"Einladen statt verdonnern"

Was war Ihr ausgefallenstes Projekt, das Sie mit Design Thinking gelöst haben? Das war mit einem Berliner Gefängnis, und es ging um die Frage, ob die Gefangenen einen Zugang zum Internet haben sollen. Zuerst dachte ich Nein. Aber es wird viel Geld für die Resozialisierung der langjährigen Gefangenen ausgegeben, und wie soll sich ein Mensch in Freiheit orientieren, wenn er nie Berührung mit dem Internet hatte. Das Ergebnis ist ein auf einem Tablet basierendes Kommunikationstool, das jetzt in der Entwicklung ist und in einem Pilotprojekt eingesetzt werden soll. Abgesehen von dem Gefängnis liest sich Ihre Referenzliste wie das Who is Who der deutschen Wirtschaft. Funktioniert Design Thinking nicht im Mittelstand? Jedes Start-up beweist, dass sich die Methode für kleine Unternehmen eignet. Die fangen häufig in vernetzten und interdisziplinären Strukturen an und involvieren so möglichst viele Mitarbeiter in ihren Innovationsprozess. In kleinen Unternehmen habe ich den Vorteil, dass ich auf Zuruf über den Flur zusammenarbeiten kann. Manchmal muss ich nur dafür sorgen, dass es ein paar Wände weniger gibt und Menschen abteilungsübergreifend zusammenarbeiten können, statt im stillen Kämmerchen zu sitzen. Wie lässt sich Design Thinking in der Welt der Speditionen und Transportunternehmen nutzen? Digitalisierung spielt in der Logistikbranche derzeit eine wichtige Rolle. Mit Design Thinking bereiten wir Menschen auf eine von Software geprägte Welt vor. Künftig wird jeder Mensch mit Software zu tun haben. Deshalb müssen wir agiler denken und können nicht mehr in rigiden Strukturen arbeiten. Künftige Strukturen sind vernetzt und wirken daher zuerst einmal etwas chaotisch. Wenn ich im Unternehmen ein Projekt mit Design Thinking machen will. Wen kann ich ins interdisziplinäre Team holen? Auch ein kleines Logistikunternehmen hat jemanden, der sich um die Finanzen und den Vertrieb kümmert, oder jemanden, der den Fuhrpark verantwortet. Mein Plädoyer ist immer die Teams möglichst bunt zu mischen und die Leute dazu einzuladen, statt zu verdonnern. Einfach ins Unternehmen hineinrufen: Wer hätte Lust, für eine bestimmte Zeit etwas Neues auszuprobieren und sich an einem Innovationsprojekt zu beteiligen? Und dann alle, die sich darauf melden, auch zulassen. Die treffen sich dann regelmäßig in einem für sie entsprechend ausgestatteten und frei gehaltenen Besprechungsraum. Kann ein Unternehmen das intern darstellen oder brauche ich externe Hilfe? Ein fremder Moderator macht Sinn. Das einfach so zu starten wird schwierig, da viele Menschen keine positive Teamerfahrung haben. Für viele heißt Team: Toll, ein anderer macht's. Daher stehen sie solchen Ansätzen skeptisch gegenüber. Zudem hilft es, wenn jemand den Tag strukturiert. Wie überzeugen sie Führungskräfte im Mittelstand Knete, Bauklötze oder Lego-Steine zum Prototypenbau zu nutzen? Das ist in der Tat nicht leicht. Aber ich habe bei uns nach zwei Stunden Workshop schon Bankvorstände auf dem Boden kriechen und mit Lego arbeiten sehen. Was bauen die Workshop-Teilnehmer? Bei einem Unternehmen, das seine Logistik überdenken wollte, haben wir mit Duplo-Steinen die Lagerhalle und die Materialflüsse dargestellt und analysiert. Hinterher hatten sie ein klares Bild, was sie machen wollen. Sobald jemand begriffen hat, dass es ihm hilft, nutzt er es auch. Wie passen so analoge Materialien zu digitalen Innovationen? In der Schule lernen wir oft nur, die analytische Hälfte unseres Gehirns zu nutzen. Mit Design Thinking sprechen wir auch den kreativen Part im Kopf an. Wenn ich auf diese Art die volle Brainpower nutze und das auch noch im Team mache, dann kommen dabei am Ende wirklich neue Ideen heraus. Speditionen erbringen eine Dienstleistung. Wie baue ich dafür einen Prototyp? Indem ich mit den Materialien darstelle, wie die Leistung erbracht wird. DHL hat in seinem Innovation-Center eine Kleinversion davon aufgebaut, wie ein Paket befördert wird. Sobald ich mir so eine Logistikkette einmal im Kleinen aufbaue, komme ich auf neue Ideen. Wenn ich als Logistikdienstleister zum Beispiel Autoteile zu einem Werk transportiere, kann ich diese Teile mit anderen, die auf dem Weg liegen, kombinieren. So kann ich durch die Zusammenarbeit mit dem anderen Logistikdienstleister schon vorgefertigte Teile anliefern, die sonst beim Automobilhersteller in der Halle montiert werden müssten. Damit habe ich einen neuen Service entdeckt, den ich meinem Kunden anbieten kann. Auf solche Ideen komme ich eher, wenn ich den Prozess physisch vor mir aufbaue und über die einzelnen Prozessschritte nachdenke. Ein anderes Beispiel: Die verschiedenen Bildschirme und die Struktur einer App lassen sich mit übereinandergeklebten Post-it-Zetteln simulieren. Das beschleunigt die Entwicklung, da nicht über die Schriftart, sondern über Inhalte und Funktionen diskutiert wird. Zudem muss zwischendurch nichts programmiert werden. Wie nehme ich hierarchisch geführte Unternehmen mit auf die Reise in Richtung: Kreativität, Spielzeuge und interdisziplinäre Teams? Wenn sie das den Führungskräften einfach nur erzählen, bewirkt das selten etwas, außer vielleicht, die haben schon einmal etwas ähnliches gehört. Grundsätzlich gilt daher, sie müssen eigene Erfahrungen machen. Hilfreich ist dazu ein Design-Thinking-Workshop. Auch für die Mitarbeiter ist das eine neue Erfahrung, wenn der Patriarch auf einmal gleichberechtigter Teil des Teams ist. Wie kriege ich Menschen dazu, vernetzt zu denken und zu handeln? Durch das, was man Bildung nennt. Ich muss im Unternehmen einen Weiterbildungsprozess in Gang setzen. Bosch zum Beispiel hat bei uns ein Training besucht, und anschließend sollten die Mitarbeiter Räume so umgestalten, dass sie sich zur Arbeit nach dem Design-Thinking-Konzept eignen. Irritierend für die Mitarbeiter war es anfangs, dass es keine festen Vorgaben und Strukturen gab, sondern sie sich selbst organisieren mussten. Und wie verhindere ich, dass das Ganze nur ein Strohfeuer wird? Design Thinking und die räumliche Umgestaltung dürfen nicht nur einem Projekt dienen, sondern müssen Teil der Unternehmenskultur werden. Mehr zum Thema im Dossier "Unternehmensführung" www.verkehrsrundschau.de/dossiers Vita Ulrich Weinberg Der 58-Jährige ist seit 2007 Leiter der School of Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam. Er studierte Kunst, Design, Philosophie und Kunstgeschichte in München und Berlin. Von 1980 bis 1986 tätig im Bereich TV-Design, seit 1986 spezialisiert auf 3-D-Computeranimation. Er gründete die Unternehmen Terratools und Cyparade. 1994 übernimmt er die Professur für Computeranimation an der Filmuniversität Babelsberg. Zudem ist er seit 2004 Visiting Professor an der Communication University of China CUC in Peking. sv Das kreative Kollektiv So funktioniert Design Thinking Design Thinking wurde ursprünglich als Innovationsmethode für Produkte und Services im US-amerikanischen Stanford entwickelt. Ziel ist es, Lösungen zu finden, die aus Anwendersicht überzeugend sind. In Deutschland zählt Ulrich Weinberg, Director der School of Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut (HPI) in Potsdam, zu den Vorkämpfern dieses organisiert kreativen Entwicklungsprozesses. Das Konzept fußt auf drei Grundgedanken: Interdisziplinarität, Nutzerorientierung und einer die Kreativität fördernden Umgebung.Die Innovations-Teams bestehen aus Mitarbeitern mit völlig unterschiedlichen fachlichen Hintergründen, zum Beispiel Kaufleute und Ingenieure. Das basiert auf der Annahme, dass sich Probleme besser lösen lassen, wenn Menschen unterschiedlicher Disziplinen zusammenarbeiten. Hierarchien gibt es in diesen fünf- bis sechsköpfigen Gruppen nicht. Die Methode gibt einen Prozess vor, der verhindert, dass die Entwicklung zum Selbstzweck wird, und dafür sorgt, dass sie sich an den Bedürfnissen der späteren Nutzer orientiert. Eine wichtige Rolle spielen dabei Prototypen anhand derer neue Ideen immer wieder überprüft werden.Drittens sollte diese Teamarbeit in einer Umgebung erfolgen, die Raum und Materialien für Kreativität bereithält. Hilfreich sind mobile, also leicht verschiebbare Möbel, Moderationswände sowie Platz für Notizen und Präsentationen oder stille Arbeit. Spielerische Materialien wie Bau- oder Lego-Klötze, Knete und Papier können helfen, schnell eine Art Prototyp zum Visualisieren der Idee zu basteln.Der Logistikdienstleister DHL beispielsweise hat sich mit dieser Methode von Studenten am HPI die App "Bring Buddy" entwickeln lassen. Sie soll die Lieferkette von Gebrauchsgütern in den Innenstädten verbessern, unter der Prämisse, dass keine Autos benutzt werden. Die App ist ein sozialer Lieferservice, der Informationen über die Pendelwege der Nutzer anhand von mobiler Tracking-Technologie analysiert. So kann jeder Nutzer zum Postboten werden und Pakete an Menschen zustellen, die auf seiner täglichen Pendelroute wohnen. Die Zusteller werden für jede Lieferung belohnt. DHL startete mit der App das Pilotprojekt "MyWays" in Stockholm. sv