Große Portion Unvernunft

Er gilt als Urmeter aller Power-Trucks. Kaum ein Testbericht, in dem nicht vom "King of the Road" die Rede ist. Seine Nutzer bescheinigen ihm biblische Laufleistungen, seine Fahrer schwärmen vom unnachahmlichen Sound und unbändiger Kraft. Sie wissen es schon - die Rede ist vom Scania V8 in seiner stärksten Leistungseinstellung. Doch jetzt ist alles anders. Vorbei die Zeiten, als er sich mit den Achtzylindern von MAN und Mercedes um die Krone balgte. Dem "Reihensechser" gehört die Zukunft! Der soll viel effektiver, schadstoffärmer, aber nicht schwächlicher sein. Doch so, wie sich das kleine gallische Dorf Cäsar nicht beugte, beugt sich Scania nicht den Unkenrufen der Konkurrenz. Der V8 bleibt! Und trotz der unverändert 730 PS und 3500 Nm schafft er Euro 6. Doch zu welchem Preis? Vorbei die Zeit des Boller-Sounds Erster Eindruck nach dem Schlüsseldreh: Leise ist er geworden. Das typische Bollern des V8 ist zum leisen Wummern verkommen. Immerhin fährt es sich so im Schweden-Boliden sehr angenehm. Es soll ja Fahrer geben, denen der Lärm mit der Zeit auf die Nerven geht. Die Gefahr besteht im Euro-6-V8 ganz sicher nicht mehr. Zudem hat der Achtzylinder auch nach der Umstellung auf die neue Schadstoffnorm nichts von seiner Kraft verloren. Mit dem variablen Turbolader hängt er spontaner am Gas als früher. Zudem schaufelt der Turbo mehr Luft in die Brennräume. Denn gegenüber Euro 5 ballert der 730er jetzt wenigstens 50 Umdrehungen früher los. Trotz 40 Tonnen setzt der Schub schon bei 900 Touren ein. Ein Indiz sind noch mal bessere Fahrleistungen. Der Kritik, der Achtzylinder habe keine Lust auf hohe Drehzahlen, begegnet das Powertriebwerk ganz profan: Ist nicht nötig! Selbst unter Last steigt der Tourenzähler nie über 1500/min. Vielmehr ackert sich der 16,4- Liter im zwölften Gang bei 950 Umdrehungen die Berge hoch - wo andere, kaum weniger kräftige Trucks, mit 1600 Touren im Elften jubeln. 3500 Newtonmeter heißt "Overdrive" Das niedrige Drehzahlniveau ist einem im 730er verbauten Overdrive-Getriebe geschuldet. Mit einer Gesamtübersetzung von 1:2,34 - die "längste", die wir jemals im Test hatten - erinnert der DC 16 mehr an einen Schiffsdiesel denn an einen dynamisch arbeitenden Lkw-Motor. Dynamisch ist er dennoch. Es verwundert nicht, dass der R 730 einen neuen Rundenrekord auf die VR-Teststrecke brennt. Und dass er nicht noch schneller ist, hat nichts mit mangelndem Leistungsvermögen zu tun, sondern vielmehr mit Überholverboten, hoher Verkehrsdichte und langsamen Brot-und-Butter-Trucks um ihn herum. Der Spielplatz des Scania R 730 liegt eindeutig in südlichen Gefilden, wo die Berge steil sind und Überholverbote fehlen. Die Schaltstrategie des automatisierten Opticruise-Getriebes ist perfekt an die Fähigkeiten des V8 angepasst. Die Kupplung arbeitet sauber. Scania passt den Kraftschluss bei den Schaltungen vor allem durchs blitzartige Synchronisieren der Motor- und Getriebedrehzahlen an. Entsprechend kurz fallen die Schaltzeiten aus. Doppelkupplungs- oder "Speed-Shift"-Niveau erreichen die Schweden zwar nicht ganz. Dieses Manko machen die spontane Gasannahme und das bereits beschriebene, niedrige Drehzahlniveau des Motors aber wieder wett. Schaltrucke, wie man sie von anderen automatisierten Getrieben kennt, unterbleiben völlig. Dass Scania bei der Zweipedal-Version von Opticruise eine elektrohydraulische Betätigung verbaut, ist allenfalls im Hinblick auf die Wartung ein kleines Manko. Im Test-Lkw war eine Vollluftfederung verbaut, die den Fahrkomfort des Schweden auf ein höheres Niveau hebt. Im Vergleich zu früher getesteten Fahrzeugen mit dem schwer auf der Vorderachse lastendem V8 wirkte der Test-Lkw viel weniger kopflastig, lenkte geschmeidiger ein und federte erheblich komfortabler. Die ebenfalls von anderen Probanden bekannten Störungen in der Lenkung - Vibrationen und Schläge - sind in diesem Fall komplett getilgt. Wären da nicht die hohen Kosten und das Zusatzgewicht, fände die Vollluftfederung unseren ungeteilten Beifall. Trotz der optionalen Vierbalg-Luftfederung an der Hinterachse darf man an dieser Stelle kein so hohes Komfortniveau erwarten. Fast schon gebetsmühlenartig wiederholen wir die schon oft geäußerte Kritik: Mit ordentlich Sattellast federt der Scania gut. Geht es in Richtung Teilbeladung oder Leerfahrt, erinnert die Federung auf der Hinterhand allerdings an die seligen 140er, die nicht ganz zu Unrecht den Ruf einer "Folterbank" hatten. Zugegeben, so schlimm ist es heute nicht mehr annähernd ... Wirkungsvoll zeigt sich die Betriebsbremse des R 730. In bestimmten Situationen ist es durchaus von Vorteil, dass der Fahrer im Scania den "Bremsomat" über einen kurzen Tipp aufs Bremspedal aktivieren kann. Ist - wie im Test-Lkw - ein Retarder verbaut, verzögert der Schwede bergab zuverlässig beim gesetzten Tempo. Auch mit der Umstellung auf Euro 6 bleibt Scania der Philosophie von der Auspuffklappen-Motorbremse in Kombination mit dem jetzt verlustleistungsreduzierten Retarder (4100 Nm Bremsmoment) treu. Aus Sicht des Komforts und der Sicherheit ist gegen die Retarderlösung nichts einzuwenden. Angesichts von mehr als acht (!) Tonnen Leergewicht allerdings schon. Das können Hersteller, die auf ventilgesteuerte Turbomotorbremsen setzen, einfach besser. Zumal man aus aktuell mehr als 16 Litern Hubraum problemlos 600 Brems-PS herausholen könnte. Ein Blick zu den Kollegen von MAN könnte da nicht schaden. Der neue "D38" der Münchener kommt auch bei 40 Tonnen problemlos ohne Retarder klar. Nachhilfe aus München? Zumindest muss sich Scania bei der Kabine keine Nachhilfe aus München holen. Beide Hersteller offerieren inzwischen Fahrerhäuser, die - so unterschiedlich sie auch sind - eine Überarbeitung vertragen könnten. Immerhin ist im Scania der Fahrerplatz noch immer sehr gut strukturiert. Alles andere ist aber deutlich in die Jahre gekommen, nicht mehr wirklich geschmackssicher, wirkt teilweise altbacken, und es fehlt an allen Ecken und Enden an Bewegungsfreiheit. Schmale Liegen trotz des umständlich handhabbaren Ausziehbetts, ein großer Motortunnel mit eingeschränktem Durchstieg und ein weit in den Innenraum ragendes Armaturenbrett - die Topline-Kabine ist top im Hinblick auf die Ergonomie des Fahrerplatzes. Allerdings nicht, wenn es um Staufächer oder üppiges Raumgefühl geht. Gut 930 Liter Stauvolumen sind dennoch akzeptabel. Wer allein unterwegs ist, spart sich am besten das obere Bett. Klasse ist das trotz vieler Funktionen leicht bedienbare Multifunktionslenkrad mit seinem einfachen Verstellmechanismus. Xenon-Scheinwerfer muss man nicht haben, das Halogen-Licht ist durch seine augenfreundliche Fahrbahnausleuchtung besser. Die Kabinenklimatisierung hat Scania bis heute nicht perfekt im Griff. Trotz aufpreispflichtiger Klimaautomatik bleibt die Temperatur nicht konstant, die Frontscheibe verzerrt den Blick im Seitenbereich und die mächtigen Spiegel vergrößern den toten Winkel. Bleibt am Ende festzuhalten, dass der Schwede mit Euro 6 nichts von seinen geschätzten Tugenden verloren hat. Der V8-Motor ist ein tolles Power-Aggregat, das aber im Verbrauch nicht mehr ganz mit den aktuellen Konstruktionen mithalten kann. Vor allem im Teillastbereich sind die neuen Sechszylinder besser. Test mit Referenz-Lkw Testen wie die Industrie Jeden VR-Profi-Test begleitet der redaktionseigene New Actros 1845 mit Voll- und Teilausladung (40/24 Tonnen). Mit diesen Kombinationen haben wir unter Normalbedingungen (windstill, trocken, 20°C) Basiswerte für die Verbrauchsmessung erfahren. Ändern sich bei der Testfahrt die äußeren Bedingungen durch Wind, Regen oder Temperatur, ändert sich auch der Verbrauch des Referenz-Lkw. Um diese Abweichung können wir die Verbrauchswerte des jeweiligen Test-Lkw korrigieren und schaffen eine Basis, alle Werte unserer Einzeltests vergleichbar zu machen. Da die Messwerte je nach Witterung um bis zu zehn Prozent abweichen, halten wir eine vergleichende Darstellung ohne Referenz-Lkw für nicht legitim. gg Die VR fährt CO2-neutral Verantwortung zeigen! Die VerkehrsRundschau gleicht das bei den Lkw-Tests anfallende CO2 durch Emissionsminderungszertifikate aus. Unsere Beiträge fließen in ein Windenergieprojekt in Bandirma/Türkei, das höchste Kriterien der Nachhaltigkeit erfüllt. Uns unterstützt dabei der Anbieter ClimatePartner. Über den QR-Code lässt sich die Kompensation nachvollziehen.

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