Frische Ideen in der Lebensmittellogistik

Bei deutsche See ist jeden Tag logistische Präzisionsarbeit gefragt: Die Fischmanufaktur aus Bremerhaven beliefert Gastronomie, Einzelhandel und Endkunden mit frischem Fisch aus aller Welt. Teilweise haben die Produkte eine Mindesthaltbarkeitsdauer von nur fünf Tagen, das heißt, um den Kunden vier Tage MHD bieten zu können, muss der Umschlag extrem schnell gehen. Die Waren werden in Bremerhaven produziert, dann kommissioniert und von Speditionen an 19 Niederlassungen deutschlandweit verteilt; von dort aus übernimmt der Eigenfuhrpark die Distribution. Zuverlässigkeit hat für deutsche See bei der Auswahl der Dienstleister oberste Priorität. "Wir erwarten, dass die Stellzeiten strikt eingehalten werden. Da darf nichts schiefgehen", betont Wolfgang Zeitz, Leiter Logistik. Weitere Anforderungen: Dienstleister müssen über Zwei-Kammer-Fahrzeuge verfügen, da sowohl Frischeprodukte als auch Tiefkühlkost zu befördern sind. Zudem erwartet der Fischspezialist Zugriff auf die Telematikdaten, um im Fall einer Störung nachvollziehen zu können, woran es lag. "Attraktiv ist auch, wer eine IFS-Zertifizierung vorweisen kann", fügt Zeitz hinzu. Der IFS Food Standard ist unter Logistikern noch nicht so verbreitet wie andere Zertifizierungen. Schnelle Prozesse, Datentransparenz, modernste Technik - das verlangt die Frischebranche von ihren Transportdienstleistern. Die Industrie gehört, neben Automobil und Pharma, zu den logistisch anspruchsvollsten. Entsprechend groß sind die Hoffnungen, die man in die Digitalisierung setzt: Sie soll eine bessere Vernetzung aller Beteiligten bringen, Abläufe beschleunigen und kostengünstiger machen. Doch wie weit ist die Frischebranche beim Thema Logistik 4.0 wirklich? Und wie verändern sich die Anforderungen an die Dienstleister? Digitale Messlatte liegt hoch Grundsätzlich liegt die digitale Messlatte im Lebensmittelbereich recht hoch. Molkereien zum Beispiel nutzen schon lange den elektronischen Datenaustausch (EDI), um Transportdienstlern und Handel Aufträge digital zu avisieren. Danach aber wird weiterhin viel mit Papier hantiert, etwa mit ausgedruckten Lieferscheinen. Außerdem lässt sich auch in der Frischebranche das verbreitete Phänomen der Dateninseln beobachten: Der ausführende Spediteur kann zwar die Telematikdaten seiner Fahrzeuge einsehen, doch weder Verlader noch Empfänger haben Echtzeitzugriff darauf. "Die Molkerei weiß mitunter nicht, wo sich ein Lkw gerade befindet", sagt Björn Börgermann, Logistikreferent beim Milchindustrie-Verband (MIV), Berlin. Eine Folge ist die bekannte Rampenproblematik: Da das Zentrallager des Handels einseitig optimiert ist, kommt es teilweise zu ungeeigneten Zeitfenstern oder Wartezeiten. Die Digitalisierung könnte künftig dabei helfen, diese Probleme zu lösen. "Voraussetzung ist die Bereitschaft für Veränderungen plus gegebenenfalls der Einsatz neuer Technologien wie der Blockchain", regt Börgermann an. Die Blockchain ist eine Art digitales Geschäftsbuch, in dem bestimmte Transaktionen, zum Beispiel Transportprozesse, verzeichnet sind, sodass sie von allen am Geschäft Beteiligten eingesehen werden können. Die Technologie bildet das Rückgrat der elektronischen Währung Bitcoin. GS1 Germany hat gerade ein Projekt gestartet, in dem die Verfolgung von Ladungsträgern mithilfe einer Blockchain erprobt werden soll. Potenziale in Planung und Steuerung In der Fleischindustrie erhofft man sich von der Digitalisierung ebenfalls Effizienzgewinne. "Das größte Verbesserungspotenzial liegt in Planung und Steuerung der Logistik", sagt Bernhard Lammers, Geschäftsführer der Plukon Food Group Deutschland, Visbek. Der Hähnchenproduzent, bekannt für seine Marke Friki, betreibt hierzulande fünf Werke und versorgt fast alle großen Lebensmitteleinzelhändler. Die Transporte in die Zentrallager übernehmen überwiegend externe Dienstleister. Die Herausforderung: Da täglich geliefert wird, füllen die Waren selten einen kompletten Lkw. Durch Bündelung mit anderen Produkten und Cross-Docking müssen die Spediteure dafür sorgen, dass die Transportkapazitäten optimal ausgenutzt werden. Hinzu kommt, dass die Rückführung des Leerguts (Transportbehälter) zu organisieren ist. "Hier kann durch Digitalisierung sicher noch einiges verbessert werden, was letztlich auch die Logistikkosten senkt", meint Lammers. Interne Logistikplanung und externe Dienstleister müssten dabei Hand in Hand arbeiten. Informationskette bis zum Endkunden Das Motto "Mehr Daten für alle" bezieht sich übrigens nicht nur auf Verlader und Dienstleister. In Zukunft muss die Informationskette bis zum Endverbraucher reichen, weil der sich immer stärker dafür interessiert, welchen Weg das Fischfilet oder der Joghurt ins Supermarktregal genommen hat. Darauf weist die Technische Universität Berlin in ihrer Studie "Zukunftstrends der Lebensmittellogistik- Herausforderungen und Lösungsimpulse" hin. Es reiche nicht aus, wenn die Informationen in Unternehmensberichten zur Verfügung stehen, so die Autoren. Auch hätten die Kunden keine Lust, erst Codes auf den Produkten zu dechiffrieren, um etwas über die Transportbedingungen zu erfahren. Daraus ergibt sich eine neue Herausforderung für die Dienstleister: Wer Frisches transportiert, muss sein IT-System darauf vorbereiten, dass auch die Verbraucher Zugriff auf Tracking-Daten bekommen, etwa über eine Webseite oder eine App. Transparenz für den Endkunden entwickele sich zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor, so die TU-Wissenschaftler. Ladungsträger mit Temperatursensoren Eine weitere wichtige Rolle in der Frischelogistik von morgen könnte das sogenannte Internet der Dinge spielen, also die Idee, alle Gegenstände in der Supply Chain mit dem Netz zu verbinden. Denkbar wäre zum Beispiel, Ladungsträger mit Temperatursensoren auszustatten, die die gemessenen Werte online übertragen. Punktuell werden solche Technologien schon genutzt, doch vom Breiteneinsatz ist man noch weit entfernt. "Zu aufwendig, zu teuer - und teilweise überflüssig", lautet das Urteil vieler Praktiker aus der Frischebranche. "Die Transporttemperatur wird in der Regel eingehalten; die Aufzeichnung der Behälter-Innentemperatur könnte daher nur vereinzelt auf weiten Strecken, zum Beispiel im Export, interessant sein", erklärt Experte Börgermann. Hintergrund: 50 Prozent der deutschen Milch wird exportiert, ein Großteil geht ins europäische Ausland, zum Teil liefern Molkereien ihre Produkte bis in Staaten wie nach China. Deutsche See testet Datenbrillen Deutsche See sucht jetzt schon nach technologischen Möglichkeiten, die Logistik zu verbessern. Derzeit zum Beispiel testet der Fischspezialist in der Kommissionierung Datenbrillen, außerdem denkt man darüber nach, wie im Distributionsprozess Papier vermieden werden könnte. Höchste Priorität hat aktuell die Verfolgung der Leergüter: Deutsche See verwendet beim Transport Kunststoffpaletten und eine selbst entwickelte Mehrwegkiste, deren Bestände noch per Hand erfasst werden. Diese Arbeit sowie das Ausfüllen von Palettenscheinen könnte bald der Vergangenheit angehören. "Wir führen einen Test mit RFID durch", berichtet Wolfgang Zeitz, Leiter Logistik deutsche See. Das Markieren der Ladungsträger mit Funketiketten würde eine automatische Erfassung der Bestände ermöglichen. In einem zweiten Schritt sollen die Behälter im IT-System mit dem jeweiligen Inhalt verknüpft werden. Das Ergebnis wäre die total transparente Lieferkette: Sobald ein Stapler durch ein Lesetor auf der Versandanlage fährt, bekäme die Niederlassung von deutsche See dann zum Beispiel automatisch die Mitteilung "Behälter X mit fünf Kilogramm Rotbarsch ist verladen". "Wir müssen alles ausprobieren, was uns zukunftsfähiger macht", fasst Zeitz zusammen. Auch die Inbound-Logistik, also die Versorgung der Produktionsstätten, könnte in Zukunft von der Digitalisierung profitieren. Wie groß die Herausforderungen hier gerade in der Frischebranche sind, zeigt die Milchindustrie: Am Anfang der Supply Chain stehen Sammelwagen, die von Hof zu Hof fahren und die frische Rohmilch bei den Landwirten einsammeln. Die Planung dieser Touren ist hochkomplex, weil zahllose Nebenbedingungen zu berücksichtigen sind: Die produzierten Milchmengen schwanken, jeder Landwirt hat eigene Melkzeiten, außerdem liegen die Höfe oft nicht direkt an gut ausgebauten Straßen. "Allein mit der Google-Maps-Routenplanung kommt man hier nicht weit", schmunzelt MIV-Referent Börgermann. Die Molkereien müssen zudem berücksichtigen, dass der Landwirt nach der Abholung Zeit braucht, um seinen Milchtank zu reinigen. Alle diese Faktoren machen die Disposition zur Herausforderung. Es gibt zwar schon Computerprogramme, die bei der Arbeit unterstützen, doch Praktiker mit Hintergrundwissen ersetzen sie nicht. Hier könnten in Zukunft selbstlernende Programme (künstliche Intelligenz) zum Einsatz kommen. Sie beobachten die Transportströme, erkennen selbstständig Muster und können so die kommenden Bedarfe mitunter besser einschätzen als ein menschlicher Disponent. KEP-Dienste und einzelne Online-Speditionen wie Cargonexx arbeiten schon mit dieser Technologie, künftig könnte sie zum normalen Werkzeug jedes Transporteurs in der Frischebranche gehören. Mehr zum Thema im Dossier Lebensmittellogistik www.verkehrsrundschau.de/dossiers Praxisbeispiel Liquid Concept Logistik 4.0 für die Schokoladentafel Schokoladen-Kuvertüre, Fett oder frische Früchte - auf den Transport dieser Produkte ist Liquid Concept spezialisiert. Das Hamburger Unternehmen organisiert für Lebensmittelhersteller die Versorgung mit Rohstoffen und Zwischenprodukten. Eingesetzt werden dabei aktiv temperierte Tankcontainer und -züge (Schokolade etwa muss ständig auf Temperatur gehalten werden, damit sie nicht hart wird). Bisher waren die Informationsanforderungen in diesem Segment nicht so hoch, doch Geschäftsführer Eycke-Christian Dörre spürt, dass sich das ändert."Die Kunden planen ihre Supply Chain enger; sie wollen zu jeder Zeit über den Status der Ware Bescheid wissen." Absehbar sei, dass bei Tanktransporten bald eine lückenlose Temperaturüberwachung wie im Frigo-Bereich gefordert wird, außerdem eine Online-Verfolgung des Fahrzeugs, wie sie einzelne KEP-Dienste schon anbieten. Liquid Concept bereitet sich darauf vor."Wir haben bei der Auswahl unserer neuen Transportmanagement-Software darauf geachtet, dass eine Temperaturüberwachung via Internet möglich ist."Ein zweites Standbein von Liquid Concept ist die Vermietung von Intermediate Bulk Containern (IBC). Sie fassen 1000 Liter und werden beim Kunden angestellt, bis der Inhalt aufgebraucht wird - oder sogar darüber hinaus. In letzteren Fällen steht der Container ungenutzt herum, was eine unnötige Kapitalbindung bedeutet. Hier will das Hamburger Unternehmen mit einem Logistik-4.0-Konzept Abhilfe schaffen. Liquid Concept plant, sogenannte Smart IBC anzuschaffen, die unter anderem den Füllstand ins Internet übertragen. "Dann könnten wir uns proaktiv beim Kunden melden und ihn darauf hinweisen, dass der Container leer ist", erklärt Dörre den Vorteil. cg