Aufbruch auf der letzten Meile

DER E-COMMERCE IST hierzulande angekommen: Über 90 Prozent aller Deutschen kaufen mindestens einmal pro Jahr online ein, jeder Dritte sogar mehrmals pro Woche. Statt samstags in die Innenstadt zu fahren, shoppt der Bundesbürger lieber abends gemütlich auf der Couch. Überproportional legten dabei im vergangenen Jahr die Warengruppen "Einrichtung", "Täglicher Bedarf" - darunter Lebensmittel - und "Unterhaltung" zu, zeigen Zahlen des Bundesverbands E-Commerce und Versandhandel Deutschland (bevh). Der Bruttoumsatz im E-Commerce 2018 ist demnach erneut zweistellig um 11,4 Prozent auf 65,1 Milliarden Euro gewachsen. "Dass trotz der Zuwächse die Zustellung weitgehend problemlos funktionierte, ist der Leistung der Mitarbeiter in den Logistikzentren und Zustellorganisationen zu verdanken", betont bevh-Hauptgeschäftsführer Christoph Wenk-Fischer. Je stärker der Onlinehandel wächst, desto größer wird aber auch das Problem mit Retouren und Verpackungsmüll. Die jüngste Zufriedenheitsstudie des Händlerbunds, der jährlich mehr als 700 mittelständische Onlinehändler befragt, ergab, dass jeder fünfte eine Retourenquote über fünf Prozent verzeichnet. Ein Grund ist für den Verband das freimütige Bestellverhalten der Kunden. Und die Konsummuster der Verbraucher werden anspruchsvoller: Sie wünschen sich eine immer schnellere, flexiblere und bequemere Lieferung bis an die Haustür, natürlich ohne Zusatzkosten. Die internetaffinen Millennials im Alter von 22 bis 29 Jahren präferieren darüber hinaus Liefermöglichkeiten am gleichen Tag ("Same-Day") bis hin zur gleichen Stunde ("Same-Hour"). Vom Boom im Onlinehandel profitieren zwar auch die Kurier-, Express- und Paketdienste (KEP), die für den physischen Warentransport zum Endkunden sorgen. Eine große Herausforderung für sie sind aber die Verkehrssysteme, die mit dem wachsenden Warenverkehr noch nicht mithalten können. Jährliche staubedingte Wartezeiten von 51 Stunden in München oder 44 Stunden in Berlin machen deutlich, dass die städtische Infrastruktur vielerorts schon heute überlastet ist. Die zunehmende Verstädterung dürfte das noch verschärfen: Lebten zur Jahrtausendwende drei Viertel aller deutschen Bürger in Städten, werden es 2020 voraussichtlich 77,5 Prozent sein. Die UN geht bis 2050 sogar von 84,3 Prozent aus. Städtische Infrastruktur am Limit Auch für den Umschlag von KEP-Sendungen fehlt es an Platz in der City. Dabei ist im Vergleich zu einem Kauf im stationären Handel für einen Onlinekauf bis zu dreimal mehr Lagerfläche nötig, zeigt eine Untersuchung der Deka-Gruppe. Es sind also kreative Lösungen gefragt. Immer wieder diskutieren Experten beispielsweise eine gemeinsame Zustellung mehrerer Paketdienste. Sowohl einer konsolidierten Zustellung als auch einer gemeinsamen Nutzung von internen Daten steht bislang jedoch eine mangelnde Kooperationsbereitschaft der Dienstleister gegenüber. Sie fürchten den Verlust ihres Wettbewerbsvorteils. Dabei ließe sich mit der Analyse großer Datenmengen ("Big Data") aus einer dienstleisterübergreifenden Flottenauswertung die Entwicklung des Stadtverkehrs an Knotenpunkten vorhersagen ("Predictive Analytics"). Auch könnten Unternehmen historische Kaufund Bestellvorgänge auswerten, so das künftige Konsumentenverhalten antizipieren und Güter nah am Endkunden lagern, geht aus einer Untersuchung des Londoner Immobiliendienstleisters Savills hervor. Denkbar sind auch Plattformen, auf denen KEP-Dienstleister freie Kapazitäten ihrer Zustellflotte offenlegen, damit diese durch andere Anbieter genutzt werden können. Davon könnten vor allem die kleineren Player profitieren. Mit 57 Prozent Marktanteil ist DHL, gemessen an der Paketmenge, nach wie vor der Branchenprimus, gefolgt von Hermes (30 Prozent). Mit deutlichem Abstand folgen DPD (sieben Prozent), UPS (drei Prozent) und GLS (ein Prozent). Analog dazu entfielen 2016 mehr als zwei Drittel aller Umsätze auf DHL, schätzt der Bundesverband der Kurier-Express-Post-Dienste (BdKEP). KEP-Umsätze wachsen unterproportional Für das vergangene Jahr rechnet der Bundesverband Paket und Expresslogistik (BIEK) mit einem Sendungsvolumen von 3,53 Milliarden. Bis 2022 erwarten die Experten ein Volumen von mehr als 4,3 Milliarden Sendungen. Laut der "KEP-Studie 2018" des BIEK wuchs auch der Gesamtumsatz der Branche 2017 um 4,9 Prozent zum Vorjahr auf 19,4 Milliarden Euro. Demnach hat sich das Paketaufkommen zwischen 2000 und 2018 mehr als verdoppelt. Im gleichen Zeitraum sind die Umsätze aber nur unterproportional um rund 93 Prozent gestiegen. Die Folge ist ein enormer Kostendruck in der Branche, die sich immer wieder auch Lohndumpingvorwürfen ausgesetzt sieht (siehe Kasten auf Seite 5). "Unsere Branche hat ein grundsätzliches Problem, weil die Zustellung zu gering bezahlt wird", klagt Postchef Frank Appel. Der Branchenführer Deutsche Post musste zuletzt einen Gewinneinbruch im Paketgeschäft verkraften und will nun deutliche Preiserhöhungen durchsetzen. Die individuell vereinbarten Konditionen mit Firmenkunden stiegen im Januar überdurchschnittlich an. Auch die anderen Dienste drehen bei Großversendern an der Preisschraube: Hermes hatte zum Beispiel im vergangenen Frühjahr die Preise für Firmenkunden um 4,5 Prozent erhöht und weitere Anhebungen angekündigt. Bei DPD müssen Geschäftskunden seit Kurzem 6,5 Prozent mehr bezahlen. Dass einige Paketdienste nun auch die Haustürzustellung verteuern wollen, hält BdKEP-Vorstandsvorsitzender Andreas Schumann für einen "Irrweg". Einerseits müssten sie im B2C-Segment die Preise verdoppeln, damit bei den Zustellern genügend ankomme. Gleichzeitig führten Preiserhöhungen dazu, dass E-Commerce-Giganten wie Amazon oder Zalando noch mehr Pakete für zwei Euro zustellen, so Schumann. "In Zeiten der Digitalisierung wollen die etablierten KEP-Anbieter mit solchen Vorschlägen nur ihre veralteten Prozesslandschaften schützen. Will ich die Zukunft gewinnen, muss ich aber meine Prozesse anpassen und die Effizienz steigern, bis hin zur gemeinsamen Zustellung auf der letzten Meile - das ist der Weg! Denn die Durchschnittserlöse werden weiter sinken", sagte er im Interview in VR 12/2019. Anbieter drehen an der Preisschraube Der BIEK fordert darüber hinaus spezielle Haltebuchten für KEP-Dienste, die mit einem neuen Verkehrszeichen ausgewiesen sind. Denn in der Realität parken deren Zustellfahrzeuge immer wieder in zweiter Reihe und blockieren so die bereits überlasteten Straßen. Die bislang ausgewiesenen Ladezonen werden häufig falsch genutzt: Allein in Frankfurt/Main werden jährlich etwa 70.000 Verstöße geahndet, die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. Ein weiterer Ansatzpunkt zur Entlastung der städtischen Infrastruktur wäre die Lockerung von zeitlichen Zufahrtsbeschränkungen für die Einzelhandelsbelieferung durch Elektrofahrzeuge in den Abendstunden. Das geht aus der Studie "City-Logistik - Konzepte für die letzte Meile" der Norddeutschen Landesbank (Nord/LB) hervor. Sie listet alle derzeit diskutierten Ansätze übersichtlich mit Vor- und Nachteilen auf (Seite 6). Aus heutiger Perspektive wird sich laut der Studie davon wohl nur der Trend der Elektromobilität nachhaltig auf die Zustellung der letzten Meile auswirken. Im Alltag wird man also vermehrt elektrische Zustellfahrzeuge und vereinzelt auch elektrische Lastenräder sehen. Drohnen, Roboter, Kofferraumlieferungen, Crowd-Konzepte oder paketliefernde Taxis bleiben aber vorerst Randerscheinungen. Anja Kiewitt Löhne der Paketzusteller seit 2007 gesunken Trotz des Booms in der Branche ist das mittlere Bruttomonatsentgelt der Paketzusteller laut einem Bericht der"Rheinischen Post" (RP) von 2007 bis 2017 um 13 Prozent von 2859 auf 2478 Euro geschrumpft, während die Entgelte in der Gesamtwirtschaft um 23,7 Prozent gestiegen sind. Da die Statistik ausländische Subunternehmer nicht erfasst, sehe die Realität sogar"noch düsterer" aus. Immer wieder gerät die KEP-Branche wegen Dumpinglöhnen in die Schlagzeilen. Nur zwei der fünf großen Paketdienste in Deutschland arbeiten überwiegend mit eigenen Zustellern. Ansonsten werden fast ausschließlich Subunternehmen eingesetzt, die zunehmend mit Beschäftigten aus Osteuropa arbeiten, stellt die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi fest. In vielen Bundesländern haben jüngst Kontrollen von Zoll und Polizei zu Ermittlungen gegen diese Subunternehmen geführt. Verstöße gegen das Mindestlohn- oder das Arbeitszeitgesetz, Steuerhinterziehung wegen unzulässig im Ausland angemeldeter Fahrzeuge, Urkundenfälschung und illegales Einschleusen von Ausländern stehen im Fokus der Ermittler.FORDERUNGEN NACH EIGNUNGSPRÜFUNGEN FÜR SUBUNTERNEHMERDer Grund dafür sei der extreme Kostendruck, vor allem im B2C-Segment, gepaart mit einer unzureichenden Qualifikation der Zustellpartner, sagte Andreas Schumann, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands der Kurier-Express-Post-Dienste (BdKEP), im Interview in VR 12/2019. Dass sie mangels betriebswirtschaftlicher Kenntnisse zu schlecht verhandelt haben, realisierten die Subunternehmer oft erst dann, wenn die Erlöse nicht mehr reichen, um die Kosten zu decken. "Bewusst oder unbewusst können dann Verstöße auftreten", so Schumann. Um Abhilfe zu schaffen, sei ein Mix aus verbindlicher Eignungsprüfung, erweiterten Haftungsregelungen und Kontrollen nötig."Dazu gehört auch, dass die Unternehmer verstehen, was die Mehrwertsteuer ist, und der deutschen Sprache mächtig sind. Nur so können sie Gesetze verstehen und befolgen. Aktuell ist das keine Zugangsvoraussetzung, um als Unternehmer tätig werden zu können", betont der Verbandsvertreter.DISKUSSIONEN UM VERSCHÄRFTE NACHUNTERNEHMERHAFTUNGEine allgemeine Haftung des Generalunternehmers für das Tun oder Lassen seiner Nachunternehmer, wie sie Politiker seit Wochen diskutieren, lehnt er aber ab. "Wählt ein Unternehmen allerdings nicht sorgfältig seine Partner aus, dann sollte ihn die Generalunternehmerhaftung treffen", fordert der Verbandschef. Ein positives Signal im Kampf gegen den Niedriglohnwettbewerb in der Branche kommt derweil aus Bonn: Verdi und der Marktführer Deutsche Post DHL haben Ende März vereinbart, die rund 13.000 Beschäftigten der 46 Regionalgesellschaften, der DHL Delivery GmbH, zum 1. Juli 2019 aus dem Geltungsbereich der regionalen Tarifverträge für Spedition und Logistik in die Haustarifverträge der Deutschen Post AG überzuleiten. 2015 waren die Regionalgesellschaften gegründet worden. Die für sie geltenden Flächentarifverträge lagen zum Teil deutlich unter den Entgelten der Konzernmutter. Die ehemaligen Delivery-Beschäftigten erhalten künftig ein 13. Monatsentgelt, eine betriebliche Altersversorgung, Kündigungsschutz und eine deutlich bessere Entgeltperspektive. akw City-Logistik: Lösungsansätze auf einen Blick 1. UMNUTZUNG VON BESTANDSIMMOBILIENa) Brachliegende Gewerbeeinheiten und ausrangierte Super- und Fachmärkte- weisen meist nicht alle erforderlichen Eigenschaften eines Logistikgebäudes auf, sind aber als Urban- und Micro-Fulfilmentcenter nutzbarb) Parkhäuser oder Tiefgaragen- Nutzung unausgelasteter Parkhäuser oder Tiefgaragen (etwa frühmorgens oder nachts) schafft Logistikfläche und entlastet innerstädtischen Verkehrc) Ausgediente Industrieanlagen- Aufgegebene Industrieanlagen, Güterbahnhöfe oder Tankstellen weisen eine gute infrastrukturelle Anbindung auf2. INNOVATIVE NUTZUNGSKONZEPTEa) Mehrgeschossigkeit- bietet attraktives Kosten-Nutzen-Verhältnis (Kosten stehen höherer Flächennutzung bei bis zu 70 Meter hohen Gebäuden gegenüber) und effiziente Intralogistik ermöglicht Zeiteinsparungen; entgegen stehen strikte baurechtliche Regularienb) Multi-Tenant-Objekte- Mehrfachnutzung von Objekten durch verschiedene Parteien (besserer Ausgleich von Schwankungen in individuellen Lagerflächenbedarfen); entgegen steht die Notwendigkeit der Kooperationsbereitschaft der Parteienc) Mischnutzungsobjekte als Kompromisslösung- Verschiedene Nutzungsformen (Produktion, Logistik, Büro) in einem Objekt, wodurch Synergieeffekte entstehen; Bauweise idealerweise modular, wodurch Mehr- oder Minderbedarf flexibel skalierbar istd) Paketstationen- lassen sich gebündelt beliefern und Kunde kann Abholzeitpunkt selbst bestimmen; die Haustürbelieferung wird vom Kunden jedoch vorgezogen3. MOBILE FLÄCHENKONZEPTEa) Mikro-Depots- Engmaschiges Aufstellen von als Mikro-Depot dienenden Containern oder Lieferwagen (circa 15 bis 25 m²) verkürzt letzte Meile und ermöglicht teilweise Substitution von Logistikimmobilien- Besonders im innerstädtischen Raum geeignet; entgegen steht mangelndeRechtssicherheit (benötigen Sondernutzungsgenehmigungen)b) Flex-Hubs- Modularer Aufbau einfach zu verbindender Container ermöglicht bedarfsgerechte Flächenskalierung- Sinnvollster Einsatzort sind dezentral gelegene Gewerbegebiete; entgegen stehen baurechtliche Regularien4. INNOVATIVE ZUSTELLUNGSFORMENa) Nächtliche Belieferung- Ausgeführt von elektrischen Fahrzeugen, Stadtverkehr wird so entlastet, Lärm und Abgase werden reduziert; entgegen stehen strikte Regularienb) Lastenräder- ermöglichen flexibleres Zustellen (etwa durch Fußgängerzonen oder verkehrsberuhigte Bereiche) und können Lieferwagen teils ersetzenc) Autonome Drohnen und Roboter- könnten Paketströme in die Luft verlagern oder Zusteller entlasten; Hemmnisse: Technologiekosten und regulatorische Vorgaben akwQuelle: NORD/LB -Studie "City-Logistik - Konzepte für die letzte Meile"

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