Automobillogistik

Automobillogistik Auf der Achterbahn Ein paar Jahre solider Aufschwung, dann wieder ein leichter Abschwung. Das gibt es in der Automobilbranche schon lange nicht mehr. Vor welche Herausforderungen dies die Automobillogistik stellt, was Hersteller, Zulieferer und Spediteure jetzt tun. Noch vor wenigen Jahren ging es geradezu gemächlich in der Automobilindustrie zu: Wenn Daimler oder Volkswagen ihre Schichtplanung vorlegten, galten diese Zahlen mindestens für ein Quartal. Mittlerweile ist es in der Branche üblich, dass Hersteller und Zulieferer diese Pläne auf Wochen- oder sogar Tagesbasis ändern. Und von allen Unternehmen in der Lieferkette wird erwartet, dass sie mitziehen. „Es muss einfach schneller reagiert werden als früher“, fasst Ulrich Schorb zusammen, Mitglied der Geschäftsleitung Automotive bei Logistikdienstleister Rhenus. Der Branchenkenner beobachtet seit Jahren, dass die Volatilität in der Industrie zunimmt. „Logistikdienstleister müssen aus diesem Grund in der Lage sein, ihre Netze in ein bis zwei Tagen anzupassen“, so Schorb. Ein paar Jahre solider Aufschwung, dann wieder ein moderater Abschwung – das gibt es auf dem Automobilmarkt schon lange nicht mehr. Mittlerweile wechseln sich Boom und Absturz immer schneller ab. Das spürt natürlich auch die Transportbranche: Nahezu die Hälfte aller Unternehmen beobachtet, dass die Mengenschwankungen in den letzten zwei Jahren zugenommen haben, ergab eine Umfrage des Bundesverbandes Materialwirtschaft und Entsorgung (BME) im letzten Herbst. In der Automobilindustrie sind die Schwankungen besonders stark, denn hier sorgen zwei Faktoren für zusätzliche Unruhe: Zum einen ist die Variantenvielfalt stark gestiegen; alle OEMs bieten heute drei- bis viermal mehr Modelle an als noch vor 20 Jahren. „Dadurch werden kleinere Mengen in den Transportnetzwerken bewegt und bei kleineren Stückzahlen gibt es systembedingt größere Schwankungen“, erklärt Kai Althoff, Gründer der Unternehmensberatung 4flow, Berlin. Hinzu kommt, dass die Automobilindustrie global agiert und gerade in Schwellenländern kann sich die Lage schnell ändern. Ein Beispiel: In China wurde letztes Jahr die Abgasgesetzgebung verschärft, was die Nachfrage nach Dieseleinspritzsystemen kräftig angekurbelt hat. Zulieferer wie Bosch reagieren auf solche Ausschläge damit, dass sie zusätzliche Aufträge auf den weltweiten Fertigungsverbund verteilen. „Momentan produzieren wir und unsere Zulieferer zu einem großen Teil in Deutschland nur für China“, sagt Uwe Gackstatter, kaufmännischer Bereichsvorstand für Dieselsysteme bei Bosch, Stuttgart. Hinzu kommt, dass chinesische Kunden, anders als europäische, ihre Abrufe nicht Monate im Voraus ankündigen, sondern von einem Tag auf den anderen ändern. Dann heißt es schnell handeln: Vormaterialien müssten umdisponiert und zusätzliche Schichten eingeplant werden. „Auch die Lieferketten brauchen eine hohe Flexibilität“, betont Gackstatter. Bosch erwartet von seinen Logistikdienstleistern, dass sie das hohe Veränderungstempo mitgehen können. „Transporte müssen zum Beispiel von See- auf Luftfracht verlegt werden“, so Gackstatter. OEMS erwarten Hilfe von Logistikfirmen Auch im nationalen Geschäft gilt: Je wilder die Achterbahnfahrt der Branchenkonjunktur wird, desto mehr Hilfe erwarten die OEMs. Das Prinzip: „Der Logistikdienstleister hilft dem Kunden dabei, ein- und auszuatmen“, sagt Peter Weide, Vice President Automotive bei Rudolph Logistik. Das Unternehmen arbeitet für fast alle großen deutschen Markenhersteller, darunter Volkswagen, Audi und BMW. Weide findet, dass die Bewältigung von Volatilität keinen Ausnahmezustand darstellt, sondern geradezu zur Kernkompetenz der Logistiker zählt. „Das ist für uns normal.“ Wobei von echter Volatilität kaum die Rede sein könne, so Weide. „Wir sind in der günstigen Lage, dass es bei unseren Kunden seit 2010 fast nur nach oben geht.“ Zur üblichen Praxis gehört, dass die Hersteller das Personal der Dienstleister nutzen, um wirtschaftliche Schwankungen auszugleichen. Der Hintergrund: In den Konzernen haben die Gewerkschaften eine starke Präsenz, was auch dazu geführt hat, dass Zeitarbeiter den gleichen Lohn wie fest angestellte Kollegen bekommen müssen (Equal-Work-Equal-Pay-Regelung). Rechnet man den Zuschlag des Arbeitsvermittlers hinzu, sind solche Kräfte gar 30 Prozent teurer. Das macht Zeitarbeit für OEMs tendenziell unattraktiv. In der Logistikbranche dagegen gelten andere Tarifverträge. Ein Beispiel illustriert, wie die Autokonzerne diese Flexibilitätsreserve nutzen: Ein großer Markenhersteller unterhält in Osteuropa ein Werk, in dem Aggregate gefertigt werden (als Completely Knocked Down (CKD)-Sätze verpackt). Die Verpackung erledigen die Mitarbeiter eines Logistikdienstleisters. Bricht die Nachfrage aus irgendeinem Grund ein, handelt der OEM: Er holt den Auftrag zurück und betraut wieder eigenes Personal mit der CKD-Verpackung, der Dienstleister steht mit einer unbeschäftigten Mannschaft da. Dass der Kunde so handelt, ist völlig legitim, schließlich stehen in vielen Outsourcing-Verträgen mittlerweile Klauseln, die es dem Auftraggeber erlauben, Teilleistungen jederzeit zurückzuholen. Eine Mengengarantie für den Dienstleister gibt es nicht. Logistiker müssen mitziehen Schlägt das Konjunkturbarometer um, ist das als Erstes in den Werken spürbar: Gibt es zum Beispiel einen Nachfrageschub, wird von Zwei- auf Drei-Schicht-Betrieb umgestellt oder Wochenendarbeit eingeführt. Dass immer ganze Schichten auf- oder abgebaut werden, hat einen technischen Hintergrund: Das Tempo am Montageband selbst zu verändern wäre viel schwieriger, da dann Hunderte von Tätigkeiten neu abgetaktet werden müssten. Im Vergleich dazu ist es relativ simpel, eine zusätzliche Schicht zu fahren. Und wenn es dann zum Beispiel heißt „Wir arbeiten ab nächste Woche auch samstags“, wird von den Logistikern erwartet, dass sie mitziehen. Zusätzliche Transporte müssen organisiert werden, um die Teileversorgung zu sichern, zusätzliche Mannstunden sind nötig, falls der Dienstleister Vormontagen erledigt. „Deshalb ist es wichtig, ein flexibles Personalmodell zu haben“, betont Experte Weide von Rudolph Logistik. Dazu gehörten Arbeitszeitkonten, ein geeigneter Sockel an Zeitarbeitern – und natürlich eine flexible Mannschaft. Gerade wenn ein Kunde Samstagsschichten neu einführt, erzeugt das natürlich nicht immer Begeisterung. Was können die Logistikdienstleister noch tun, um Ausschläge zu dämpfen? „Insgesamt sollten Qualität und Präzision erhöht werden“, rät Unternehmensberater Althoff von 4flow. Wenn ein Dienstleister seine Durchlaufzeiten verkürze, spare das nicht nur Zeit, sondern nehme unter Umständen auch hausgemachte Volatilität aus der Lieferkette. Darüber hinaus rät Althoff, zusätzliche Dienstleistungen wie Cross-Docking anzubieten, auch als Einzellösung. „Hier gibt es immer noch Marktchancen – und eine Zahlungsbereitschaft bei den Kunden.“ Bei den Transport-dienstleistern, die überregional tätig sind, sieht der Berater noch Flexibilitätsreserven. „Kapazitäten müssen schneller zwischen den Regionen ausgetauscht werden können, das ist selbst in den großen Netzwerken noch nicht Status quo.“ Jeder versucht die Last weiterzureichen Grundsätzlich gilt: Jeder Teilnehmer in der logistischen Kette versucht, die Volatilität an das nächste Glied weiterzureichen. Und am Ende steht – der Spediteur. „Deshalb ist es so wichtig, als Transportdienstleister ein gutes Arbeitszeitmodell zu haben“, betont Rhenus-Geschäftsführer Schorb. Außerdem erwarten Hersteller und Zulieferer, dass die Speditionen auf neue Anforderungen schnell und präzise reagieren. Bosch zum Beispiel vereinbart mit Fuhrunternehmen Anlieferfenster. „An einigen Standorten wird das bereits über das Internet koordiniert“, so Bereichsvorstand Gackstatter. Hier zeigt sich das wohl wichtigste Mittel, um Volatilität einzudämmen. „In Zukunft brauchen wir die vollständige Digitalisierung der Lieferkette“, so Gackstatter. ❙❚■ Constantin Gillies, freier Journalist Die Serie In der Automobillogistik als Dienstleister erfolgreich punkten Die neuen Chancen und Herausforderungen im Automotive-Markt VR 5: Interview mit Schenker-Kontraktlogistik-Chef Thomas Böger VR 6: Best Practice: die Volatilität erfolgreich beherrschen VR 7: Umfrage: Was OEMs und Automobilzulieferer in der Logistik fordern VR 8: Automobilzulieferer VR 9: Die Wachstumsmärkte in der Automobillogistik von morgen Glossar: Volatilität Volatilität versus Megatrend Sobald sich in der Wirtschaft etwas heftiger bewegt, ist schnell von Volatilität die Rede. In der Mathematik beschreibt der Begriff lediglich stark schwankende Zahlen. Ein gutes Beispiel für steigende Volatilität liefert der Aktienmarkt: Wenn die Kurse früher innerhalb eines Tages um mehrere Prozent schwankten, war das am nächsten Tag auf der Titelseite der Wirtschaftszeitungen zu lesen – heute ist es nur noch eine Randnotiz. Besonders die Automobilindustrie ist für starke Umschwünge bekannt. Auslöser sind verkürzte Entwicklungszyklen, steigende Komplexität bei sinkenden Mengen pro Modell. Wie konjunktursensibel die Branche ist, zeigte sich zuletzt 2008 während der Finanzkrise, als die Umsätze innerhalb weniger Wochen um 50 Prozent einbrachen. Fakt ist aber auch: Nicht jede Nachfrage-schwankung hat mit Volatilität zu tun. Denn viel bedeutender als die kurzfristigen Störungen sind sogenannte Megatrends, also langfristige Entwicklungen. Dazu gehören der Aufstieg der Schwellenländer, die Alterung der Gesellschaft oder die Digitalisierung. Die Aufgabe für OEMs und Zulieferer besteht darin, zu erkennen, was ein Megatrend und was Volatilität ist. Ein Beispiel: 2013 brach in Indien die PKW-Produktion um neun Prozent ein. Dennoch baut Bosch in dem Land neue Fertigungsstätten, weil das Unternehmen glaubt, dass der Einbruch nur punktuell war (Volatilität), sich das Geschäft aber auf lange Sicht positiv entwickelt (Megatrend Schwellenländer-Boom). cg Interview „Spediteure können das nicht auffangen“ Was Hersteller tun sollten, um die Volatilität zu begrenzen, sagt Mike Sturgeon, Chef der europäischen Fahrzeuglogistik-Vereinigung ECG. Wie stark ist die Automobil-Distribution von starken Mengenschwankungen betroffen? Mike Sturgeon: Die europäischen Automobil-märkte sind momentan relativ stabil. Was wir sehen, ist eine starke Volatilität innerhalb der Monate, die auf Marketingaktivitäten der Hersteller zurückgeht. Gegen Ende des Monats steigen die Volumina massiv an, in einigen Gebieten müssen die Dienstleister in der letzten Woche doppelt so viele Fahrzeuge zu den Händlern transportieren wie in der ersten. Dieser Anstieg ist völlig künstlich – und total überflüssig, weil viele der hektisch gelieferten Fahrzeuge dann auf dem Hof der Händler herumstehen. Das gehört zu den frustrierendsten Dingen in der Branche. Können die Dienstleister diese Schwankungen nicht auffangen? Wie? Für die Spitzenzeiten zusätzliche LKW und Fahrer vorzuhalten wäre zu teuer. Nein, ich denke, die Speditions- und Logistikdienstleister können an dieser Situation, die Kosten und unnötigen Druck produziert, nichts ändern. Was können die Hersteller tun, um Mengenschwankungen zu dämpfen? Es wäre ganz einfach: Die Hersteller müssten nur zwischen Fahrzeugen unterscheiden, die ein Kunde geordert hat – und denen, die der Händler nur auf Vorrat bestellt. Für konkret bestellte Modelle könnte man etwa eine Durchlaufzeit von drei Tagen vereinbaren, für alle anderen fünf Tage oder mehr. Die OEMs verfügen über die nötigen Informationen. Das wäre kein Problem. Warum wird es dann nicht gemacht? Schwer zu sagen. Ich vermute, dass es den OEMs zu kompliziert ist, zwischen unterschiedlich eiligen Lieferungen zu differenzieren. Das könnte die Bewertung der Logistikdienstleister erschweren. Aber wir als Verband sprechen das immer wieder auf allen Ebenen an. cg Logistikdienstleister müssen in der Lage sein, ihre Netze in ein bis zwei Tagen anzupassen „In Zukunft brauchen wir die vollständige Digitalisierung der Lieferkette“ Uwe Gackstatter Kaufmännischer Bereichsvorstand für Dieselsysteme Bosch

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