Risiko bei der Telematik-Auswahl minimieren

DER TELEMATIKMARKT IST unübersichtlich. Neben einer einstelligen Anzahl der Herstellerlösungen buhlt eine kaum zu überblickende, wohl dreistellige Schar von Drittanbietern um die Anwendergunst aus Transport und Logistik. Die Qual der Wahl für einen Unternehmer, der erstmals in Telematik investieren will oder eine neue Lösung für seine Flotte sucht, ist also groß. So mancher lässt sich dabei von Mund-zu-Mund-Propaganda leiten beziehungsweise verlässt sich auf Empfehlungen Dritter. Diese Herangehensweise kann aber auch nach hinten losgehen - denn wenig ist derart von individuellen Prozessen und Systemumgebungen abhängig wie Telematik. Das Risiko, am Ende aufs falsche Pferd gesetzt zu haben, sollte jedem, der vor der Anbieterauswahl steht, bewusst sein. Am Ende die bittere Erkenntnis zu erlangen, etwas gekauft zu haben, das an den Unternehmenszielen vorbeigeht, ist frustrierend genug. Hinzu kommt der Faktor, dass die Telematik für Fahrer intuitiv zu bedienen sein muss. "Fehler und Probleme erzeugen Frust und behindern, anstatt zu helfen. Im schlimmsten Fall sucht sich der Fahrer dann einfach einen neuen Job", sagt Christoph Groß, Digitalisierungsberater aus München. Für den Inhaber der Beratung SCC, das steht für Supply Chain Competence Center, ist die richtige Planung und Gestaltung des Auswahlprozesses schon das A & O auf dem Weg zur passenden Telematik-Lösung. Das Auswahlprojekt - soll es zum bestmöglichen Ergebnis führen - sollte daher auch im Umfang nicht unterschätzt werden. "Vom Starter-Workshop, in dem man definiert, was man eigentlich will, bis zum Kick-off-Meeting für die eigentliche Implementierung sollte man vier Monate einplanen", weiß der Digitalisierungsexperte. Auch wenn es mühsam erscheinen mag, spezifische Ziele möglichst früh zu definieren, der Aufwand lohnt sich. "Wenn ich nicht weiß, was ich will, bekomme ich im Grunde immer nur das, was der Anbieter kann", betont Groß. Erste Bedarfsanalyse Am Anfang des Auswahlprozesses steht daher die erste Bedarfsanalyse. Das Dilemma fängt ja schon damit an, dass die Ziele, die mit einer Telematik-Lösung erreicht werden sollen, je nach Unternehmen höchst unterschiedlich ausfallen. Geht es nur um detaillierte technische Analysen, Fahrstildaten und Echtzeitortung? Mit welchen im Unternehmen eingesetzten Drittsystemen muss die Telematik kompatibel sein? Erwarten bestehende Kunden bestimmte Services, etwa die Angabe der ETA (voraussichtliche Ankunftszeit)? Sollen Neukunden durch den Einsatz neuester Technologie gewonnen werden? Es ist also aus Anwendersicht nicht nur wichtig, sich darüber klar zu werden, was Telematik rein funktional bedeutet, sondern welchen Mehrwert man erzielen will. "Vielleicht ist ein Anbieter dann auch den einen oder anderen Euro mehr wert, weil er diesen Nutzwert nachweislich besser realisieren kann als andere", sagt Groß. Prozessanalyse und Lastenheft Bevor es an die Vorauswahl und Ausschreibung geht, sollte man nicht nur selbst wissen, was man will, sondern es dem Anbieter in spe unmissverständlich mitteilen. Zu den größten Risiken gehören schließlich Missverständnisse. Um dieses Risiko zu minimieren, ist ein Lastenheft obligatorisch, sagt Groß und empfiehlt die Nutzung anpassbarer Vorlagen. Ansonsten bedeute das viel Arbeit und könne durchaus bis zu mehrere Hundert Einzelkriterien enthalten. Hilfreich ist demnach, ein Lastenheft in Form von geschlossenen Fragen zu formulieren. Der Anbieter kann so auf jede Frage, die die Anwendung können soll, nur mit vordefinierten Antworten reagieren, die später automatisiert verglichen werden können. Dazu zählen beispielsweise Ja/Nein-Fragen mit Ergänzungen wie S (im Standard enthalten), A (Anpassung notwendig), P (mit Partnerprodukt abgedeckt) und N (geht nicht wie gefordert). Nicht zuletzt ermöglicht das Lastenheft, die Kontrolle über das Projekt zu behalten. Dies kann sich unter Umständen auch finanziell auszahlen. So zieht die Ausrede eines Anbieters, man habe eine Funktionalität "vergessen", schlichtweg nicht. "Wenn diese im Lastenheft als im Standard vorhandener Funktionsumfang vereinbart wurde, muss der Anbieter sie ohne weitere Entwicklungskosten umsetzen", betont Groß. Vorauswahl und Ausschreibung Bei der Ausschreibung, an deren Ende möglichst vergleichbare Angebote mit Erkennung der Stärken und Schwächen des jeweiligen Anbieters stehen, dürfen neben dem Lastenheft in einem beantwortbaren Format wie etwa Excel eine detaillierte Projektbeschreibung, eine vordefinierte Kostenstruktur und nicht zuletzt der Terminplan nicht fehlen. Wichtiger Teil der Projektbeschreibung ist das Mengengerüst, das heißt, welche Flottengröße, Anzahl von Fahrern/Disponenten oder abgewickelten Touren pro Tag das eigene Unternehmen vorweist. Diese Angaben bilden die Basis für die Kostenkalkulation und Preisgestaltung. Ein weiterer Faktor, der unbedingt schon im Anfangsstadium abgeklärt werden muss, ist die Integrationsfähigkeit der Telematiklösung in Drittsysteme, allen voran das Transport-Management-System (TMS). Wird eine Standardintegration zu Anbieter X zum Festpreis geboten oder ist eine "Zwangsheirat" von Systemen nötig? Werden neue TMS-Funktionen in die Telematik migriert und umgekehrt? Kein Schönheitswettbewerb "Kommen Sie mal vorbei und zeigen Sie Ihre Lösung" ist eine Herangehensweise, die beim näheren Kennenlernen von Telematikanbietern selten fruchtbar ist. Spätestens für die Workshops mit den potenziellen Kandidaten ist die Aufstellung eines Use Cases hilfreich. Da Telematik als Stand-alone-Lösung als mehr oder weniger sinnfrei gilt, sollte man sich die Zeit für eine beispielhafte Tourenaufstellung nehmen, in der jeder individuelle Prozess zwischen Fahrer und Disposition Schritt für Schritt abgebildet wird. "Workshops sind keine Schönheitswettbewerbe. Der Anbieter sollte sich mit Ihren Beispielprozessen befassen und nicht das präsentieren, was er selbst an seiner Lösung toll findet", merkt Groß an. Die Aussage, es gebe eine Standardschnittstelle zu bestimmten Drittsystemen, reiche bei einer Präsentation übrigens nicht aus, eine Live-Demonstration gerade im Zusammenhang mit der TMS-Integration sei immens wichtig. "Ähnliches gilt für die Hardware. Lassen Sie sich auf Endgeräten und nicht nur auf Powerpoint oder an einer PC-Simulation demonstrieren, wie das Ganze funktioniert", sagt der Digitalisierungsberater. Auch von Referenzkunden sollte man sich nicht blenden lassen. "Die Annahme, dass eine Installation beim Mitbewerber als Machbarkeitsnachweis für das eigene Unternehmen ausreicht, ist gefährlich", weiß Groß. So sei nicht gesagt, dass besagter Logistiker überhaupt noch mit dem System arbeitet und nicht längst mit einem anderem. Vor allem aber könne man gar nicht wissen, wie ein anderes Unternehmen das System nutzt. "Für manche ist der PC eine bessere Schreibmaschine - ähnlich verhält es sich mit der Telematik", sagt Groß. Vielleicht sollten ursprünglich alle möglichen Daten abgefragt werden, am Ende wurde aber vieles davon nicht genutzt, weil es vielleicht zu kompliziert oder teuer wurde? Man weiß es nicht. Herausforderung Vergleichbarkeit Geht es um die abschließende Kür des Anbieters, ist es mit dem detaillierten Vergleich der Lastenhefte und der Einordnung der Eindrücke aus den Workshops freilich nicht getan. Richtig knifflig wird es, wenn es um die Vergleichbarkeit der Kosten für ein Telematiksystem geht. Schon bei der initialen Investition im Jahr eins spielen viele Faktoren rein, die - je nach Bezahlmodell - über Kauf oder Miete der Software sowie Anschaffung und Einbau/Installation von zentral installierter Hardware und Mobilgeräten weit hinausgehen. Das können Kosten pro Transaktion sein, Wartungsverträge, etwaige Anpassungen, die in Rechnung gestellt werden, und immer wieder gerne die Programmierung von Schnittstellen zu Drittsystemen. Das Thema Mitarbeiterschulung und Beratung sollte genauso wenig außer Acht gelassen werden. Da Unternehmen ein Telematiksystem länger als ein Jahr nutzen, raten Experten wie Groß zur 10-Jahres-Hochrechnung. Hier spielt eine tragende Rolle, ob man sich für einen Kauf der Software oder ein Mietmodell entscheidet, welche Kosten pro Transaktion anfallen und welche Wartungskosten entstehen - etwa wenn Schnittstellen zu Drittsystemen Updates brauchen. Fairen Interessenausgleich finden Geht es am Ende darum, den "wasserdichten" Vertrag mit möglichst geringem Risiko für den Anwender abzuschließen, muss dem Unternehmer bewusst sein: Wie bei allen Verträgen geht es schlichtweg um einen Interessenausgleich zwischen zwei Parteien. Der Kunde dürfte sich eine Lösung wünschen, die alle für ihn notwendigen Funktionen mitbringt, die zu einem fixen Termin und möglichst ohne jegliche Beeinträchtigung des betrieblichen Ablaufs implementiert wird - und das alles zu einer fest vereinbarten Vergütung mit langfristiger Investitionssicherheit. "Ein Softwarehaus dagegen möchte in der Regel möglichst schnell Standardlösungen inklusive Wartungsverträgen liefern und so wenig wie möglich anpassen, um den Wartungsaufwand im Rahmen zu halten", sagt Groß. Ein guter Vertrag finde zwischen diesen Interessen einen angemessenen Ausgleich. Regeln zur Risikominimierung - Definieren Sie eine klare Vorgehensweise und ziehen Sie diese auch strikt durch- Lernen Sie Ihre eigenen Anforderungen genau kennen, kommunizieren Sie diese über die Projektbeschreibung und das Lastenheft und kontrollieren Sie diese konsequent bis zum Echtbetrieb- Verlassen Sie sich nicht auf Annahmen, sondern hinterfragen Sie permanent und lassen sich von der Richtigkeit der Aussagen des Anbieters überzeugen- Halten Sie bis zum Go-Live und danach Kosten, Aufgaben, Termine, Leistungen etc. unter Kontrolle Buchtipp Das Buch "Digitalisierung in Industrie, Handel und Logistik" von Digitalisierungsberater Christoph Groß und Dr. Roland Pfennig, Professor für Wirtschaftsinformatik im Studiengang Verkehrsbetriebswirtschaft und Logistik an der Hochschule Heilbronn, beschreibt ausführlich alle Aspekte der Digitalisierung in Industrie, Handel und Logistik - von der Prozessanalyse bis zur Einsatzoptimierung. Der Leitfaden zeigt auf, wie wichtig es dabei ist, sämtliche Funktionen, Daten und Prozesse für die entsprechenden Bereiche abzubilden und deren Relevanz für das eigene Unternehmen zu prüfen. Zahlreiche Beispiele und Expertentipps helfen dem Leser auf dem Weg zum "mündigen" Softwareanwender.Digitalisierung in Industrie, Handel und LogistikAutoren: Christoph Groß, Roland Pfennig Verlag:Springer Gabler 2., aktualisierte und erweiterte Auflage 2019

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