Goliath unter den Zwergen

Die Bezeichnung Maximum will im Zusammenhang mit der "kleinen" Mercedes-Verteilerbaureihe Atego eigentlich nicht recht passen. Und dennoch trift sie auf den Testwagen zu - und zwar in dreifacher Hinsicht: Denn der 1530 bietet 15 Tonnen Gesamtgewicht und kratzt damit an der oberen Grenze des Atego-Programms und er wird - wie es die beiden hinteren Zahlen der Typenbezeichnung verraten - vom 299 PS starken 7,7 Liter großen Sechszylinder angetrieben. Das ist die stärkste lieferbare Atego-Motorisierung. Und zu guter Letzt spendierte Mercedes mit dem BigSpace noch die größtmögliche Kabine, die aus dem Atego einen vollwertigen Fernverkehrs-Lkw machen soll. Doch wird der 1530 damit auch zum Traum-Truck unter den Verteilern? Souverän arbeitender Antriebsstrang Um die Chancen darauf zu erhöhen, spendierte Mercedes dem Atego 2013 eine umfangreiche Verjüngungskur. Anders als bei den größeren Brüdern Antos beziehungsweise Actros blieb der bisherige Rohbau allerdings erhalten, worüber die neu gestaltete Frontpartie optisch nur auf den ersten Blick wegtäuschen kann. Deutlich mehr tat sich unterhalb der Kabine: Der OM-936-Sechszylinder kam neu in den Maschinenraum, wie auch die serienmäßige, automatisierte Sortierung der acht Fahrstufen mittels Powershift 3. Beides gepaart hinterließ auf der gemischten VR-Testrunde einen Fahreindruck, der sich mit einem Wort zusammenfassen lässt: souverän. Schließlich sorgen hier auch voll ausgeladen noch 20 PS pro Tonne für Vortrieb. Ein Wert, für den ein ausgewachsener 40-Tonner utopische 800 Pferdestärken bräuchte. Entsprechend spielerisch bewegt der laufruhige 7,7-Liter große Reihensechszylinder die Fuhre vorwärts und für die harmonisch abgestimmte Powershift-Schaltzentrale gibt es selten Arbeit. Sanft und schnell wechselt die Elektronik zwischen den acht Fahrstufen. Ein kurzes Gaspedal-Lupfen genügt und die Software schaltet umgehend in einen höheren, verbrauchsfreundlicheren Gang. Voreilige Rückschaltungen am Berg An Steigungen scheint Powershift den hohen Reserven und speziell den 1200 Newtonmeter Drehmoment des OM 936 allerdings nicht recht zu trauen. Zwar lagen beim Testwagen bei 65 km/h im achten Gang lediglich 1100 Touren an. Was für einen erfolgreichen Kampf gegen den Berg natürlich zu wenig ist, obwohl dann laut Datenblatt bereits knapp 1150 Newtonmeter Drehmoment an die Hinterräder übertragen werden. Unnötig ist in den meisten Fällen aber, dass Powershift in solchen Situationen mitunter hektisch um gleich zwei Fahrstufen zurückstuft und den Sechszylinder weit von verbrauchsfreundlichen Gefilden entfernt. Was sich allerdings durch den Wechsel in den manuellen Modus, am aus Actros & Co. bekannten Lenkstockhebel, leicht vereiteln lässt. Auch sonst empfiehlt sich auf der Landstraße eine aufmerksame Fahrweise, denn den GPS-gestützten PPC-Tempomaten bietet Daimler für diese Fahrzeugklasse nicht an. Wer das beherzigt, darf sich über niedrige Verbräuche freuen: Auf der gemischten VR-Verteiler-Testrunde gönnte sich der OM 936 im Durchschnitt 20,0 l/100 km zur Beförderung der ausgeladenen Testfuhre. Da brauchte mancher um drei Tonnen leichtere 12-Tonner im Test kaum weniger. Auch Fahrwerk und Lenkung bieten keinen Anlass zu Kritik. Letzterer könnte man lediglich ihre kleine Unverbindlichkeit um die Mittellage ankreiden, ansonsten gelang den Mercedes-Ingenieuren der Spagat zwischen Fahrkomfort und Straßenlage. Auch die Geräuschkulisse hält sich in angenehmen Grenzen: Bei 85 km/h-Reisetempo finden lediglich 60 dB(A) in die Gehörgänge des Fahrers. Damit erreicht der Verteiler locker das Niveau ausgewachsener 40-Tonner. Für die BigSpace-Kabine lässt sich das, trotz ihres vollmundigen Namens, nur eingeschränkt sagen. Anders als beim großen Bruder Actros, bei dem die auf die gleiche Bezeichnung hörende Kabinenvariante viel Bewegungsfreiheit bietet, bleibt das Platzangebot in der größten Atego-Kabine eher begrenzt. Zwar weisen die Mercedes-Daten 1,91 Meter Stehhöhe aus, die lässt sich aber lediglich im Bereich vor dem Beifahrersitz nutzen. Ansonsten sind Lenkrad, vor allem aber die mit 60 Zentimeter Höhe gewaltige Motorkiste im Weg. Letztere zerstört das Raumvolumen und lässt den Weg zu den Betten zur Kletterpartie ausarten. Erst recht, wenn man noch die fest auf der Motorkiste montierte Staubox mit integriertem Tisch bestellt hat. Diese ist auch als Kühlbox lieferbar und bietet die einzige (werksseitige) und im Fernverkehr obligatorische Möglichkeit, im Atego Lebensmittel oder Getränke frisch zu halten. Ideen aus dem Actros übernommen Hat man die Schlafstätten erst einmal erreicht, bietet der Mercedes aber einen für diese Fahrzeugklasse anständigen Komfort. Anders als bei den großen Brüdern auf einem Lattenrost, liegt die 680 Millimeter breite Siebenzonen-Kaltschaummatratze nur auf einer einfachen Spanplatte. Der Liegekomfort geht aber in Ordnung und auch der Abstand zum im Testwagen verbauten oberen Bett beziehungsweise zum Kabinendach fördert keine klaustrophobischen Zustände hervor. Ebenfalls gut und vom Actros übernommen: Das obere Bett lässt sich vertikal justieren und dank integrierter Wasserwaage gerade ausrichten, falls der Atego auf unebenem Untergrund parkt. Ein im Alltag allerdings ärgerlicher Schönheitsfehler, den wir aber auch schon bei 40-Tonnen-Zugmaschinen fanden: Das praktische Bedienmodul für Standheizung und Dachluke sowie einen Wecker verbaut Mercedes nur am unteren Bett. Noch nie ein Musterschüler war der Atego beim Thema Gewicht. Und mit der langen Hochdachkabine sowie den beiden zusätzlichen "Antriebs-Zylindern" kommen weitere Kilos hinzu. Inklusive Saxas-MKD71-Kofferaufbau und Dautel-Ladebordwand brachte der 15-Tonner, der übrigens über das gleiche Chassis verfügt wie die (noch) populären 12-Tonner, leer 6900 Kilogramm auf die Waage. Womit der Daimler knapp 800 Kilo zusätzlichen Speck durch die Lande schleppte - im Vergleich zu vorab getesteten Wettbewerbern. Die stellten sich dem VR-Test allerdings auch mit "nur" vier Zylindern und kurzer Nahverkehrskabine. Entscheidet man sich beim Mercedes ebenfalls für diese Ausstattungsattribute, rückt der Atego deutlich näher an seine Konkurrenten heran. Womit dann auch in dieser Disziplin das Maximum herausgeholt wäre. Kommentar Der Fahrer wird's danken 299 PS und eine für diese Klasse große Kabine. Wer einen Atego 1530 BigSpace anschafft, wird von seinen Fahrern kaum Gemecker hören. Auch der Verbrauch des R6 passt. Bei der Nutzlast sind dafür Abstriche fällig. Oder man greift gleich zum 18-t-Antos.Kontakt: jan.burgdorf@springer.comJan Burgdorf VR-Redakteur

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