Flüchtling, Fahrer, Firmenchef

Als Axel Plaß im August 1989 rund 50 Kilometer vor der ungarisch-österreichischen Grenze in den Kofferraum eines Golf klettert, hat er nur noch ein Ziel vor Augen: Hamburg. Den damals 23-jährigen Pädagogikstudenten aus Hagenow, einer Kleinstadt im DDR-Bezirk Schwerin, zieht es nach Westdeutschland. "Dort lebten die Großeltern, die meine Mutter und mich regelmäßig im Osten besuchten", erklärt der Mecklenburger. Im Schritttempo quält sich der Wagen über aufgeheizten Asphalt. Um Plaß herum Luftmatratzen, Körbe und Taschen. Liegen tut weh; das Luftholen fällt schwer. Sein Atem stockt, als ein Zöllner die Heckklappe öffnet: Grenzkontrolle. Vor seinem geistigen Auge spielen sich dramatische Szenen ab. "Ich sah mich schon im Stasi-Knast", sagt Plaß. Doch der Flüchtling bleibt unentdeckt. "Entweder war ich zu gut verpackt oder man wollte mich nicht sehen", erinnert er sich an die abenteuerliche Fahrt. Irgendwie lernt man, sich zu arrangieren Die Flucht drei Monate vor dem Mauerfall war alles andere als geplant. Nach einer Ausbildung zum Agrotechniker mit Abitur will Plaß zu diesem Zeitpunkt eigentlich Berufsschullehrer werden. Besser gesagt, soll er es werden. "Zu solchen Aufgaben wurde man vom seinem Betrieb delegiert", grinst er. Rübermachen? Bis dato kein Thema. Der junge Hagenower hat sich im Laufe der Zeit irgendwie mit dem Sozialismus arrangiert; ist so viel DDR-Bürger, wie er es sein muss. Das ist schon früher so gewesen: Bei Schulanlässen trägt er zwar das Pionierhalstuch. Zu Hause läuft abends im Fernseher jedoch die "Tagesschau" statt der "Aktuellen Kamera". Und als Jürgen Sparwasser beim einzigen Aufeinandertreffen der beiden deutschen Nationalmannschaften während der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 zum entscheidenden 1:0 für die DDR-Elf einnetzt, ist der damals Achtjährige den Tränen nahe. Im Laufe der Zeit mehren sich die Zweifel Auch nach der Lehre bewahrt sich Plaß seinen kritischen Blick auf den Arbeiter- und Bauernstaat. Er tritt nie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bei, obwohl man ihn mehrfach dazu überreden will, und verwehrt sich in eineinhalb Jahren bei der Nationalen Volksarmee gegen jegliche Anwerbungsversuche des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Zweifel am politischen System wachsen, als 1987 der Großvater in Hamburg schwer erkrankt. Plaß beantragt eine besuchsweise Ausreise. Diese lehnen die Behörden in Hagenow allerdings ebenso ab wie ein zweites Ersuchen im Dezember 1988, um zur Beerdigung des Großvaters fahren zur können. "Ich dachte mir, wenn dieser Staat so wenig Vertrauen in mich hat, dann stimmt hier was nicht", sagt Plaß. Das Ausreiseverbot führt dazu, dass in ihm der Entschluss reift, der DDR den Rücken zu kehren. Gelegenheit dazu bietet sich unverhofft in den Semesterferien darauf. Am Balaton verbringt Plaß mit Freunden einen Zelturlaub. "Meiner Mutter sagte ich bei der Abfahrt: Du musst den Rasen vor dem Haus nicht mähen - in zwei Wochen bin ich wieder da." Doch es kommt anders: Immer öfter philosophieren er und sein bester Freund darüber, wie es wäre, abzuhauen. Über ihnen die ungarische Sonne, unter ihnen ein Tretboot. Manchmal stundenlang. Es entsteht so etwas wie Aufbruchstimmung. Als die zwei Kumpels nach einigen Tagen auf dem Campingplatz einen Stuttgarter Bäckergesellen kennenlernen, der ihnen anbietet, sie in seinem Golf bis nach Wien zu schmuggeln, geht alles ganz schnell. "Den Trabi, Freunde und Familie haben wir zurückgelassen", berichtet Plaß. Der Neuanfang im Norden ist nicht leicht Der Neuanfang in Hamburg ist schwierig. Plaß hat lediglich eine Tasche, einen Schlafsack und ein paar Notgroschen bei sich. Und einen Lkw-Führerschein, den er während der Lehre zum Landwirt gemacht hat. Immerhin erhält der Studienabbrecher rund 340 Mark Sozialhilfe, um auf die Beine und in Arbeit zu kommen. Tatsächlich findet er innerhalb einer Woche eine Anstellung als Lkw-Fahrer im Nahverkehr. "Ich hatte ungefähr 30 Auslieferstellen pro Tag und lernte Hamburg dadurch innerhalb kürzester Zeit kennen." Es gab viel zu tun, aber recht wenig Geld. 2000 Mark brutto waren es am Ende des Monats. Kurz nach der Grenzöffnung im November 1989 beschließt der übergesiedelte Mecklenburger deshalb, sich einen besser bezahlten Job zu suchen. Mit einem 7,5-Tonner hält er an jeder Telefonzelle an, die auf seiner Tour liegt, und telefoniert alle Speditionen in den Gelben Seiten alphabetisch ab. Erst beim Buchstaben Z hat er Erfolg: Hartmut Zippel, damals Geschäftsführer des Hamburger Unternehmens Konrad Zippel Spediteur, stellt Plaß im Januar 1990 ein. Für seinen neuen Arbeitgeber ist er anfangs wieder im Nahverkehr unterwegs - allerdings zu deutlich besseren Konditionen. Im Sommer desselben Jahres soll der Wahlhamburger in den Fernverkehr wechseln und dabei vor allem nach Berlin pendeln. Kurz vorher baut er allerdings im Hafen einen Unfall. Schaden: knapp 30.000 Mark. Zippel hält dennoch an dem Quereinsteiger fest. Als Quereinsteiger wechselt er ins Büro Dieser zahlt es ihm 1992 zurück. Nach zwei Jahren auf der Straße bereitet er sich darauf vor, das Pädagogikstudium fortzusetzen. "Was ich anfange, will ich auch zu Ende bringen", betont der Selfmademan. Doch sein Chef benötigt einen Disponenten und bittet ihn, zu bleiben. Plaß lässt sich umstimmen. Zeitgleich beginnt Zippel mit dem Ausbau des Containerverkehrs auf der Straße. Eine Reaktion auf den Rückgang bei den jahrelangen Stück- und Sammelgutverkehren nach Berlin. Nach und nach steigt das Aufkommen, sodass die Spedition immer mehr Ladungen auf die Schiene verlagert. In seiner neuen Funktion trägt Plaß maßgeblich zur Neuausrichtung des Unternehmens bei. "Zippel hatte relativ schnell großes Vertrauen in mich und ließ mich Prozesse anders organisieren", erklärt er. Der Urenkel des Firmengründers ist für ihn nicht nur Vorgesetzter, sondern auch eine Vaterfigur. Im Laufe der 90er übernimmt Plaß immer mehr Aufgaben. Nebenher bildet er sich zum Verkehrsfachwirt weiter, um sich das nötige Kaufmannswissen anzueignen. 2001 fragt ihn Zippel, ob er als Gesellschafter einsteigen möchte - ein Generationswechsel deutet sich an. "Das Familienunternehmen sollte nicht einfach geschlossen oder an Fremde verkauft werden", erläutert Plaß. Er zögert nicht lange. Plötzlich ganz oben Sechs Jahre später geht Zippel in Rente und sein unternehmerischer Ziehsohn holt einen neuen Mitgesellschafter an Bord: Axel Kröger. Ihn hat er während seiner Weiterbildung zum Verkehrsfachwirt schätzen gelernt. "Ein Betrieb, der mehr als 50 Millionen Euro Umsatz im Jahr macht, lässt sich mit zwei Leuten besser führen", erklärt Plaß. Außerdem sei es beruhigend zu wissen, dass es da noch einen anderen Verantwortungsträger gibt, wenn er mal nicht im Büro ist. Vor kommt dies jedoch selten. In den ersten 14 Jahren bei der Spedition Zippel macht Plaß gar keinen Urlaub. Auch heute gönnt er sich nur wenige Auszeiten. Sie gehören vor allem seiner Frau, den Töchtern und dem HSV, den er eifrig im Stadion anfeuert. Im Rückblick die richtige Entscheidung "Rückblickend ergibt alles einen Sinn", resümiert Plaß, während er im Besprechungsraum seiner Spedition einige Bilder aus 25 Jahren bei Zippel zeigt. Die Entscheidung, zu gehen, hat er nie bereut. Ab und an verbringt er das Wochenende im Elternhaus in Hagenow. Zurück möchte er aber nicht. "Hamburg ist meine Heimat", sagt der Mann, der es vom Fahrer zum Firmenchef gebracht hat. Dann krempelt Plaß die Ärmel hoch. Er muss dann mal wieder.

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