ausgleichen, würde ich sehr befürworten. Die Wirtschaft klagt über den schlechten Zustand der Verkehrsinfrastruktur. Müsste hier mehr Geld investiert werden? Die Defizite in der Infrastruktur sind nicht so groß, wie häufig behauptet wird. Das merkt man, wenn man den Blick in andere Länder wirft. Trotzdem gibt es in Deutschland Nachholbedarf. Der Schwerverkehr muss Umwege fahren, weil Brücken nicht mehr die Last tragen können, die Staus nehmen zu. Aber der Staat reagiert und erhöht die Investitionen. Momentan ist das größere Problem, dass das Geld nicht abgerufen wird, weil es nicht genügend Planungskapazitäten gibt, und dass auch die Bauwirtschaft stark ausgelastet ist. Zudem sollte man nicht zu schnell zu viel bauen, sondern sorgfältig auswählen und planen, um effizient zu bauen. Ist die Einführung einer Pkw-Maut sinnvoll, um mehr Geld für die Infrastruktur einzusammeln? Ich halte es nicht für ideal, eine Pauschal-Maut einzuführen. Der Sinn einer Maut sollte in erster Linie nicht sein, mehr Geld für den Staat zu beschaffen, sondern den Verkehr zu steuern. Ich kann mir gut eine Maut vorstellen, die zu Stoßzeiten höher ist und damit zu einer intelligenten Verkehrssteuerung führt. Da sehe ich das eigentliche Potenzial einer Maut. Darüber wird momentan nicht wirklich diskutiert. Das stimmt. Ich halte das für bedauerlich. Technisch wäre die Einführung einer solchen Maut möglich. Das Logistikgewerbe wie auch die gesamte deutsche Wirtschaft haben mit dem Problem des Arbeitskräftemangels zu kämpfen. Was sollte eine Bundesregierung tun, damit dieser Mangel nicht das Wachstum einbremst? Wenn Knappheit herrscht, stimmen die Preise nicht. Wenn Güter knapp sind, steigt bei funktionierenden Märkten deren Preis, und einige, die diesen Preis nicht zahlen wollen, ziehen sich dann vom Markt zurück. Fachkräftemangel bedeutet also, dass Löhne zu niedrig sind. Gesamtwirtschaftlich gesehen kann ein sinkendes Angebot an Fachkräften dennoch das Wachstum einer Volkswirtschaft beeinträchtigen. Deshalb hat Deutschland ein großes Interesse an einer guten Ausbildung und daran, Fachkräfte nach Deutschland zu holen. Sie waren vor wenigen Wochen auf der Verbandstagung des LBS und haben dort ähnlich argumentiert zum Fahrermangel. Der Hinweis auf Lohnerhöhungen ist dort nicht auf viel Gegenliebe gestoßen ( Fuest schmunzelt). Redet da auf der einen Seite der Theoretiker, der Wissenschaftler, und auf der anderen Seite die Praktiker? Nein, mit einem Unterschied zwischen Theorie einerseits und Praxis andererseits hat das nichts zu tun. Es geht eher um eine einzelwirtschaftliche und eine gesamtwirtschaftliche Betrachtungsweise. Das einzelne Unternehmen ist immer daran interessiert, aus vielen Arbeitskräften aussuchen zu können, und das zu möglichst niedrigen Arbeitskosten. Das ist aus Unternehmersicht vollkommen verständlich. Aber gesamtwirtschaftlich betrachtet sollte Knappheit eines Gutes immer zur Folge haben, dass der Preis steigt. Damit wird Mangel beseitigt. Es gibt auch kein Mangel an Gold, aber es ist teuer. Jeder kann es bekommen, der bereit ist, den Marktpreis zu zahlen. Wenn aber die Nachfrage nach Fachkräften das Angebot deutlich übersteigt, muss doch jemand leer ausgehen. Richtig, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt, sind die Löhne zu niedrig. Bei steigenden Löhnen steigt das Angebot an Fachkräften und die Nachfrage sinkt, bis Nachfrage und Angebot übereinstimmen. So funktioniert eine Marktwirtschaft. Guckt man sich die Wahlprogramme der beiden Volksparteien an, kann man viele Gemeinsamkeiten feststellen. Teilen Sie die Einschätzung? Bei vielen wichtigen Fragen liegen die beiden Volksparteien nahe beieinander. Es gibt in Nuancen Unterschiede. Die SPD betont stark das Thema der öffentlichen Investitionen, aber dazu findet sich auch einiges bei der Union. Ein Unterschied, den es vielleicht gibt, betrifft die Frage von Steuererhöhungen. Das schließt die SPD nicht aus, CDU/CSU hingegen lehnen dies ab. Die SPD will dafür mehr an staatlichen Leistungen anbieten als die CDU/CSU. Finden wirtschaftliche Themen ausreichend Berücksichtigung in den Wahlprogrammen? Viele wichtige Themen werden behandelt, in einigen Bereichen würde ich mir allerdings mehr Substanz wünschen. Das gilt beispielsweise für das Thema Europa. Dazu findet man etwas in den Programmen, ja, aber insgesamt bleiben sie doch sehr vage. Ich halte in Deutschland eine Debatte darüber für notwendig, was für eine Art von EU wir wollen. Soll es zu einer stärkeren Verlagerung wirtschaftspolitischer Kompetenzen kommen, oder soll die EU weniger tun, das aber effektiver? Aus den Wahlprogrammen ist nicht ersichtlich, was die Parteien in Deutschland in dieser Frage beabsichtigen. Sie haben für den VDA eine Studie zu den Folgen eines Zulassungsverbots von Verbrennungsmotoren ab 2030 gemacht. Ein Ergebnis war, dass dann viele Arbeitsplätze verloren gehen könnten. Sollte die Politik dieses Vorhaben also gut überdenken? Hier muss man präzise sein: Wir haben gezeigt, dass derzeit rund 600.000 Arbeitsplätze vom Verbrennungsmotor abhängen. Ob die erhalten bleiben, hängt von vielen Faktoren ab, nicht nur von der Frage eines Zulassungsverbots in Deutschland. Noch hat die Politik keine Entscheidung getroffen. Ich würde ein solches Verbot aber für einen Fehler halten. Das zentrale Ziel ist der Klimaschutz. Wir wollen den CO2-Ausstoß verringern. Dieses Ziel sollte man vorgeben. Dann müssen unterschiedliche Techniken miteinander konkurrieren, diese Ziele möglichst günstig umzusetzen. Eine Technik von vornherein auszuschließen wäre nicht klug. Für Deutschland - ein Land, das führend in der Technik der Verbrennungsmotoren ist - wäre das sogar hochgradig irrational. Ist es sinnvoller, den ökologischen Zielen Vorrang zu geben vor den ökonomischen, also lieber eine saubere Umwelt, dafür aber den Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen in Kauf zu nehmen? Zwischen umweltpolitischen und wirtschaftspolitischen Zielen besteht kein Widerspruch. Allerdings ist es sehr wichtig, die Umweltziele kosteneffizient zu erreichen. Wenn die Kosten zu hoch sind, werden die Ziele selbst infrage gestellt. Wer durch Verbot bestimmter Techniken die Kosten der CO2-Reduktion in die Höhe treibt, schadet dem Klimaschutz. Vita Professor Clemens Fuest Er gilt als einer der einflussreichsten Ökonomen in Deutschland: Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts und Professor am Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2016 hat er die Nachfolge von Hans-Werner Sinn angetreten, nicht weniger bekannt als Fuest. Im Ökonomenranking der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Maßstab: Nennung in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit) belegte Fuest 2016 Rang drei - knapp hinter Ernst Fehr (Uni Zürich, Platz eins) und Sinn. Fuest wurde am 23. August 1968 in Münster geboren. Nach seinem Abitur studierte er Volkswirtschaftslehre in Mannheim und Bochum. Als Professor war er unter anderem fünf Jahre in Oxford tätig. Seit 2003 ist er Mitglied des wissenschaftlichen Beirates im Bundesfinanzministerium. Fuest ist verheiratet, Vater dreier Kinder und interessiert sich für Literatur und klassische Musik, fährt Ski und wandert gerne. (cd)

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