Brüssel. Stunde der Wahrheit im Brexit-Streit: Der britische Premier Boris Johnson will am Freitag erklären, ob und wie Großbritannien weiter mit der Europäischen Union über einen Handelspakt verhandelt. Nach Beschlüssen des EU-Gipfels vom Donnerstag hatte sich Großbritanniens Chef-Unterhändler David Frost enttäuscht gezeigt. Die EU will die Verhandlungen hingegen in den kommenden Wochen deutlich intensivieren. Kanzlerin Angela Merkel signalisierte in der Nacht zum Freitag zum Kompromissbereitschaft.
Zum Stand der Gespräche über den Handelspakt sagte die CDU-Politikerin nach dem ersten Gipfeltag, es gebe Licht und Schatten. „An einigen Stellen haben sich die Dinge gut bewegt. An anderen Stellen ist noch viel Arbeit zu leisten.“ Insgesamt sei ein Abkommen für beide Seiten sinnvoll. „Notfalls müssen wir auch ohne das leben, aber ich glaube, besser wäre es, wir hätten ein solches Abkommen“, sagte Merkel. Ihr belgischer Kollege Alexander De Croo sagte: „Es wäre wahnsinnig, keinen Deal zu haben. Aber es wäre noch wahnsinniger, einen schlechten Deal zu haben.“
Merkel verlangt Kompromiss-Bereitschaft
Die EU und Großbritannien arbeiten seit Monaten an einem Handelspakt, der nach dem Brexit und der wirtschaftlichen Trennung zum Jahresende Zölle und Handelshemmnisse verhindern soll. Doch ist man in entscheidenden Punkten von einer Lösung weit entfernt - obwohl Johnson der EU eine Frist zur Einigung bis 15. Oktober gesetzt hatte.
Der EU-Gipfel forderte London nun auf, „die nötigen Schritte zu tun, um ein Abkommen möglich zu machen“. Kanzlerin Merkel betonte später: „Das schließt natürlich ein, dass auch wir Kompromisse machen müssen. Jede Seite hat ihre roten Linien.“ London hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch schon auf den Gipfel-Beschluss reagiert: Unterhändler Frost zeigte sich enttäuscht und kündigte Johnsons Erklärung für Freitag an.
Drei große ungelöste Streitpunkte
Im Streit um ein Abkommen zwischen der EU und Großbritannien gibt es drei Knackpunkte: Da ist zum einen der Zugang für EU-Fischer zu britischen Gewässern - für die EU-Küstenstaaten wie Frankreich ist das ein ebenso emotionales Thema wie für Großbritannien, das endlich alleine über seine reichen Fischgründe bestimmen will. Zweiter zentraler Punkt ist das sogenannte Level Playing Field: Die EU will im Gegenzug für zollfreien Zugang zum Binnenmarkt gleiche Umwelt-, Sozial- und Beihilfestandards als Schutz vor Dumping. Doch Großbritannien will sich von der EU nicht mehr reinreden lassen. Das gilt auch für Punkt drei, die sogenannte Governance: Die EU verlangt ein zuverlässiges Schlichtungsinstrument für den Fall, dass eine Seite vom Vertrag abweicht. Damit beißt sie in London auf Granit. (dpa/sn)