Der Rote mit dem grünen Label

Qual der Wahl heißt es bei der Bestellung eines Mercedes Actros. Während sich viele Nutzer bei der Kabine fürs aerodynamisch optimierte Kabine fürs aerodynamisch optimierte StreamSpace 2.5 entscheiden, wird es beim Motor schon schwieriger. Vor allem, seit Mercedes zum 12,8-Liter noch einen 10,7-Liter nachgeschoben hat. Der große Sechszylinder bietet in der gängigsten Leistungsklasse 421 oder 450, der kleine 428 PS. Zum VR-Profitest trat das schwächere der beiden 13-Liter-Aggregate an, ausgestattet mit Top Torque und 2300 Nm Drehmoment. Der OM 471 genannte Reihensechszylinder läuft ruhig und vibrationsarm. Als langhubig ausgelegter Vierventiler tritt er trotz nominal niedrigerer Leistung kaum schlechter an als der 450er im Referenz-Truck. Die Drehmomenterhöhung im direkten Gang bügelt so manchen Anstieg flach und hilft Schaltungen und somit Zugkraftunterbrechungen zu vermeiden. Gelungener Antriebsstrang Die automatisierte Powershift-Schaltung legt schon bei niedrigen Drehzahlen die höchstmögliche Fahrstufe ein und harmoniert gut mit dem 12,8-Liter. In der kleinen Gruppe lässt sie den Sechszylinder weiter ausdrehen und überspringt sinnvoll Gangstufen. In der großen Gruppe orientiert sie sich am grünen Bereich, wechselt - auf niedrigen Verbrauch bedacht - die Gänge und schaltet früh hoch. Das klappt selbst auf der Landstraße, wo bei 60 km/h dank langer Achsübersetzung nur knapp über 850 Touren im zwölften Gang anliegen. Lohn dieser Auslegung: Ein neuer Verbrauchsrekord! An der Schaltarbeit sollte Mercedes ein wenig nachbessern. Manchmal ist der Gangwechsel zwar schnell, aber auch ruppig. Die Bedienung der Schaltung über den rechts am Lenkrad angeordneten Hebel, der alle Funktionen steuert, findet Gefallen. Mit vier Rückwärtsgängen, die sich beim Reversieren wechseln lassen, findet sich immer die passende Übersetzung. Das kraftfreie Rollen in Neutral (Ecoroll) hat Mercedes perfektioniert. Der Benz legt Neutral nur ein, wenn sich tatsächlich Meter beim Ausrollen gutmachen lassen. Gut ist auch, dass die Elektronik die Ecoroll-Funktion auch ohne aktivierten Tempomat einschaltet. Die Kupplung missfällt durch zwei kleine Auffälligkeiten: Beim Anfahren kuppelt der Automat schon mal zu schnell ein und lässt dafür manchmal zu lange schleifen. Beim Fahren sind - vor allem auf schlechten Straßen - leichte Vibrationen im Lenkrad spürbar. Die Vierbalg-Luftfederung der Hinterachse federt sportlich straff. Immerhin schafft es die Komfortlagerung der Kabine in Verbindung mit der weicher ausgelegten Zweiblatt-Parabelfeder vorne, akzeptablen Langstreckenkomfort zu realisieren. In schnell angegangenen Kurven machen sich Kabinenneigungen bemerkbar - während Nickbewegungen beim Bremsen nicht festzustellen sind. Die Lenkung legt Mercedes direkt und mit variablem Übersetzungsverhältnis aus. Fünf Umdrehungen von Anschlag bis Anschlag bieten dennoch nicht die Präzision eines Iveco oder Scania. Motorbremse mit über 540 PS Trotz Komfort- und Sicherheitsgewinn durch einen Retarder kann man sich die mit dem Kühlwasser arbeitende Hydrobremse beim Actros fast sparen. Die starke Performance-Motorbremse des Test-Lkw (544 PS bei 2300/min) bietet ausreichend Leistung und ist sehr gut ins Bremsmanagement integriert. Selbst mit 40 Tonnen gibt es nur wenige Gefällstücke, in denen der Fahrer beibremsen muss. Die Betriebsbremse selbst zeigt sich von ausgezeichneter Wirkung, spricht schnell an und lässt sich sehr gut dosieren. Die Handhabung des Daimler gelingt kinderleicht, alle Bedienkräfte sind auf erfreulich niedrigem Niveau - ohne gefühllos zu wirken. Viele Mercedes-Fahrer schätzen den optionalen Komfortschlüssel mit seinen zahlreichen Funktionen wie Lichtcheck, Reifendruckkontrolle und noch einer Menge Spielereien mehr. Das Fußpedal des Mercedes zur Lenksäulenentriegelung findet Gefallen. Bei der Positionierung der Pedale erleichtert der geringe Höhenunterschied zwischen Brems- und Gaspedal den einfachen Wechsel. Zudem glänzt der Mercedes mit einem übersichtlichen Armaturenbrett. Seine Instrumentierung nimmt viele Anleihen beim Pkw. Der Fahrerplatz ist gut sortiert, übersichtlich und in puncto Ergonomie aktuell das Non-Plus-Ultra. Die im Multifunktionslenkrad untergebrachten Funktionen erschließen sich auch ohne großes Studium der Bedienungsanleitung. Das Menü des Bordcomputers hat Mercedes übersichtlich und im Stil aktueller Computer-Betriebssysteme organisiert. Zudem zeigt sich das Display für PPC (Predictive Powertrain Control = GPS-Tempomat) mit neuen Funktionen und mehr Informationsgehalt. Die Klimatisierung im Actros gibt kaum Raum für Kritik. Einmal eingestellt, erfreut die elektronische Regelung durch zugfreie Belüftung und konstante Temperatur. Groß gewachsene Fahrer monieren allenfalls den eingeschränkten Verstellbereich des Sitzes in Längsrichtung. Auch das Lenkrad könnte ein wenig weiter in der Neigung verstellbar sein. Der fallweise montierte Beifahrer-Klappsitz schafft im Solobetrieb - ohne großen eigenen Komfort - Flexibilität und Platz. Dass Daimler nicht an einen besseren Frontaufstieg, einen besseren Zugang zur Arbeitsplattform sowie eine vernünftigere Anbringung der Kabel und Leitungen hinter dem Fahrerhaus gedacht hat, wird hoffentlich bei der nächsten Modellpflege berücksichtigt. (Un)übersichtlicher Actros Die Gehäuse der Actros-Spiegel sind so groß, der Abstand zur A-Säule so klein, dass sogar ein Transporter im toten Winkel verschwindet - was vor allem in Kreisverkehren gefährlich wird. Das Wischfeld der Scheibenwischer fällt ausreichend groß aus, gut gefallen das einstellbare Intervall sowie die automatische Wischerregelung. Auch vor dem Beifahrer bleibt kein allzu großes ungewischtes Feld stehen. Generell sind die Waschdüsen im Scheibenwischerarm platziert. Die Reinigung erfolgt entsprechend schnell und effektiv. Wie nicht anders erwartet, macht der GPS-Tempomat PPC auch hier eine gute Figur. Mit +5/-7 bei gesetzten 85 km/h ist man noch flott unterwegs und nutzt gleichzeitig die kinetische Energie des Lasters, um an geeigneter Stelle Sprit zu sparen. ESP kommt spät und setzt sanft ein. Dynamische Fahrer können mit dieser Charakteristik viel Schwung mitnehmen - ohne sich und die Umwelt zu gefährden! Der Abstandstempomat arbeitet ebenfalls akkurat. Wer auf maximalen Abstand geht, erfreut sich an einer sicheren Regelung, die es leidlich gut schafft, den Spritverbrauch nicht zu sehr in die Höhe zu treiben. Alles Wichtige hält der Benz im übersichtlichen Display bereit - wie schnell ist er, wie schnell ist der Vordermann und wie groß der Abstand? Wer alles nutzt, kann optimal vorausschauend fahren. Und was viele Fahrer am meisten freut: Der Spurbindungsassistent meldet sich nur zu Wort, wenn's absolut sein muss. Bei der nächsten Modellpflege würde es sich lohnen, in eine vernünftige Spoilerverstellung der Windleiteinrichtung auf dem Dach zu investieren. Letztlich setzt der Mercedes bei der Qualität hohe Maßstäbe. Die 2.5er-Stream-Space-Kabine reicht für die allermeisten Anwendungen völlig aus. Vor allem aber der Motor setzt echte Maßstäbe: Mehr Power als ein 1843er, fast so stark wie ein 450er und trotzdem so sparsam wie ein 350-PS-Laster. Test mit Referenz-Lkw Testen wie die Industrie Jeden VR-Profi-Test begleitet der redaktionseigene New Actros 1845 mit Voll- und Teilausladung (40/24 Tonnen). Mit diesen Kombinationen haben wir unter Normalbedingungen (windstill, trocken, 20°C) Basiswerte für die Verbrauchsmessung erfahren. Ändern sich bei der Testfahrt die äußeren Bedingungen durch Wind, Regen oder Temperatur, ändert sich auch der Verbrauch des Referenz-Lkw. Um diese Abweichung können wir die Verbrauchswerte des jeweiligen Test-Lkw korrigieren und schaffen eine Basis, alle Werte unserer Einzeltests vergleichbar zu machen. Da die Messwerte je nach Witterung um bis zu zehn Prozent abweichen, halten wir eine vergleichende Darstellung ohne Referenz-Lkw für nicht legitim. gg Der Actros im TÜV-Urteil Serviceintervall (max. 100) 80Abfahrtskontrolle (max. 90) 74Servicearbeiten (max. 80) 63Fahrerfreundlichkeit (max. 90) 76Kleinreparaturen (max. 70) 59Wartung und Service Gesamtpunkte: (max. 430) 352Detaillierte Ergebnisse unterwww.verkehrsrundschau.deDie Theorie spricht beim Actros von 150.000 Kilometern Wartungsintervall - tatsächlich bestimmt der Wartungsrechner und der beordert den Benz meist viel früher zum Service (deshalb auch ein Punktabzug im entsprechenden Wertungspunkt). Beim Abfahrtscheck übernimmt die meisten Kontrollfunktionen der Bordcomputer - der Licht-Check lässt sich beispielsweise per Fernbedienung am Schlüssel durchführen. Weniger gut: Zum Tausch des Dieselfilters, zum Nachfüllen des Lenköls, zum Wechsel des Luftfilters sowie zum Prüfen der Kupplungshydraulik muss die Kabine gekippt werden. Dafür ist das Fahrgestell wartungsarm. Für die Fahrer sollte Mercedes die Erreichbarkeit der Lufttrocknerpatrone und des Reifenfüllanschlusses verbessern. Probleme gibt es auch, falls der Fahrer den Tank aus Versehen leer gefahren hat. Denn an die Handpumpe zum Entlüften (falls die Selbstentlüftung nicht klappen sollte) ist nur schwer heranzukommen. Auch die optionalen Seitenverkleidungen am Rahmen (falls das Reserverad benötigt wird) sind nur schwer zu entfernen. gg