EU-Zollreform: Utopie oder machbar?

Kleinsendungen von E-Commerce-Plattformen überschwemmen derzeit den europäischen Markt. Temu und Shein dienen oft als Beispiel, jedoch bieten auch in der EU ansässige Online-Händler zu-nehmend auf Internetplattformen Waren an und fungieren hierbei nur als Vermittler für drittländische Verkäufer. Dieser massive Anstieg des Handelsvolumens und die stetig wachsende Zahl von EU-Normen, deren Einhaltung an der Grenze geprüft werden muss, etwa in den Bereichen Produkthaftung, Klimawandel oder Zwangsarbeit, überlasten die Zollbehörden. Die EU will deshalb die Zollunion im Sinne des digitalen Wandels modernisieren, schwerfällige Zollverfahren abbauen und durch einen datengesteuerten Ansatz für die Einfuhrüberwachung ersetzen. 2023 legte die EU-Kommission dazu einen Verordnungsentwurf vor. Die Reformvorschläge werden aktuell im Europäischen Parlament und im Rat der Europäischen Union im sogenannten Trilog beraten und müssen von diesen genehmigt werden (16.9.2024 - Stand der Redaktion) - Änderungen sind also zu erwarten. Das Reformpaket basiert auf einem Bericht der "Gruppe der Weisen", die im September 2022 von der EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen persönlich eingesetzt wurde, um innovative Lösungen für die dringendsten Probleme der Zollunion vorzuschlagen. Aus der 150-Euro-Zollfreigrenze Ein wichtiger Eckpfeiler der EU-Zollreform ist die geplante Abschaffung der Zollfreigrenze für Einfuhren mit einem Warenwert von bis zu 150 Euro. Damit sollen Importe von Billigprodukten, die oft nicht den europäischen Standards entsprechen und unterfakturiert sind, eingedämmt werden. Bis zu 65 Prozent solcher in die Europäische Union eingeführten Waren werden laut EU aktuell mit zu niedrigem Wert angemeldet, um Zollgebühren bei der Einfuhr zu umgehen. Im Gegenzug soll die Berechnung der Zollabgaben für die gängigsten Waren mit geringem Wert, die außerhalb der EU gekauft werden, vereinfacht werden, indem Tausende möglicher Zollkategorien auf nur vier reduziert werden. Dies wird es wesentlich einfacher machen, Zölle auf kleine Pakete zu berechnen und Plattformen und Zollbehörden dabei zu unterstützen, die jährlich eine Milliarde online getätigten und in die EU eingeführten Einkäufe besser zu verwalten. EU-Data-Hub und KI Geplant sind außerdem die Einrichtung einer zentralen EU-Zollbehörde und einer EU-Zolldatenplattform. Die EU-Zolldatenplattform "Customs Data Hub" als Motor des neuen Systems soll ab 2028 für Sendungen des elektronischen Handels und ab 2032 auf freiwilliger Basis für alle anderen Einführer zur Verfügung stehen und schrittweise die bestehenden nationalen IT-Zollverfahren ablösen. Nach Vorstellung der EU müssen Firmen, die Waren in die EU einführen, künftig alle Informationen über ihre Produkte und Lieferketten in das EU-Data-Hub einspeisen, sodass die Zoll-, Marktüberwachungs- und Strafverfolgungsbehörden durch Bündelung der Daten einen kompletten Überblick über die Lieferketten und Produktionsprozesse der importierten Waren erhalten. Die EU-Mitgliedstaaten sollen diese Daten dann unter Einsatz von künstlicher Intelligenz analysieren, überwachen und Probleme ermitteln, noch bevor die Versendung der Waren in Richtung EU begonnen hat. Der gläserne Unternehmer Unter der Überschrift "neue Partnerschaft mit Unternehmen" plant die EU zudem die Abschaffung des etablierten "Zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten" für Zollangelegenheiten (AEOC) und im Gegenzug die Einführung eines Trust & Check-Händlers (T & C), einem besonders vertrauenswürdigen Wirtschaftsbeteiligten, der transparent handelt und den Zollbehörden Echtzeitdatenzugriff zu seinen elektronischen Systemen gewährt. Als Belohnung sollen diesem "Super-AEO" bestimmte Vorteile wie die zentrale Zollabwicklung und Selbstveranlagung gewährt werden, die im heutigen Zollrecht großteils schon bestehen, künftig aber nur einem transparenten Händler vorbehalten sein sollen. Abgesehen von datenschutzrechtlichen Bedenken im Hinblick auf den "360-Grad-Überblick" diverser Behörden über Lieferketten und Firmeninterna stellt sich die Frage, wie ein solcher Echtzeitdatenzugriff auf die unternehmensinternen IT-Systeme in der Praxis aussehen soll. Die nicht nachvollziehbare Abschaffung des Zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten für zollrechtliche Vereinfachungen und der Übergang zum Trust & Check-Regime verfolgen einen "Alles oder Nichts"-Ansatz: Unternehmen, die nicht Trust & Check-Händler sind, werden kaum noch Vereinfachungen bei der Zollabwicklung gewährt. Für Speditions- und Logistikbetriebe wird sich dies besonders nachteilig auswirken. Denn diese können den Status nur erhalten, wenn sie in indirekter Vertretung als Einführer agieren und damit in die volle Haftung gehen. Neuerungen im E-Commerce Durch die geplante Reform werden E-Commerce-Plattformen zu Schlüsselakteuren, um sicherzustellen, dass Waren, die online in die EU verkauft werden, alle Zollverpflichtungen erfüllen. Hierin besteht ein großer Unterschied zum derzeitigen Zollsystem, das die Verantwortung auf die einzelnen Verbraucher und Beförderer überträgt. Künftig werden die Online-Plattformen dafür sorgen müssen, dass Zölle und Mehrwertsteuer beim Kauf entrichtet werden, sodass die Käufer bei der Ankunft des Pakets nicht länger mit versteckten Gebühren oder unerwarteten Formalitäten konfrontiert werden. Die Online-Plattformen sind als fiktive Einführer dafür verantwortlich, dass Zollabgaben entrichtet werden und die Waren den Umwelt-, Sicherheits- sowie Ethikstandards der EU entsprechen. Logistiker in Universalhaftung Auf die Frage, wer die Verantwortung übernehmen soll, wenn Importeure, insbesondere E-Commerce-Plattformen, nicht in der EU ansässig sind, hat die EU eine Antwort: der Logistiker. Dieser soll in indirekter Stellvertretung als Einführer fungieren und nach dem "Alles aus einer Hand-Prinzip" nicht nur wie heute die Haftung für Zollabgaben übernehmen, sondern auch für nicht fiskalische Compliance-Anforderungen, wie etwa den Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM), sowie die Einhaltung der Entwaldungs-, Zwangsarbeits- und Produktsicherheitsvorschriften. Damit ist Brüssel nach Einschätzung des DSLV Bundesverband Spedition und Logistik eindeutig über das Ziel hinausgeschossen. Der DSLV spricht sich entschieden dagegen aus, dass Speditions- und Logistikbetriebe das nicht fiskalische Risiko für Importeure und teils milliardenschwere drittländische E-Commerce-Plattformen übernehmen sollen, nur weil diese keine Niederlassung in der EU haben. Es ist davon auszugehen, dass viele Zollvertreter wegen der Haftung für nicht fiskalische Compliance-Vorschriften und der damit verbundenen Risiken keine indirekte Stellvertretung anbieten werden. Manchen Importeuren wird also kein indirekter Vertreter zur Verfügung stehen, und damit findet auch kein Import statt. KMU als Verlierer der Reform Der DSLV ist extrem besorgt über diese Haftungszuweisungen der Reform, aus der nicht nur die Logistikbranche, sondern auch kleine und mittelständische Firmen (KMU) als Verlierer hervorgehen werden. Die meisten Im- und Exporteure sind heute keine AEO. Und im Falle der KMU sind viele von diesen nicht einmal in der Lage, die Bedingungen für den Status eines AEO zu erfüllen, geschweige denn die Voraussetzungen für den Trust & Check-Händler-Status. Ohne die Rolle der Zollvertreter und die ihnen und ihren Kunden zur Verfügung stehenden Erleichterungen beizubehalten, wird der Ersatz des AEO-Systems nicht funktionieren. Denn nur sehr wenige Firmen werden sich für den neuen T & C-Status und die damit verbundenen Erleichterungen qualifizieren können. Die meisten Unternehmen dürften also künftig weniger Erleichterungen haben als heute. Ausblick EU-Zollreform Nach der Veröffentlichung des Reformvorschlags im Mai 2023 hat in Brüssel der "Trilog" begonnen, also die Beratungen der EU-Kommission, des EU-Parlaments und des Rates der EU über den Verordnungsentwurf. Gleichzeitig laufen umfassende Konsultationen des Bundesfinanzministeriums (BMF) mit Interessenvertretern, unter anderem mit dem DSLV. Der europäische Speditionsdachverband Clecat ist eng in die Abstimmung auf EU-Ebene eingebunden. Da die EU-Kommission im Vorfeld weder die nationalen Zollverwaltungen noch die Wirtschaftsverbände konsultiert hat, was normalerweise üb-lich ist, muss mit einem langwierigen Rechtsetzungsprozess gerechnet werden. Angesichts des rapide steigenden E-Commerce besteht indes akuter Handlungsbedarf. Eine Reform der Zollunion, die erst im Jahr 2028 starten und 2038 vollzogen sein soll, ist da wenig zielführend. Die den E-Commerce betreffenden Vorschriften sollten deshalb aus dem Verordnungsentwurf ausgegliedert und als separates Paket vorgezogen werden, so eine Forderung des DSLV und weiterer Wirtschaftsverbände. Zudem müssen die Kernpunkte der geplanten Reform auf den Prüfstand gestellt und inhaltlich zu Ende gedacht werden, damit es nicht bei bloßen Visionen bleibt. Dafür reicht es nicht, Vorschläge der Gruppe der Weisen in einen Verordnungsentwurf zu gießen und weder mit den nationalen Verwaltungen noch mit der Wirtschaft vorab abzustimmen. Für ein komplexes Vorhaben, wie etwa den Aufbau des zentralen EU-Data-Hubs, bedarf es intensiver Beratungen mit Experten aus der Praxis, fachlicher und technischer Spezifikationen und eines Business Process Modelling, um sicherzustellen, dass die neuen Geschäftsprozesse in der neuen IT-Umgebung funktionieren. Mit Spannung bleibt abzuwarten, wie die ungarische Präsidentschaft des Europäischen Rats (endet 31.12.2024 - die Red.) mit dem Reformpaket verfährt. Autorin Jutta Knell, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des DSLV Bundesverband Spedition und Logistik Jutta Knell ist ausgebildete Zollbeamtin. Nach Abschluss ihres Jurastudiums in Mannheim und Heidelberg wurde Knell Leiterin des Referats Zoll-, Außenwirtschaftsrecht und Umsatzsteuer beim DSLV Bundesverband Spedition und Logistik. Seit 1999 ist sie Mitglied der Außenwirtschaftsrunde; 2001 wurde sie als Rechtsanwältin zugelassen. Seit 2017 ist Knell stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des DSLV.

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