Weg vom Silo-Denken

MIT OFFENEN PLATTFORMEN wollen die Lkw-Bauer MAN und Mercedes-Benz ihre Telematiksysteme neu aufstellen. "Grundsätzlich finde ich die Idee gut. Das ist der erste Schritt weg vom Silo-Denken in der Telematik hin zu einer für alle nutzbaren Datenbank", urteilt Heinz-Leo Dudek, Professor an der dualen Hochschule Baden-Württemberg. "Im Grunde ist das aber alter Wein in neuen Schläuchen. Die ZF-Tochter Openmatics verfolgt diesen Ansatz schon seit ein paar Jahren", sagt der geistige Vater des Branchenportals Telematikwissen.de. Die Hersteller hätten jedoch gegenüber Openmatics den Vorteil, schon Tausende mit passender Hardware ausgerüstete Fahrzeuge auf den Straßen zu haben. Alle nutzen den gleichen Datentopf Auf den Namen RIO hört das neue System von MAN, dessen Vermarktung im Frühjahr 2017 starten soll. Dabei handelt es sich um eine offene, cloudbasierte Integrationsplattform. Über sie sollen die Daten aller Beteiligten an einer Lieferkette - vom Versender über Spedition und Transportunternehmen, Disponent und Fahrer bis hin zum Empfänger - über ein einheitliches Informations- und Anwendungssystem miteinander vernetzt werden. Mithilfe von Algorithmen verbindet RIO verschiedene Datenquellen und analysiert sie. Durch das Zusammenführen von Informationen über Zugmaschine, Trailer, Aufbauten, Fahrer und Auftrag sowie deren Kombination beispielsweise mit Verkehrs-, Wetter- oder Navigationsdaten soll das System seinen Nutzern konkrete Handlungsempfehlungen in Echtzeit liefern. Datenlieferanten sind unter anderem die in Truck und Trailer verbauten Telematiksysteme. Dabei soll sich RIO laut dem Hersteller auch für multimodale Verkehre eignen. MAN ist nach eigenen Angaben der Initiator von RIO und verantwortet im Bereich Digital Solutions die Entwicklung der Marke innerhalb von Volkswagen Truck & Bus, also auch für die Schwestermarken VW Nutzfahrzeuge und Scania. Das System arbeitet herstellerunabhängig und integriert auch Daten von Trucks konzernfremder Marken. Bestehende, als Einzellösung genutzte Systeme, wie für die Verwaltung von Ladung, Fahrzeugdaten, Wartung, Lagerhaltung von Ersatzteilen oder zur Fahrerdisposition - lassen sich auf die gemeinsame Plattform überführen. Ab Frühjahr 2017 sind neu ausgelieferte MAN-Lkw serienmäßig mit der RIO Box ausgestattet. Zudem kann sich jeder Scania-Kunde auf Wunsch mit der Plattform verbinden. Mittels einer Nachrüstbox für den DIN-Schacht lässt sich außerdem jedes beliebige Fahrzeug mit FMS-Schnittstelle in das Netzwerk integrieren. In Sachen Fahrerschnittstelle setzt MAN auf das Bring-Your-Own-Device Konzept. Das bedeutet die Nutzung eines eigenen mobilen Endgerätes. Durch die Cloud-Architektur lasse sich das System auch von kleineren und mittleren Unternehmen nutzen, da hierfür keine "ausgeprägten IT-Kenntnisse oder speziell geschulte Experten" zur Verfügung stehen müssen, heißt es seitens der Macher. RIO soll Silo-Lösungen zusammenführen Ähnlich wie bei Betriebssystemen von Smartphones lassen sich mit RIO verschiedene Apps nutzen, die in jedem üblichen Webbrowser laufen. Dabei wird es fahrzeugspezifische Services geben - etwa von MAN oder Scania - gleichzeitig aber auch einen Marktplatz für herstellerübergreifende Apps oder solche von Drittanbietern. Die Plattform arbeitet mit einem einheitlichen Benutzer-Interface für alle Funktionen (siehe Kasten rechts oben). "Es geht hier nicht darum, noch ein Telematiksystem auf den Markt zu bringen. Vielmehr haben wir RIO bewusst als offene Plattform konzipiert, die die zahlreichen Insellösungen zusammenführt", sagt Markus Lipinsky, Leiter des Bereichs Digital Solutions bei MAN. Für das aktuelle Telematiksystem von MAN, MAN TeleMatics, soll es eine Integration der Fahrzeuge ins neue RIO-System geben. Das bedeutet, dass alle Fahrzeuge, die mit dem Bestandsystem ausgestattet sind, mit RIO-Services kompatibel sein werden. Der Stern kontert mit einem App-Store Auch die Stuttgarter Konkurrenz setzt auf Offenheit. Die Daimler-Telematiktochter FleetBoard will 2017 ihren neuen Fleet-Board Store für Apps eröffnen. Bei der Vorstellung diesen Herbst wurden 14 Apps gezeigt. Die Plattform ist ebenfalls offen konzipiert. Daher können Branchenpartner wie Aufbauhersteller, aber auch App-Entwickler, Dienstleistungsanbieter oder Speditionen und Transportunternehmen eigene Programme beisteuern. FleetBoard stellt zudem eigene Applikationen und die der Muttergesellschaft in den Store ein (siehe Kasten unten). Die Apps lassen sich nicht nur in Lkw von Mercedes-Benz, sondern auch in denen anderer Hersteller nutzen. Voraussetzungen sind der Einbau einer FleetBoard Telematikplattform (TiiRec oder FleetBoard Truck Data Center) sowie das herausnehmbare Fahrer-Tablet FleetBoard DispoPilot.guide. "Der FleetBoard Store ist die konsequente Weiterentwicklung der umfangreichen Dienste, die FleetBoard seit über 15 Jahren weltweit Transportunternehmern bietet", sagt Dietrich Müller, Geschäftsführer von Daimler FleetBoard. Konnektivität ermögliche der Logistikbranche neue Lösungen, um den speziellen Bedürfnissen der verschiedenen Branchen gerecht zu werden. Ähnlich wie Konkurrent MAN hat auch Mercedes-Benz in diesem Jahr einen Bereich "Digital Solutions & Services" gegründet. FleetBoard ist ein Bestandteil des Bereichs. Das Telematiksystem erfasst Zustands-, Tour- sowie Positionsdaten des Fahrzeugs und überträgt sie via Mobilfunk an die Zentrale und bietet modular aufgebaute Dienste rund um das Fuhrpark-, Auftrags- und Fahrermanagement, die Kunden nach Bedarf buchen können. Alle im Store angebotenen Apps mit den zusätzlichen Funktionen durchlaufen einen Qualitätssicherungsprozess und sollen dadurch den FleetBoard Sicherheitsstandards entsprechen. Bei den Diensten ist die Datenübertragung inkludiert. Zum Download der Anwendungen sucht sich der Unternehmer an seinem Arbeitsplatz Apps aus und installiert sie per Funk auf dem Fahrer-Tablet - je nach Wunsch in einen einzelnen Lkw, in mehreren oder in der ganzen Flotte. Der Lkw-Fahrer kann die Apps über den DispoPilot.guide im Fahrzeug bedienen. Auf ihm werden auch alle Informationen aus den Apps rund um Fahrer, Fahrzeug und Auftrag dargestellt. Eigenes Portal für App-Entwickler Im zum Store gehörigen FleetBoard Developer Portal finden interessierte Entwickler künftig alle relevanten Informationen rund um den App Store und den Prozess, wie eine App eingereicht werden kann. "Wenn die beiden Plattformen in der Praxis jemals leisten, was das Marketing im Moment verspricht, steckt in der gemeinschaftlichen Datennutzung entlang der Logistikkette eine Menge Mehrwert drin", sagt Telematik-Experte Dudek. Entscheidend für das Ende der Silos sei, wie offen die Systeme in der Praxis für Dritte dann wirklich sind. Künftige Anwendungen von RIO Die Apps sind zum Teil RIO-eigene Services oder sie kommen von den Nutzfahrzeugherstellern sowie Drittanbietern. Zudem können Speditionen und Transportunternehmen eigene Anwendungen für das System entwickeln. Initialpartner von Rio sind unter anderem Continental, Schmitz Cargobull, Krone, Meiller und TomTom. Als Lösungspartner sind Microlise, Telogis und Idem vom Start weg dabei sowie BNS und LIS fungieren als Software-Partner. Zudem arbeitet RIO mit Start-ups wie Synfioo, ParkHere und Loadfox zusammen. Beispiele für künftige Anwendungen:Der Fahrer erhält über die App Driver's Connectivity auf sein Smartphone Informationen, beispielsweise neue Aufträge. Mit einem Klick startet die Navigation zum Kunden.Truck Share ist eine Funktion für die Shared Economy. Fahrzeugübergaben zwischen Fahrern können per digitalem Zugangsschlüssel erfolgen, direkt über das Smartphone.Loadfox ist eine Art Frachtenbörsen-App für das Auftragsmanagement von Teilladungen. Mit ihrer Hilfe sollen Lastwagen besser ausgelastet werden, indem nur teilweise beladene Lkw entlang ihrer Route weitere Ladung zugewiesen bekommen.Bis zum Start vorgesehen sind zudem Anwendungen zum Truck-Sharing, Fahrer-Coaching, Download der Daten aus dem digitalen Tachografen, Geo-Fencing und eine Fahrer-Community. sv Die ersten neuen Fleetboard-Apps Im Herbst dieses Jahres hat Daimler Fleet-Board die ersten Apps für den neuen Fleet-Board-Store vorgestellt. Im Laufe des Jahres 2016 sollen sie verfügbar sein. Dazu zählen Anwendungen von Brugg Lifting, Continental, Daimler, Dautel, DKV, FleetBoard, Palfinger, Schmitz Cargobull, TimoCom, Truck Parking Europe, UTA und Uvauvau.Beispiele für künftige Anwendungen: Mit der Dautel Schüttkegel-App weiß der Lkw-Fahrer schon vor dem Abladen, wie viel Platz er genau zum Abladen des jeweiligen Schüttguts benötigt.Die FleetBoard SpaceSnap-App unterstützt den Fahrer bei der Laderaumoptimierung, indem sie die Kamera des DispoPilot.guide nutzt, um das noch verfügbare Ladevolumen des Lkw zu erfassen.Die UTA FuelGuide-App führt Fahrer zu den aktuell günstigsten Tankstellen auf ihrer Route und berücksichtigt dabei neben dem Dieselpreis auch die Entfernung. sv