Längst in der virtuellen Welt

Ein führerloses Fahrzeug, das selbstständig entscheidet, welche Station es ansteuert. Oder der Einsatz von künstlicher Intelligenz - die Zeiten von an Flipcharts gepinnten CAD-Entwürfen für die Lagerplanung ist unwiderruflich vorbei. Big Data statt Bauchgefühl lautet die Losung der Stunde. Der Logistikmulti DHL und das IT-Unternehmen IBM haben dies bereits im vergangenen Jahr in einer gemeinsamen Studie verifiziert. "Die heutigen technologischen, geschäftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen begünstigen einen Paradigmenwechsel hin zu proaktiven und vorausschauenden Logistikoperationen mehr als jemals zuvor", erläutert Matthias Heutger, Senior Vice President und Global Head of Innovation bei DHL. Wichtigster Trend bei der Lagerplanung ist derzeit demnach der digitale Probelauf. Mit den Mitteln der Digitalisierung ziehen Unternehmen gewissermaßen einen Zwischenschritt ein, bevor sie etwaige Bauvorhaben in die Tat umsetzen. Gesammelte, aggregierte Daten bieten dabei deutlich mehr Planungssicherheit, wie schon zahlreiche in die Tat umgesetzte Beispiele zeigen. Überkapazitäten für Wachstum Die Schiettinger-Gruppe mit Sitz in Göppingen etwa ist ein Well- und Vollpappenhersteller mit 125-jähriger Tradition. Bis zum übernächsten Jahr erweitert das Familienunternehmen mit Unterstützung des Softwareherstellers KBU-Logistik und des Maschinenbauers SMB seine Lagerkapazitäten an gleich mehreren Standorten. Der Clou: Das Projekt basiert auf einer vorangegangenen Simulation des Lagerablaufs. Dafür wurden die Bewegungsdaten der letzten zwei Jahre samt logistischen Engpässen dokumentiert. Im Anschluss wurden alle Kennzahlen der einzelnen Fördertechnikbestandteile in einer Matrix zusammengefasst. Hierzu zählten die Arbeitszeiten beispielsweise der Fördertechnik, Eckumsetzer, Senkrechtförderer, Schwerkraftbahnen - in Abhängigkeit zum jeweiligen Palettengewicht - oder Shuttles. Das neue Lager planten die Verantwortlichen dann im Zuge der Simulation vorausschauend mit einer Überkapazität von 30 Prozent. Flaschenhälse frühzeitig erkennen Durch diesen virtuellen Lagerzwilling konnten die Projektpartner mögliche Engpässe zu Lastzeiten bereits vor der realen Inbetriebnahme identifizieren und aus dem Weg räumen. Ohne vorherige Simulation ist die Gefahr groß, dass sich Flaschenhälse erst im laufenden Betrieb zu erkennen geben. Probleme nachträglich zu beheben, erfordert dann häufig zusätzliche Investitionen. Die Kosten der Softwaresimulation lagen bei Schiettinger gemessen am Gesamtprojektvolumen bei lediglich zwei bis drei Prozent. Aussagekräftige Datenbasis nötig Und nicht nur das: "Derlei Projekte haben sich oft nach noch nicht einmal einem Jahr amortisiert. Die Lagerplanung mit einem digitalen Zwilling hat heute bereits einen hohen Reifegrad", sagt Axel Oppermann, Chef des IT-Analystenhauses Avispador aus Kassel, und ergänzt: "Wichtig ist aber, dass Unternehmen ihre Hausaufgaben gemacht haben und die zur Verfügung stehende Datenbasis sowohl umfangreich als auch aussagekräftig genug ist, damit man in der Simulation zu belastbaren Ergebnissen kommt." Heißt also: Ohne saubere Daten ist der Zwilling nicht genau genug. Großprojekte wie das bei Schiettinger sind vor allem für Logistiker interessant, die ein komplett neues Gebäude planen oder zumindest einen erheblichen Ausbau. Jedoch kann die digitale Lagerplanung auch für Teilprozesse interessant sein. Stichwort: bessere Planung der Lagerströme. Etwas, das gerade in konjunkturell schwierigeren Zeiten für Industrie und Produktion zunehmend an Bedeutung gewinnt. Dynamisch prognostizieren Die IT-Schmiede LIS - bekannt für ihre Logistiksoftware "Winsped" - hat dafür das "ETA Center" (Estimated Time of Arrival) entwickelt, das Transporte trackt und Ankunftszeiten mit mehr Genauigkeit prognostizieren soll. Das System errechnet unter Berücksichtigung der Verkehrssituation sowie der Lenk- und Ruhezeiten der Fahrer die voraussichtliche Eingangszeit von Transporten und überwacht diese fortwährend. So können Speditionen und Transportdienstleister ihre Kunden proaktiv über den aktuellen Zustellstatus der Ware informieren. Virtuell tüfteln in der "Höhle" Schon in der Planungsphase des Lagers können sich Unternehmen darüber hinaus auch persönlich in einem virtuellen Raum bewegen. Die Ehrhardt + Partner-Gruppe (EPG) hat speziell für die Logistikplanung und -beratung das erste Virtual-Reality(VR)-"Cave"-System, genannt "Holodeck", eröffnet (siehe Interview auf Seite 32). Cave steht für "Cave Automatic Virtual Environment", was wörtlich übersetzt so viel heißt wie "Höhle mit automatisierter, virtueller Umwelt". Herzstück des Holodecks von EPG ist ein Besprechungsraum, in dem mittels Projektion und Softwaretechnologie eine virtuelle Umgebung geschaffen wird. Prozesse besser veranschaulichen Hier können sich bis zu zwölf Personen auf einen computersimulierten 360-Grad-Rundgang durch ein virtuelles Lager begeben, und das ohne den Einsatz einer VR-Brille. Lagerinfrastruktur und -prozesse sollen sich im Holodeck realitätsgetreu abbilden und simulieren lassen. Die Königsdisziplin der digitalen Lagerplanung ist jedoch, wenn sich die Prozesse komplett von ihren angestammten Wegen lösen. Wie das in Zukunft aussehen kann, hat ein Forschungsprojekt nun für die Fertigung untersucht, das sich eins zu eins auf die Logistik übertragen lässt. Das gemeinsame Projekt der Fraunhofer-Arbeitsgruppe für Supply Chain Services SCS, Siemens, Simplifier und Kinexon Industries heißt "R2D - Road to Digital Production". Das Ziel: mit einer ganzheitlichen Produktion die Zusammenarbeit von Mensch und Technik verbessern und die bislang zentrale Planung der Fertigung und Materialbereitstellung durch Digitalisierung zu flexibilisieren und zu beschleunigen. Sich selbst steuernde Objekte Ein "Smart Production Tag" begleitet dazu das zu fertigende Produkt - im Projekt ein Elektromotor - durch den gesamten Produktionsprozess. Anhand der mitgeführten Produktdaten und der gewonnenen Kontextinformationen kann das Smart Production Tag eigenständig Prozessschritte erkennen, protokollieren und steuern. Die klassische Montagelinie weicht auf diese Weise modularen Fertigungszellen: Das Montageobjekt wird mit fahrerlosen Transportfahrzeugen an die entsprechende Fertigungszelle geleitet, in der es dezentral den nächsten Prozessschritt kommuniziert und einleitet. Leerlaufzeiten werden vermieden Es muss also nicht mehr den klassischen linearen Prozess ("Auf Schritt 1 folgt Schritt 2 folgt Schritt 3") einhalten, sondern kann auch ausweichen ("Auf Schritt 1 folgt Schritt 3 folgt Schritt 2"). Leerfahrten werden so vermieden, ebenso Leerlaufzeiten der Maschinen. Eine Blaupause auch für Logistik-Prozesse. Das auch deshalb, da die Werker in der Produktion ebenso digital vernetzt wurden, beispielsweise mit intelligenten Apps für Tablets, Smartwatches und Eye-Tracking, die ebenfalls die Prozesse optimierten. Am Ende gelang es den Forschern, die Fertigungsplanung von zehn Tagen auf eine Stunde zu senken. Auch die Steuerungsaufwände schrumpften, die Werker wurden entlastet. Dafür, dass die fahrerlosen Transportfahrzeuge lokalisiert werden und sich zur nächsten Fertigungszelle navigieren können, sorgt ein Echtzeitlokalisierungssystem. "Das perfekte Zusammenspiel zwischen menschlichen Arbeitskräften und solchen digitalen Hilfsmitteln wird künftig auch in der Logistik entscheidend sein. Die Teilautonomie etwa von führerlosen Fahrzeugen kann nur dann gelingen, wenn es an dieser Stelle keine Reibungspunkte gibt", urteilt Fachmann Oppermann. Zwar keine Reibungs-, jedoch Gefahrenpunkte kennt jeder Logistiker im Lager, etwa in der aufkommensstarken Vorweihnachtszeit im Handel. Eine Unmenge an Bestellungen kommt auf, hektisch geben Packer, Picker und Fahrer ihr Bestes, arbeiten unermüdlich an der Liefertreue - bis es passiert: quetschen, stürzen und kippen. Nach den Zahlen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) gibt es weiterhin mehr als 30.000 Arbeitsunfälle mit Gabelstaplern und Hubwagen pro Jahr. Arbeitssicherheit als Teil der Planung Entsprechend hoch ist auch der Stellenwert des Themas Arbeitssicherheit bei der Lagerplanung. Und auch hier kann die Digitalisierung unterstützen: Im Projekt "Visier" (virtuelle Sichtverbesserung) etwa feilen Experten des Instituts für Integrierte Produktion Hannover (IPH) und des Instituts für Transport- und Automatisierungstechnik (ITA) der Leibniz Universität Hannover gemeinsam mit drei großen Gabelstapler-Herstellern und weiteren Industrieunternehmen daran, das eingeschränkte Sichtfeld des Staplerfahrers zu verbessern. In dem Projekt lassen die Forscher die Mitarbeiter dazu quasi um die Ecke blicken, mittels Augmented-Reality(AR)-Brille. Die so generierte erweiterte Realität soll dafür sorgen, dass Fahrer künftig durch Hindernisse hindurchsehen können. Denn für sie ist es nicht leicht, am Steuer eines Gabelstaplers den Durchblick zu behalten. Reales Sichtfeld plus Kamerabild Hubmast, Fahrzeugdach und Ladung versperren in der Praxis oft die Sicht. Schon heute statten einige Hersteller ihre Stapler deshalb mit Kamera aus. Doch darin steckt auch ein Risiko, wie die Wissenschaftler festgestellt haben: "Je mehr der Fahrer auf Bildschirme in der Kabine schaut, desto größer wird die Gefahr, dass er Hindernisse oder Personen vor dem Fahrzeug übersieht", so die Forscher. Ähnlich dem Navi oder Smartphone im Auto, deren Ablenkung schon einige Fahrer hat verunfallen lassen. Mehr Durchblick für Staplerfahrer Nun soll dem Staplerfahrer aber die AR-Brille zur Seite stehen, ohne dass er den Blick von der Fahrbahn abwenden muss. Sein reales Sichtfeld wird nur vom Kamerabild überlagert. So bekommt er zusätzliche visuelle Hilfen projiziert und profitiert von den Kamerabildern. Schaut der Fahrer beispielsweise direkt nach vorn, sieht er den Hubmast und die Ladung sowie gleichzeitig das Bild der Frontkamera. Legt er den Rückwärtsgang ein und schaut über die Schulter, sieht er das Bild der Rückfahrkamera und gleichzeitig sein reales Sichtfeld. Egal, in welche Richtung er schaut: Es wirkt so, als könne er durch Hindernisse hindurchsehen. Auch Warnhinweise könnten so eingeblendet werden - etwa ein niedriger Ladezustand des Staplers oder ein gesperrter Weg. Um den Fahrer nicht zu überfordern und möglicherweise die Verkehrssicherheit zu gefährden, untersuchen die Wissenschaftler am IPH, in welchem Szenario welche Information wirklich benötigt wird. Zudem entwickeln sie eine Gestensteuerung, sodass der Fahrer intuitiv mit der AR-Brille interagieren kann. Fazit: Ganz gleich, ob es um den Lager-Neubau oder die Erweiterung des Bestandslagers geht, die virtuelle kann die echte Logistik-Welt mittlerweile beflügeln. Von der Planung über die Lagerführung bis hin zur engeren Verzahnung mit der Produktion.

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