Wer gibt bald den Ton an?

Jahrzehntelang galt in Deutschland der Grundsatz "ein Betrieb - ein Tarifvertrag". Das bedeutete: Allen Mitarbeitern mit derselben Tätigkeit standen grundsätzlich derselbe Lohn und dasselbe Gehalt sowie dieselben Arbeitsbedingungen (zum Beispiel Urlaub und Arbeitszeit) zu. 2010 kippte das Bundesarbeitsgericht allerdings das Prinzip der Tarifeinheit. Es ermöglichte so, dass in einem Unternehmen für eine Arbeitnehmergruppe mehrere Tarifverträge nebeneinander gelten. Künftig gilt das Mehrheitsprinzip Gewerkschaften wildern seitdem immer häufiger im Revier der Konkurrenz. Der Bundesregierung ist dies ein Dorn im Auge. Sie hat deshalb das Tarifeinheitsgesetz auf den Weg gebracht, das am 12. Juni den Bundesrat passierte und voraussichtlich im Juli in Kraft tritt. Es sieht im Kern vor, dass bei kollidierenden Tarifverträgen künftig nur noch der Tarifvertrag der Gewerkschaft Anwendung findet, die die meisten Mitglieder im Unternehmen hat (Mehrheitsprinzip). "Der Gesetzgeber möchte damit erreichen, dass die Gewerkschaften zunächst selbst versuchen den Konflikt zu lösen", erklärt Stefan Greiner, Professor für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Bonn. Sie können dazu unter anderem miteinander absprechen, wer für welche Arbeitnehmergruppe verhandelt oder etwa eine Tarifgemeinschaft bilden. Greiner: "Werden sie sich nicht einig, fällt am Ende der Tarifvertrag, den die Gewerkschaft mit weniger Mitgliedern ausgehandelt hat, unter den Tisch." Damit ist das neue Gesetz vor allem auf die klassische Konkurrenzsituation zwischen einer Branchen- und einer Spartengewerkschaft zugeschnitten. In der Kontraktlogistik streiten dagegen die beiden größten Arbeitnehmervertretungen Deutschlands. Verdi ist laut seiner Satzung traditionell zuständig für Spedition, Transport, Handel und Lagerei. Die IG Metall beruft sich ebenfalls auf ihre Satzung und erklärt sich für die gesamte Wertschöpfungskette zuständig. Ein Dilemma für die Kontraktlogistik: Produzierendes Gewerbe und Logistik rücken in diesem Wirtschaftszweig eng zusammen, Branchengrenzen verwischen. Das macht es so schwierig, die Sphären der Gewerkschaften klar abzugrenzen. Zuständigkeitsfrage beschäftigt Gerichte So wehrte sich 2012 die Firma Rudolph Automotive Logistik gegen die Zuständigkeit der IG Metall in ihrem Unternehmen. Das Arbeitsgericht in Frankfurt am Main entschied aber: Die Gewerkschaft darf auch mitmischen. 2011 gewann die IG Metall beim Logistiker Schnellecke in Zwickau das Kompetenzgerangel mit Verdi. Ein DGB-Schiedsverfahren kam zu dem Ergebnis, dass künftig die Metaller für das Unternehmen verantwortlich sein sollen. 2013 regelte das DGB-Schiedsgericht die Zuständigkeitsfrage beim Automobillogistiker Egerland Car Terminal dagegen zugunsten von Verdi. Für die Bestimmung der Tarifzuständigkeit einer Gewerkschaft komme es unter anderem auf den wirtschaftlichen Schwerpunkt eines Unternehmens an und nicht auf den Organisationsgrad einer Gewerkschaft, hieß es hier. Auch im Fall des Bremer Logistikdienstleisters Stute ist aktuell ein Vermittlungsverfahren beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), dem Dachverband der Arbeitnehmervertretungen, anhängig. Sollte es zu keiner Einigung kommen, könnte Verdi auch hier die Einberufung des DGB-Schiedsgerichts beantragen. Dessen Entscheidungen haben verbindliche Wirkung. "Damit können weder Gewerkschaften noch Arbeitgeber ein Urteil erneut angreifen. Bisherige Regelungen können auch nach Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes nicht neu aufgerollt werden", erklärt Maike Rademaker vom DGB. Das klärt jedoch nicht grundsätzlich die Frage , welche Gewerkschaft für die Kontraktlogistik zuständig ist. Denn der DGB fällt seine Urteile für jedes Unternehmen einzeln. Die Folgen sind für die Kontraktlogistik immens. "Die Unternehmen haben keine Planungssicherheit für Logistikausschreibungen", kritisiert Edina Brenner, Geschäftsführerin des Landesverbands Bayerischer Spediteure (LBS). "Personalkosten können für ein Angebot nicht mehr seriös kalkuliert werden, weil unklar ist, welcher Tarifvertrag gilt." Hinzu kommt, dass sich die Gewerkschaften mit ihren Lohnforderungen gegenseitig hochschaukeln. Gesetz könnte den Konflikt verschärfen Doch auch das Tarifeinheitsgesetz wird den Bruderzwist zwischen Verdi und der IG Metall nicht befrieden. "Das Gesetz wird den Konflikt sogar befeuern", warnt Andreas Stommel, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Spedition und Logistik Deutschland (ASL) im Deutschen Speditions- und Logistikverband (DSLV). Denn es sieht vor, dass sich die mitgliederstärkere Gewerkschaft im Unternehmen mit ihrem Tarifvertrag durchsetzt. Professor Greiner bestätigt: "Es ist tatsächlich so, dass beide Gewerkschaften den Abschluss eines Tarifvertrags verlangen können und dafür wohl auch streiken dürfen." Stehen die Tarifabschlüsse, müssen die Gewerkschaften in einem nächsten Schritt klären, wer im Betrieb die meisten Mitglieder hinter sich vereint. Rechtsexperte Stommel kritisiert: "Hier wird auf dem Rücken der Arbeitgeber der Konkurrenzkampf der Gewerkschaften ausgetragen. Der Betriebsfrieden leidet massiv darunter." LBS-Geschäftsführerin Brenner befürchtet, dass IG Metall und Verdi nun versuchen, sich wechselseitig Mitglieder abzuwerben. Arbeitgeber stehen dem hilflos gegenüber. Denn sie haben keinerlei Möglichkeit, die Zuständigkeit klären zu lassen. "Das DGB-Vermittlungsverfahren können nur die Gewerkschaften selbst beantragen", erklärt Stommel. Doch auch der Weg vor das Arbeitsgericht scheint für den Arbeitgeber aussichtslos. Das Landesarbeitsgericht Hamburg hat klargestellt, dass für solche Streitigkeiten allein das DGB-Schiedsgericht zuständig ist. Solange keine der Gewerkschaften es anrufe und solange kein entsprechendes Urteil vorliege, dürften beide Tarifverhandlungen verlangen und streiken (Aktenzeichen: 5 SaGa 1/14). Verband plädiert für zusätzliche Klausel Der DSLV hatte daher das Gesetzgebungsverfahren intensiv begleitet. Er begrüßt grundsätzlich den Initiative, die Tarifpluralität regeln zu wollen, hat aber für den Fall, dass zwei gleich große Branchengewerkschaften in einem Unternehmen konkurrieren, eine ergänzende Regelung gefordert. Zuständig sein solle hier die Gewerkschaft, die dem wirtschaftlichen Schwerpunkt des Betriebes am Nächsten steht. Diese Regelung entspräche der Entscheidungsdirektive des DGB-Schiedsgerichts. Doch sie fand keinen Eingang in das Gesetz. Letzte Chance ist damit das Bundesverfassungsgericht. Einige Gewerkschaften haben bereits angekündigt, die Verfassungsmäßigkeit prüfen zu lassen - darunter auch Verdi.

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