Wie weit darf Streik gehen?

Der bislang längste Streik in der Geschichte der Deutschen Bahn ist zu Ende. Nach Angaben der Wirtschaft hat der Ausstand der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) massive Schäden verursacht. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertage Eric Schweitzer, bezifferte die Einbußen auf rund 500 Millionen Euro. Doch nun macht die Konkurrenz der GDL mobil. Auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) will mehr Geld und geht im Tarifkonflikt mit der Deutschen Bahn auf Konfrontationskurs. Viele Unternehmen stellen sich die Frage: Wie soll das weitergehen? 1 Weshalb kann die GDL mit ihren Streiks das ganze Land lahmlegen? Dazu muss man einen Blick auf das deutsche Streikrecht werfen. Es basiert auf der Koalitionsfreiheit, die im Grundgesetz in Artikel 9 Absatz 3 verankert ist. "Das grundlegende Problem ist, dass wir in Deutschland kein gesetzlich geregeltes Streikrecht haben", erklärt Stefan Greiner, Professor für Bürgerliches Recht, Arbeitsund Sozialrecht an der Universität Bonn. Das Streikrecht ist daher sogenanntes Richterrecht. "Das bedeutet, dass die Arbeitsgerichte in Einzelfallentscheidungen die juristischen Grenzen festlegen", so der Jurist. Damit ist das Streikrecht auch immer wieder Änderungen unterworfen. So hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) erst 2010 die sogenannte Tarifpluralität zugelassen, also die Möglichkeit, dass in einem Unternehmen für dieselbe Arbeitnehmergruppe verschiedene Tarifverträge gelten können. Auch der Streik einer Spartengewerkschaft wie der GDL ist daher rechtmäßig, wenn er die von der Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen erfüllt. 2 Wann ist ein Streik rechtmäßig? Ein Streik muss von einer Gewerkschaft beschlossen, organisiert und getragen sein. Ein nicht gewerkschaftlich getragener Streik ist als "wilder Streik" verboten. "Gestreikt werden darf außerdem erst nach Ablauf der sogenannten Friedenspflicht", erklärt Carsten Domke, Fachanwalt für Arbeitsrecht in der Kanzlei CMS Hasche Sigle in Frankfurt. "Das bedeutet, dass während der Laufzeit eines Tarifvertrages die Gewerkschaft über bestehende tarifliche Regelungen keinen Arbeitskampf führen darf." Es gibt noch weitere Einschränkungen: So dürfen mit einem Streik keine politischen Ziele verfolgt werden. Hinzu kommt, dass das verfolgte Ziel tariflich zulässig sein muss. Dazu zählen laut Domke etwa Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitregelungen. Auch das Ziel der GDL, nicht mehr allein für die Lokführer zu verhandeln, sondern auch für das übrige Zugpersonal in ihrer Mitgliedschaft einen Tarifabschluss erzielen zu wollen, ist rechtmäßig. Schließlich verlangt die Rechtsprechung, dass ein Streik das letzte Mittel ist und verhältnismäßig sein muss. 3 Sind die Streiks angesichts der weitreichenden Folgen für die deutsche Wirtschaft noch verhältnismäßig? Zwar muss ein Streik immer das letztmögliche geeignete Mittel sein. Das heißt, er kommt erst in Betracht, wenn alle Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. "Allerdings ist dieses Kriterium relativ schwammig", sagt Professor Greiner. "Letztlich entscheiden die Tarifvertragsparteien selbst, wann sie die Verhandlungen als ausgeschöpft betrachten. Einen Schlichtungszwang gibt es in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern nicht." Auch als unverhältnismäßig kann der Streik der GDL wohl nicht eingestuft werden. Von Unverhältnismäßigkeit kann man laut Greiner nur dann ausgehen, wenn die Schäden und Nachteile den Effekt des Streiks bei Weitem überwiegen. Allerdings sei die Rechtsprechung hier sehr großzügig. "Dazu müsste schon die wirtschaftliche Existenz des Gegners auf dem Spiel stehen", so der Professor. 4 Wäre auch ein unbefristeter Streik noch zulässig? Ein unbefristeter Streik ist nicht per se unverhältnismäßig. "Es gelten hier dieselben Voraussetzungen wie für jeden anderen Streik auch", erklärt Greiner. "Eine zeitliche Grenze gibt es nicht." Damit ein unbefristeter Streik unverhältnismäßig werde, sei eine erhebliche und langfristige Beeinträchtigung erforderlich. Wann die Angemessenheitsschwelle überschritten ist, kann daher nicht pauschal gesagt werden. 5 Welche Reaktionsmöglichkeiten hat ein Arbeitgeber wie die Deutsche Bahn gegenüber der Gewerkschaft? "Das wichtigste Ziel der Arbeitgeber ist es, die Streikfolgen möglichst gering zu halten, den Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmern auch nach Abschluss des Arbeitskampfes fortzusetzen", sagt Roland Wolf, Geschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Eine Aussperrung sei daher für den Arbeitgeber immer nur das äußerste Mittel. Außerdem habe die Rechtsprechung in den vergangenen Jahren die Aussperrung als Instrument für Arbeitgeber in weiten Teilen entwertet. Arbeitgeber wie die Bahn versuchen daher in der Praxis eher, den Betrieb mit arbeitswilligen Arbeitnehmern aufrechtzuerhalten. "Auch die Zahlung von Streikbruchprämien wird von der Rechtsprechung als legitimes Mittel angesehen", erklärt Anwalt Domke. Allerdings müsse der Arbeitgeber die Prämie im Vorfeld versprechen, im Nachhinein könne sie als Maßregelung der am Streik beteiligten Arbeitnehmer eingestuft werden. 6 Kann das geplante Tarifeinheitsgesetz Arbeitskämpfe wie den der GDL künftig verhindern? Lange galt im Deutschen Arbeitsrecht der Grundsatz "Ein Betrieb ein Tarifvertrag". Erst 2010 hat das BAG die sogenannte Tarifpluralität zugelassen. Die Bundesregierung will nun mit dem Tarifeinheitsgesetz zu dem alten Grundsatz zurückkehren. Für kleine Gewerkschaften könnte dies das Aus bedeuten. Professor Greiner bezweifelt aber, dass das geplante Gesetz den Tarifkonflikt lösen wird. Der Grund: "Zwar würden die Mobilisierungsmöglichkeiten einer kleinen Gewerkschaft wie der GDL beeinträchtigt, denn sie könnte ihren Mitgliedern keinen normativen Tarifvertrag mehr versprechen - der würde nämlich verdrängt vom Tarifvertrag der mitgliederstärkeren EVB." Ob der GDL damit allerdings auch Streiks untersagt wären, bezweifelt der Jurist. Sein Fazit: "Die Politik packt die arbeitskampfrechtlichen Probleme nicht an. Der richtige Weg wäre, ein geregeltes Arbeitskampfrecht zu schaffen. Das ist aber gegenüber den Gewerkschaften nicht durchsetzbar." BDA-Geschäftsführer Wolf sagt: "Das Tarifeinheitsgesetz regelt den Streik nicht. Darüber bestand auch immer Einigkeit. Es dient aber dem Ziel der Tarifautonomie, die Arbeitsbeziehungen zu ordnen und zu befrieden. Dies wird Auswüchsen von Arbeitskämpfen entgegenwirken. Es verhindert, dass der Streit um einzelne Beschäftigtengruppen in die Belegschaft hineingetragen wird." 7 Können die Bahn sowie geschädigte Unternehmen die Gewerkschaft auf Schadensersatz verklagen? Theoretisch können der Arbeitgeber sowie Drittbetroffene bei einem rechtswidrigen Streik Schadensersatzansprüche gegenüber der Gewerkschaft geltend machen. Aber: "Weil solche Regressforderungen schnell die Existenz einer Gewerkschaft bedrohen, liegt die Hürde für die Rechtswidrigkeit eines Streiks sehr hoch", sagt Greiner. Zudem mache sich die Gewerkschaft nur in eindeutig rechtswidrigen Fällen schadensersatzpflichtig, erklärt Anwalt Domke. In nicht eindeutigen Fällen urteilten die Gerichte zugunsten der Gewerkschaften. Selbst bei klar rechtswidrigem Vorgehen sei die Frage des Schadensersatzes gegenüber Dritten nicht abschließend geklärt. "Betroffene Unternehmen können sich daher auch bei rechtswidrigen Streiks nicht ohne Weiteres auf Regressforderungen verlassen, sondern müssen in erster Linie selbst sehen, wie sie den Schaden möglichst gering halten", rät der Anwalt. Streik Rechtswidrig oder rechtmäßig? Ist ein Streik rechtswidrig, hat der Arbeitgeber einen Unterlassungsanspruch gegenüber der Gewerkschaft. Da es in solchen Situationen eilt, kann er den Anspruch vor dem Arbeitsgericht im einstweiligen Verfügungsverfahren geltend machen. Dieses prüft, ob es den Streik tatsächlich als rechtswidrig einstuft. Die Deutsche Bahn hat das in der Vergangenheit schon versucht. Die Hürde liegt allerdings sehr hoch. Erst im Herbst 2014 scheiterte sie damit vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main - wohl auch ein Grund, weshalb sie beim aktuellen Arbeitskampf bislang auf rechtliche Schritte verzichtet hat. ir

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