Kein Märchen aus 1001 Nacht

Marokko: Was weiß man hierzulande schon über das Land? Die Hauptstadt? Nein, das ist nicht Casablanca. Die genaue Lage des Landes? Auch da dürfte die Mehrheit der Bevölkerung passen (zu beiden Fragen siehe Kasten Seite 31). Älteren Personen fällt zu Marokko vielleicht noch der legendäre Kinofilm "Casablanca" ein mit Ingrid Bergman, Humphrey Bogart und dem Song: "You must remember this, a kiss is still a kiss ...". Aber sonst? Marokko als Emerging Market Ähnlich dürfte es vielen Logistikdienstleistern in Deutschland ergehen. Marokko steht bei den meisten von ihnen wahrscheinlich ziemlich weit unten auf der Prioritätenliste - wenn überhaupt. Eine Fehleinschätzung womöglich. So sieht es jedenfalls Manfred Stamer: "Keine Frage, Marokko gehört zu den sogenannten Emerging Markets", sagt der Senior Länderrisiko-Analyst beim Kreditversicherer Euler Hermes. Emerging Markets? Dieses Prädikat eines aufstrebenden Marktes wird Staaten wie China, Indien oder der Türkei verliehen. Aber Marokko? "Marokkos Wirtschaft ist in den letzten zehn Jahren jährlich um durchschnittlich vier bis fünf Prozent gewachsen", begründet Stamer seine Einschätzung. Das Land setzt diesen Kurs fort. "Für 2014 rechnen wir mit einer Zunahme des Bruttoinlandsproduktes um 4,0 Prozent, 2015 gehen wir von 4,5 Prozent aus", sagt der Länderexperte. Das hört sich zwar gut an, aber wenn von Nordafrika die Rede ist, dann fallen in diesem Zusammenhang auch schnell Begriffe wie arabischer Frühling, islamistische Extremisten und Ebola. Doch Stamer beschwichtigt: Im arabischen Frühling war Marokko das Land, das mit am wenigsten von Unruhen betroffen war. Islamische Extremisten sind in dem Land - auch dank der Investitionspolitik der Regierung - bislang auch nicht auffällig geworden. "Marokko unterhält zudem nur wenige wirtschaftliche Beziehungen zu den von Ebola betroffenen Staaten", sieht Stamer darin ebenfalls keine große Gefahr. Ähnlich, aber nicht ganz so positiv, ist die Einschätzung von Friedrich Christian Haas, Geschäftsführer der Ake/Skabe GmbH, einem Beratungsunternehmen für globales Risiko- und Krisenmanagement. "Mit dem Konflikt um die West-Sahara schleppt Marokko noch eine Altlast mit, die immer wieder in kleineren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Militär und Befreiungsbewegung zum Ausdruck kommt", sagt Haas. Die West-Sahara wird von der dortigen Frente Polisario beansprucht, einer politischen und militärischen Organisation. Auch hinsichtlich der Unterstützung der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) ist Marokko nicht weiter auffällig. Es gibt laut Haas einen geschätzte Zahl von 1000 Personen aus Marokko, die sich dem IS in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Rückwirkungen auf Marokko durch Rückkehrer seien derzeit nicht zu beobachten, zumal der Staat hierauf ein scharfes Auge werfe. Aber weil die Wüstengebiete sich zur Rückzugsregion von Terroristen und Rebellengruppen (eher Al-Qaida nahestehend) in der ganzen Sahelzone entwickelt haben, gelten diese auch in Marokko als Gebiete mit erhöhtem Entführungsrisiko, so Haas. Noch sind in Marokko relativ wenige Dienstleister aus Deutschland tätig. Diejenigen, die den Schritt gewagt haben, haben dies nicht bereut. "Marokko hat sich als das stabilste Land während des arabischen Frühlings erwiesen", sagt Jörg Kilian, Leiter Customer Solutions in der Geschäftsstelle Schweinfurt der Schenker Deutschland AG. DB Schenker war von 1989 bis 2007 über einen Partner in Marokko vertreten. 2008 gründete das Unternehmen dann selbst eine Landesgesellschaft in Casablanca, um besser vor Ort verankert zu sein. Zwei weitere Dependancen befinden sich mittlerweile am Flughafen in Casablanca und in Tanger. Die Verzollung ist nach Aussage von Kilian sehr genau, allerdings das Procedere manchmal umständlich. "Wir transportieren viele Sendungen für die Automobilindustrie, aber auch Textilien, Schuhe, Elektronikwaren oder Healthcare-Artikel", sagt Jens Kratzer, Teamleiter Direct Service Unit Marokko in der Geschäftsstelle Schweinfurt von Schenker Deutschland. Als großes Plus beispielsweise im Vergleich zu Tunesien sehen die DB Schenker-Manager die exzellenten Fährverbindungen. "Vom Hafen Tanger fährt jede zweite Stunde eine Fähre ins spanische Algeciras. Da die Überfahrt nur zwei Stunden dauert, lassen sich Justin-time-Anforderungen viel besser erfüllen", hebt Kratzer einen wichtigen Vorteil hervor. Damit ist Marokko auf dem Landweg von Deutschland aus mit zwei Fahrern in drei Tagen erreichbar. Renault baut den Dacia in Tanger Das ist von Bedeutung beispielsweise für die Automobilindustrie. Vor allem Renault tut sich hier hervor. Zusammen mit Nissan haben die beiden Allianzpartner in Tanger eine Milliarde Euro investiert und ein Werk mit einer Kapazität von 400.000 Fahrzeugen errichtet. Derzeit werden dort Autos der Marke Dacia produziert. Zudem haben sich auch zahlreiche Automobilzulieferer in Marokko angesiedelt. Das ist auch ein wesentlicher Grund, warum die Robert Kukla Internationale Spedition in München Marokko regelmäßig anfährt. Kukla ist Gebietsspediteur für VW. "Wir transportieren diverse Rohmaterialien, Kabelsätze oder Dichtungen und weitere Komponenten von Marokko in die europäischen VW-Werke", sagt Daniel Coni, Gruppenleiter Marokko. Aber Kukla hat auch Kunden aus anderen Branchen in Marokko wie den Textilhersteller Fruit of the Loom. Für einen mittelständischen Spediteur wie Kukla lohnt sich jedoch nicht eine eigene Niederlassung vor Ort. Deshalb arbeitet die Spedition in Marokko mit Agenten zusammen. "Die sind uns von anderen Agenten in Spanien empfohlen worden. Aber man muss natürlich vor Ort auch mit ihnen sprechen", sagt Coni. Er bevorzugt dabei einheimische Speditionen. Als die größten Konkurrenten hat Coni die Kollegen aus Spanien ausgemacht, die aufgrund der geografischen Nähe stark vertreten sind. Aber auch englische und nicht zuletzt französische Speditionen spielen aufgrund ihrer Sprachvorteile (offizielle Geschäftssprachen sind arabisch und französisch) eine wichtige Rolle. Neben der Nähe zum europäischen Festland hat Marokko noch einen weiteren geografischen Vorteil: Das Land liegt genau an den Routen der Containerreedereien zwischen Asien und Europa. Alle Schiffe, die über den Suez-Kanal fahren, müssen durch die Meerenge von Gibraltar. Ein Abstecher nach Tanger ist ein Katzensprung. Containerhafen platzt aus allen Nähten Der dortige Containerhafen genügt internationalen Ansprüchen. Eurogate betreibt dort eine Anlage gemeinsam mit den Reedereien MSC und CMA/CGM. 2013 wurden dort 1,065 Millionen TEU (20-Fuß-Container) umgeschlagen. Die Maersk-Tochter APM-Terminals betreibt im Tanger Med 1 ein Terminal der gleichen Größenordnung. Insgesamt kam der Hafen 2013 auf einen Umschlag von 2,56 Millionen TEU. Geplant ist der Bau einer weiteren Anlage (Tanger Med 2), da die Kapazitätsgrenze von drei Millionen TEU fast erreicht ist. Unterstützt werden diese Vorhaben von dem marokkanischen Staat. Im Gegensatz zu vielen anderen Wüstenstaaten ist das Land nicht mit Öl gesegnet. Stattdessen versucht die Regierung, neue Industrien anzusiedeln. Dazu gehört die Auto- und Textilindustrie. Weiterhin zählen dazu die Flugzeugindustrie und der Ausbau der erneuerbaren Energien (Wind- und Solarkraftwerke). Zahlreiche Investitionsprojekte sind hier geplant. Aber auch die Logistik wird von der marokkanischen Regierung unterstützt. Neben Umschlaganlagen in den Häfen werden neue Autobahnen gebaut und es erfolgen Investitionen in das Schienennetz. Ziel der Regierung ist es, Marokko zu einer Logistikdrehscheibe zu machen. Davon will auch die Oldenburg-Portugiesische Dampfschiffs-Rhederei (OPDR) profitieren. Die auf Short-Sea-Verkehre spezialisierte Reederei hatte letzte Woche angekündigt, ihr Engagement in Marokko auszudehnen. Seit dem 16. Oktober bietet OPDR einen neuen, wöchentlichen Dienst zwischen Agadir und Nord- und Südeuropa an. In den eigenen 700 TEU-Schiffen können auch bis zu 120 Kühlcontainer befördert werden. Das Unternehmen hat sich auf Door-to-door-Transporte konzentriert und arbeitet bei der Verzollung und beim Transport in das Hinterland mit ortsansässigen Unternehmen zusammen. "Wir sehen Marokko als einen Wachstumsmarkt an, der ein stabiles Umfeld bietet und die Rolle eines Brückenkopfes nach Europa ausübt", begründet Till Ole Barrelet, Geschäftsführer von OPDR, das Engagement. Während beispielsweise Spanien und Portugal nachhaltig unter der Krise gelitten hätten, habe es in Marokko zwar einen Rückgang des Wachstums gegeben, das Bruttoinlandsprodukt sei aber nicht gesunken. Er beobachtet, dass sich viele Unternehmen aus Europa in Marokko niederlassen. Daher plant Barrelet auch schon weiter: "Wir werden demnächst auch Tanger anlaufen und sind damit in allen drei wichtigen Häfen in Marokko präsent." Barrelet lobt die guten Verkehrswege: "Wenn man dort auf der Autobahn unterwegs ist, spürt man keinen Unterschied zu Deutschland", sagt er. Selbst als Marokko-Experte findet er es erstaunlich, wie viel Geld das Land in die Infrastruktur investiert. "Wenn Sie hier Textilien produzieren, sind die in vier Tagen in Deutschland. Aus China dauert es mehr als 40 Tage", nennt er einen großen Vorteil. Marokko ist also ein Land, das wächst, gerade auch im Bereich Logistik und Transport. Vielleicht kommen Dienstleister, die den Schritt nach Marokko wagen, zum gleichen Ergebnis wie Humphrey Bogart mit seinem legendären Satz in dem Film "Casblanca": "Ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft." Die Serie Länder mit Potenzial Wenn es um Staaten geht, die als Wachstumsmärkte gelten, werden häufig Länder wie China, Rumänien oder Bulgarien genannt. Unsere Serie lässt den Blick an den Rand der EU schweifen und stellt Ihnen eher unbekannte Länder vor. Wir gehen auf deren Stärken, Schwächen und Besonderheiten ein und geben Hinweise, worauf zu achten ist, wenn man hier Fuß fassen will. Den Auftakt macht Marokko. Im zweiten Teil in der VR 47 stellen wir Kasachstan vor. cd Marokko Länderportrait*- Fläche: 710.850 Quadratkilometer (Deutschland: 357.168); Kernland: 446.550 Quadratkilometer (ohne Westsahara, der südliche Teil Marokkos)- Wachstum Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2013/2014/2015 in Prozent: 4,3/4,0/4,5- BIP/Kopf in US-Dollar: 3199 (44.999)- Einwohner in Millionen: 33,2 (80,8)- Arbeitslosenquote 2013 in %: 9,2 (6,9)- . Analphabetenrate 2011 in %: 32,9- Hauptstadt: Rabat- Religion: Islam- Regierungsform: Konstitutionelle Monarchie- Landessprache: arabisch; Geschäftssprache: französisch*in Klammern: Zahl für Deutschland Quellen: AHK, Auswärtiges Amt, Euler Hermes, eigene Recherche

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