Ein zweischneidiges Schwert

Als aus der kleinen "Lose-Blatt-Sammlung" plötzlich ein umfassendes Regelwerk wurde, war die Resonanz aus der Transport- und Logistikbranche erst einmal heftig: Die Rede ist von der EU-Leitlinie Good Distribution Practice (GDP), die seit 2013 in der Pharmalogistik gilt. Denn viele Dienstleister fürchteten, dass Pharmatransporte damit erst richtig komplex werden würden. "Es gab völlig neue Herausforderungen", sagt Martin Egger im Rückblick, Logistikleiter des Pharmadienstleisters Pharmaserv in Marburg. Zehn Kapitel dieser neuen Leitlinie beschäftigen sich laut Egger mit dem Thema Transport. Andererseits bietet die neue GDP auch neue Geschäftschancen für Dienstleister wie das Unternehmen Pharmaserv, das im Auftrag großer Pharmahersteller wie Behringwerke unter anderem die Fahrzeug-Qualifizierung durchführt. Denn die Anforderungen an Trailer und Aufbauten im Pharmabereich sind hoch. "Wir haben es in der Pharmabranche vorwiegend mit klein-volumigen Präparaten und Verpackungsgrößen zu tun", erklärt Thomas Janssen, geschäftsführender Gesellschafter von Pharmaserv. "Allen gemeinsam ist eine meist geringe Produktstabilität". Als Beispiele nennt er Plasmaproteine, Grippeimpfstoffe oder Präparate für die Invitro-Diagnostik. Entsprechend hoch und kostenintensiv sind deshalb die Qualitätsanforderungen an Fahrzeuge und Temperaturaufzeichnung. So müssen zum Beispiel Daten zur Kühlkette bis zu 35 Jahre vorgehalten werden. Gezielte Aufwandsreduzierung Im Gegensatz zu Pharmaserv verzichtet der Arzneimittelproduzent B. Braun Melsungen in einigen Fällen auf den generellen Einsatz von Temperaturführung und permanente Kontrolle. Stattdessen verfährt das Unternehmen nach dem risikobasierten Ansatz (siehe Kasten "Hintergrund" auf Seite 29), der nach der neuen GDP in Deutschland zulässig ist - allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen, wie der Logistikverantwortliche, Frank Schröer, des Unternehmens unlängst auf der Jahreshauptversammlung des Verbandes Transfrigoroute Deutschland zeigte. Schröer in seinem Vortrag wörtlich: "Aktuell handeln die meisten Verlader nach dem Ansatz: Die Temperaturangaben sind einzuhalten - und zwar innerhalb der vom Hersteller oder auf der äußeren Umhüllung angegebenen Grenzen", führte der Logistikleiter aus. "Wir dagegen erlauben uns beim risikobasierten Ansatz, die Stabilitätskriterien heranzuziehen. Wenn also zum Beispiel auf dem Etikett steht 'Temperatur 4 bis 25 Grad Celsius', heißt das für uns: Wir dürfen nicht einfrieren. Und die Temperatur kann 25 Grad Celsius übersteigen, wenn sie innerhalb der nächsten zwei Wochen unter 40 Grad Celsius liegt." Gleichzeitig stellte Schröer aber unmissverständlich klar, dass die Temperatur permanent überwacht werden müsse. Trotzdem verzichtet B. Braun Melsungen, wie der Vortrag des Logistikverantwortlichen zeigte, auf einige sonst übliche GDP-Vorgaben. Um etwa den Aufwand beim Transport bestimmter Produkte zu minimieren, hatten Schröer und seine Mitarbeiter zunächst eine Transportroute unter entsprechenden Risikogesichtspunkten eruiert, bei der man sich vor allem auf die Transportdauer fokussierte. "Zudem wollten wir weitestmöglich Transportunterbrechungen vermeiden", so Schröer. Unter bestimmten Rahmenbedingungen, das zeigte das Vorgehen, stellte sich sogar heraus, dass bei Verwendung eines ATP-zertifizierten FRC-Aufbaus nicht einmal ein Kühl- oder ein Heizaggregat laufen muss. "Wir hatten also keinen echten Bedarf an einem temperaturgeführten Transport", so Schröer. Bei diversen Versuchen mit unterschiedlichen Produkten und Transportwegen kamen der Logistikverantwortliche von B. Braun und seine Mitarbeiter für ihr Unternehmen schließlich zu folgenden Ergebnissen: "Beim kombinierten Transport ist zum Beispiel der Hafen kritisch. Da kommen wir unter Umständen sogar auf eine Temperatur von bis zu 75 Grad Celsius. Auf dem Schiff selbst können wir den Standard von 20 Grad Celsius dagegen ohne Probleme halten, selbst wenn der Transport 10 bis 14 Tage dauert." Als kritische Phase gilt nach Erkenntnissen des Arzneimittel-Herstellers also der Transport von der Fabrik bis zum Hafen. "Natürlich prüfen wir aber permanent mit Temperaturfühlern nach", stellte Schröer bei seinem Vortrag klar. In den letzten 15 Monaten habe das Unternehmen aber kein einziges Problem gehabt, sagte er. Produkte werden gesplittet Gleichzeitig beugte der Leiter Globale Logistik von B. Braun Melsungen aber allzu schnellen Spekulationen vor, man könne grundsätzlich auf aktive Temperaturführung verzichten. "Wir haben unsere Logistik so eingerichtet, dass unsere Fahrzeuge vorwiegend am Vormittag unterwegs sind", betonte er. Denn eine Erkenntnis aus den groß angelegten Versuchen des Unternehmens sei auch gewesen, "dass vor allem im Sommer der maximale Temperatureintrag erst am Nachmittag entsteht". Im Winter fahre der Hersteller dagegen generell mit Thermoequipment, was aber nicht heiße, dass geheizt werden müsse. "Der letzte Winter war eher mild. Auch deshalb konnten wir auf Temperaturführung weitgehend verzichten", so der Logistikleiter. Sein kleiner Trick: "Im Winter splitten wir die Produkte in temperatur-empfindlich und temperatur-unempfindlich auf. Dieser notwendige Lieferschein-Split war aber nur an zwei Tagen wirklich nötig", führte Schröer aus. Nachahmern legt der Logistikleiter aber dringend eines ans Herz: Der risikobasierte Ansatz sei nur in Deutschland möglich. Schröer wörtlich: "Wir fahren so gut wie nötig, so wenig wie möglich ohne Temperaturführung und ohne Isolieraufbau und damit so sicher wie nötig und so günstig wie möglich - aber eben nur in Deutschland." So verlangen etwa Italien und auch andere EU-Länder eine permanente Temperaturüberwachung und -führung für den kompletten Transport. Das Unternehmen B. Braun Melsungen hat allerdings gegenüber anderen Transportdienstleistern einen großen Vorteil: Als großer Pharmahersteller ist man sich des Risikos voll bewusst und kann entsprechend nachliefern, falls die Temperaturaufzeichnungen Unregelmäßigkeiten ergeben. Zudem setzt der Hersteller eigene Fahrzeuge ein. Ein Frachtführer könnte es sich dagegen kaum leisten, ohne Rücksicht auf die sonst übliche GDP-Praxis ähnlich zu verfahren. Ein Laderaum voll schadhafter Pharmaprodukte und er könnte sich aus dem Markt verabschieden. Aus genau diesem Grund setzt die Spedition Heidelmann aus Schwalmstadt auf qualifizierte Trailer, Transportvalidierung und lückenlose Temperaturüberwachung. Das Unternehmen ist seit acht Jahren in der Pharmalogistik tätig und wurde damals durch einen Kunden auditiert. Christian Bischoff, Leiter Qualitätsmanagement und Technik, ist sich in der Nachbetrachtung sicher: "Es vergingen zwar zwei Jahre, bis alle Abläufe im Lager, beim Umschlag und beim Transport passten. Die Investitionen zahlen sich aber aus. Unsere Beziehungen zu den Pharmakunden sind sehr stabil." Noch viel wichtiger für den Junior-Chef ist aber: In den acht Jahren gab es noch nie Probleme mit der Ware. Investitionen zahlen sich aus Denn das Unternehmen Heidelmann setzte relativ früh auf Qualifizierung der Trailer - sprich, der Fahrzeughersteller liefert bereits ein vorab konfiguriertes und abgenommenes Fahrzeug. Trotzdem erkennen nur die wenigsten Auftraggeber diese Qualifizierung als Standard an. "Stattdessen erfolgt für jeden Transport eine sogenannte Validierungsphase", erläutert Bischoff. "In unserem Fall war dies zum Beispiel ein Transport mit einem für uns typischen Beladungsschema von unserem Standort Schwalmstadt in die Schweiz." Dabei wurden die Temperaturverläufe mit Datenloggern aufgezeichnet. Und verläuft der Transport zufriedenstellend, wie im Fall der Spedition Heidelmann, kann der jeweilige Transportdienstleister sofort nach der Schulung aller am Verfahren beteiligten Personen mit seinen entsprechend qualifizierten Fahrzeugen starten. Für das Unternehmen Heidelmann ist dieser Aufwand auf jeden Fall gerechtfertigt, denn die Spedition befördert Blutplasma. Der Transport erfolgt bei minus 25 Grad Celsius im Auftrag von CSL, einem weltweit agierenden Arzneimittelhersteller. Um entsprechende Qualität sicherzustellen, muss der Dienstleister ein Höchstmaß an Hygiene und perfekt abgestimmte Prozesse bieten. Die Fahrzeuge verfügen über ein redundantes Kühlsystem mit zwei unabhängigen Anlagen. Ein Telematiksystem erlaubt sowohl die Standortbestimmung der Fahrzeuge als auch die lückenlose Temperaturüberwachung sowie die Kontrolle der Türöffnungen. Zum Komplettpaket gehört auch ein 24-Stunden-Monitoring mit umfangreicher Datengrundlage, die das Unternehmen Heidelmann im Bedarfsfall auch seinen Auftraggebern zur Verfügung stellt. Ein nicht abschätzbares Risiko Und für die Prozesssicherheit sorgt bei dem Unternehmen Heidelmann ein externer Dienstleister. "Selbst bei minimalen Abweichungen generieren unsere Kühlaggregate Fehlercodes und wir können sofort reagieren." Ein Arbeiten nach dem risikobasierten Ansatz, wie dies zum Beispiel der Arzneimittel-Hersteller B. Braun Melsungen tut, kann sich Juniorchef Bischoff also nicht vorstellen. "So ein - und es steckt ja schon im Wortbegriff - Risiko ist für uns nicht abschätzbar", betont er. "Das kann sich höchstens ein Pharmahersteller mit Eigeneintritt beim Transport erlauben." Experten-Tipp So gelingt Transporteuren der Einstieg in die Pharmalogistik - Viele Pharmaunternehmen erlauben keinen Fremdtransport - vor allem keinen Mix mit Lebensmitteln. Ein Transportunternehmer sollte sich also von Anfang an ein Portfolio suchen, in dem er tätig werden will.- Ein Dienstleister sollte offen mit Verladern sprechen. Wer zum Beispiel Impfstoffe produziert, erwartet von seinem Transportpartner, dass dieser weiß, wie es geht. Andernfalls sollte dieser bei seinem Auftraggeber die Eckdaten nachfragen. Dafür kann er ruhig einmal forsch auftreten und den Logistikleiter anrufen.- Bei den Fahrzeugen ist die 3500 bis 6000 Euro teure Qualifizierung eigentlich unabdingbar - auch wenn dies nur die halbe Miete ist. Ehe es zur Transportdienstleistung kommt, ist eine Validierung also unbedingt notwendig. Problem ist allerdings, dass Betriebe zwar die Validierung verlangen, sich oft aber sträuben, Waren dafür herauszugeben.- Neben der Fokussierung auf bestimmte Warengruppen kann auch eine Einschränkung der Auftraggeber sinnvoll sein. Denn nahezu jeder Pharmahersteller hat andere Anforderungen.- Wer als Transporteur für die Pharmabranche tätig sein will, sollte Folgendes beachten: Der Weg von Pharma zu Fisch ist viel leichter als umgekehrt. Mehrtemperaturfahrzeuge sind zudem nicht gerne gesehen. Bedienfehler führen immer wieder zu teuren Ausfällen.- Es empfiehlt sich die Nutzung des jeweils stärksten Kühlaggregats, da man dadurch mehr Reserven hat.- Tiefkühlsattel im Pharmabereich sollten nicht älter als drei Jahre sein und dem aktuellen Stand der Technik entsprechen. Sie müssen mängelfrei sein, die Temperatur muss sich von außen ablesen lassen und der Kühlbereich muss über ein kalibriertes Temperaturmess-/-Aufzeichnungssystem verfügen (mindestens jährlicher Kalibriernachweis). Alle Veränderungen am Aufbau bedürfen der Nachqualifizierung. gg Hintergrund Risikobasierter Ansatz Arzneimittel-Hersteller B. Braun Melsungen stützt sich laut Frank Schröer, Director Global Logistics des Unternehmens, mit seinem risikobasierten Ansatz auf folgenden Passus in Kapitel 9, Absatz 9.2. der Good Distribution Practice (GDP) 11/2013. Dort heißt es, zitiert Schröer: "Um festzustellen, wo Temperaturkontrollen erforderlich sind, sollte eine Risikobewertung der Transportwege durchgeführt werden. Ausrüstungen zur Temperaturüberwachung beim Transport in Fahrzeugen und/oder Behältern sollten regelmäßig - mindestens einmal pro Jahr - gewartet und kalibriert werden. Für Arzneimittel sollten, soweit möglich, diesem Zweck vorbehaltene Fahrzeuge und Ausrüstungen verwendet werden. Werden Fahrzeuge und Ausrüstungen benutzt, die nicht diesem Zweck vorbehalten sind, sollten Verfahren bestehen, mit denen gewährleistet werden kann, dass die Qualität der Arzneimittel nicht beeinträchtigt wird."Daraus leitet sich laut Schröer ab, dass die Arzneimittel temperaturüberwacht werden müssen, aber nicht grundsätzlich aktiv temperiert, zum Beispiel mittels eines Thermoaggregats. Es müsse nur sichergestellt werden, so der Logistikverantwortliche, wenn es eine Über- oder Unterschreitung gibt, dass die Arzneimittel nicht in Verkehr kommen. eh

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