Erst ausgeforscht, dann aufgeschlitzt

Am 25. April 2014, 3.00 Uhr morgens, Autobahn A12 in der Nähe der belgischen Stadt Londerzeel: Mit Tempo 60 fährt ein LKW durch einen Baustellenabschnitt. Plötzlich schreckt der Fahrer auf. Direkt vor ihm tauchen Arbeiter mit Warnwesten auf, die ihm andeuten, auf der Standspur zu halten. Der Fahrer gehorcht. Im Moment, als das Fahrzeug steht, bricht Chaos aus. Die vermeintlichen Bauarbeiter reißen die Türen auf und stürmen die Zugmaschine. Sie schlagen den Fahrer zusammen und sperren ihn hinten in der Kabine ein. Dann übernehmen sie das Steuer und dirigieren den LKW auf einen Parkplatz abseits der Autobahn, wo schon Komplizen warten. Sie räumen die Ladung aus: Zigaretten im Wert von mehreren Zehntausend Euro. Nach beendetem Raubzug lassen die Gangster den Fahrer frei. Vor ihrer Flucht stecken sie noch den Sattelzug in Brand, um Spuren zu verwischen. Selbst Schrott ist begehrt Ein Einzelfall? Keineswegs. Es ist nur einer von europaweit 79 Ladungsdiebstählen im vergangenen April. Der Raubzug ist besonders typisch, weil Angriffe auf LKW, die Tabakprodukte geladen haben, quasi im Trend liegen. Das sagt ein neuer Report der Tapa (Transported Asset Protection Association), einer weltweiten Vereinigung von Unternehmen und Behörden, die den Frachtdiebstahl bekämpfen will. Demnach ist Tabak - hinter Elektronik, Getränken und Kleidung - mittlerweile zum beliebtesten Diebesgut avanciert. Es folgen Reifen oder Maschinen, die vor allem in Deutschland besonders häufig entwendet werden. Selbst Schrott-Transporte sind nicht mehr vor Langfingern sicher, steigende Rohstoffpreise machen sie wertvoll. Die Europäische Union geht davon aus, dass durch Frachtdiebstahl pro Jahr ein Schaden von 8,2 Milliarden Euro entsteht. Experten halten diese Schätzung für zu zurückhaltend. "Die Dunkelziffer liegt eher bei zehn Milliarden. Und darin ist nur der Wert der gestohlenen Ware enthalten. Hinzu kommen Kosten für entgangenes Geschäft und erhöhte Versicherungsprämien", betont Markus Prinz, Bereichsleiter Sicherheit bei Time Shuttle, einer Spedition, die auf den Transport wertvoller Ladung spezialisiert ist. Verschärft sich die Gefährdungslage oder bleibt sie gleich? Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Laut Tapa ist die Zahl der Ladungsdiebstähle in Deutschland in den letzten zwei Jahren von 115 auf 200 quasi explodiert. Kenner aus der Versicherungsbranche dagegen bleiben gelassen. "Die Entwicklung geht seitwärts", meint ein Insider, der nicht genannt werden will. Auch von der Verkehrspolizei heißt es, die Zahl der Fälle sei "eher gleichbleibend". Die Täter schlagen immer häufiger zu Definitiv verschärft hat sich die Gefährdungslage im nahen Ausland, darin sind sich die Experten einig. In den Niederlanden etwa gab es im vergangenen Jahr 432 Vorkommnisse - ein Zuwachs von 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Für das Fahrpersonal ist es in jedem Fall gefährlich, Opfer eines Diebstahls zu werden. Viele Täter schrecken nicht vor Gewaltanwendung zurück. Sie leiten Gas in die Kabine, um den Fahrer auszuschalten oder schlagen ihn zusammen. Insgesamt 125 gewalttätige Übergriffe auf Fahrer zählte die Tapa 2013. Zuletzt tauchte das Thema Ladungsdiebstahl sogar in den Massenmedien auf. RTL und andere TV-Sender berichteten über spektakuläre Truck Robberies, bei denen die Täter LKW in voller Fahrt ausgeraubt haben sollen. Doch solche filmreifen Stunts sind die Ausnahme, die meisten Diebstähle laufen unauffällig ab: In 87 Prozent aller Fälle steht das Fahrzeug auf einem unbewachten Parkplatz. "Es gibt Muster, die sich immer wiederholen: Das Fahrzeug wird in einem unbewachten Gewerbegebiet aufgebrochen, meist am Wochenende", berichtet Axel Salzmann von der Kravag-Versicherung. Auch die Verkehrspolizei bestätigt diese Einschätzung. "Am häufigsten ist nach Angaben von Fahrern der klassische Planenschlitzer, der nachts kommt und einfach ein paar Kartons von der Ladefläche entwendet", berichtet Klaus Laackman vom Polizeipräsidium Münster. Neben dem wahllosen Planenschlitzen hört der Leiter des Verkehrskommissariats zunehmend von professionelleren Raubzügen. Dann brechen Diebe zum Beispiel einige Fahrzeuge auf und begutachten erst die Ware, bevor sie wirklich zugreifen. Oder bestimmte Transporte werden gezielt ins Visier genommen. Laackman: "Wenn auf dem Parkplatz 40 oder 50 LKW stehen und nur einer aufgebrochen wird, entsteht bei den Fahrern der Eindruck, vorher ausgeguckt worden zu sein." Zu den professionellen Maschen gehört auch das vorbereitende Verkeilen von Rolltoren an der rückwärtigen LKW-Wand. Dazu lenken die Diebe den Fahrer zunächst ab, zum Beispiel, wenn er die Ware unterwegs kontrolliert, und schieben kleine Keile unter das geöffnete Rolltor. Bei einem so präparierten Tor funktioniert zum einen der Verschlussmechanismus nicht mehr richtig, zum anderen wird beim Öffnen kein Alarm ausgelöst. Gelingt es den Dieben, die Manipulation unbemerkt durchzuführen, haben sie später bei einem Raubzug freie Bahn. Die raffiniertesten Ladungsdiebstähle finden häufig im Umfeld von Frachtenbörsen statt. Der typische Ablauf: Kriminelle treten als besonders günstiger Frachtführer auf. Bucht ein Verlader bei ihnen einen Transport, engagieren die Diebe einen unwissenden Spediteur als Strohmann. Hat der die Ware beim Kunden abgeholt, rufen die Kriminellen den Fahrer an und dirigieren ihn unter einem Vorwand zu einem Umladepunkt ihrer Wahl. Die Polizei warnt davor, dass die Diebe dafür sogar Scheinbüros eröffnen. Sie suchen sich geeignete Räumlichkeiten, die dann mit vermeintlichem Personal besetzt werden und den Eindruck erwecken, es handele sich um das Betriebsgelände einer Spedition. So schöpft der LKW-Fahrer keinen Verdacht, wenn die Ware entladen wird - auch, wenn die Adresse nicht mit der des Empfängers übereinstimmt. Angst vor falschen Polizisten Die zunehmende Professionalität der Diebe macht nicht nur den Frachtführern zu schaffen, sondern auch der Polizei. Das zeigt ein aktueller Fall aus Frankreich: Dort hatte sich ein LKW-Fahrer geweigert, der Aufforderung einer Zivilstreife nachzukommen, auf dem Standstreifen anzuhalten. Er hatte befürchtet, bei den Polizisten handele es sich um verkleidete Kriminelle - eine verbreitete Masche im Großraum Paris. Selbst als die Männer ihre Polizeiabzeichen aus dem Seitenfenster streckten, ließ sich der Mann nicht umstimmen. Nachdem der LKW schließlich gestoppt wurde, nahmen die Beamten den Fahrer in Gewahrsam - zu Unrecht, entschied ein Richter später. Der Mann musste tatsächlich damit rechnen, dass es sich um eine Falle von Kriminellen handelte. Die Schlussfolgerung aus diesem Urteil klingt bizarr: In jedem unmarkierten Fahrzeug auf europäischen Autobahnen sitzt ein potenzieller Frachtdieb. Die Serie Logistik in GefahrDie große Serie der Verkehrs-Rundschau zu den neuen Bedrohungen der Transportkette- VR 12: Neue Gefahren für die Transportkette- VR 17: Compliance - Wie man mit Korruption umgeht- VR 20: Terror - Wo die Logistik besonders gefährdet ist- VR 25: Datensicherheit - Schutz gegen Cybercrime- VR 29: Frachtdiebstahl - Das richtige Risiko-Management- VR 34: Klimawandel - Schützen vor Sturm und Regen- VR 37: Einbruch - Schutz im Lager und beim Umschlag- VR 42: Soziale Unruhen - Von Streiks bis Revolution- VR 47: Krisenmanagement - Im Ernstfall richtig handeln Checkliste Was tun, wenn Ladung oder LKW gestohlen wurde? - Kontaktieren Sie sofort eine Hilfe leistende Stelle: Polizei, Rechtsanwalt, Konsulat, Verbandszentrale.- Machen Sie sich möglichst schnell Notizen zum Aussehen des Täters (Größe, Alter, besondere Merkmale) und des Fluchtfahrzeugs (Farbe, Modell, Fluchtrichtung, Kennzeichen). Denn: Die Erinnerung an Details verblasst schnell.- Halten Sie Namen und Kontaktdaten von Zeugen vor Ort fest.- Am Tatort gilt: Nichts berühren, nichts verändern.- Schreiben Sie auf: Wo war der LKW abgestellt (Parkplatz, Straße), wie waren Fahrzeug und Ladung gesichert? Warum wurde die Fahrt unterbrochen? Wie war der ungefähre Kilometerstand zum Diebstahlszeitpunkt?- Ist Ihnen vor der Tat etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Wurden Sie von anderen Fahrzeugen verfolgt oder von Personen während einer Pause angesprochen? Dann sollten Sie diese Beobachtungen unbedingt schriftlich erfassen und der Polizei mitteilen. cgQuelle: Landeskriminalamt Niedersachsen