Die Macht der Wahl

Brüssel befindet sich zurzeit im Wahlkampffieber. Doch es ist bezeichnend, dass nicht die Europawahlen der Auslöser dieses Fiebers sind. Denn zeitgleich finden am 25. Mai in Belgien auch die Parlaments- und Regionalwahlen statt. Diese beschäftigen Medien und Öffentlichkeit täglich. Der Europawahlkampf findet selbst auf den Plakatwänden im Brüsseler EU-Viertel kaum statt. Dies ist vielleicht sogar verständlich. Denn zwischen dem 22. und 25. Mai wählen die EU-Bürger nicht Europa neu - wie es der Name der Wahlen verspricht. Sondern "nur" die Zusammensetzung des Europaparlaments. Dieses hat nur begrenzt Einfluss auf die Entscheidungen, die in der EU getroffen werden. Viel weniger zumindest, als jedes nationale Parlament in den EU-Mitgliedstaaten. Vorschläge für neue Gesetze oder Änderungen von bestehenden Gesetzen kann das EU-Parlament zum Beispiel nicht machen. Das Recht dazu hat allein die EU-Kommission. Sie ist mit dem zu vergleichen, was in Deutschland die Regierung mit den Bundesministerien ist. Tausende Beamte beschäftigen sich in sogenannten Generaldirektionen (DG) mit unterschiedlichen politischen Bereichen. Für Verkehrsbelange ist weitgehend die DG Mobilität und Verkehr, kurz DG Move, verantwortlich. Neue Ideen für Maße und Gewichte von LKW, für mehr Wettbewerb bei der Kabotage oder im Schienenverkehr: Die Entwürfe für solche Gesetze werden in der DG Move formuliert. Die betreffenden Experten sind Beamte. Sie werden ernannt, nicht von Bürgern gewählt. Ein fertiger Gesetzesvorschlag wird der Versammlung aller EU-Kommissare vorgelegt. Ein Kommissar ist gleichsam der politische Kopf einer DG, zu vergleichen mit einem Bundesminister. Die Kommissare werden von den EU-Mitgliedstaaten nominiert und sind nicht Mitglieder des Europaparlaments. Bei den Wahlen am 25. Mai können die Bürger sie also nicht wählen. Zurzeit stellt jeder der 28 EU-Mitgliedstaaten einen Kommissar. Nimmt das Kommissars-Kollegium einen Gesetzesvorschlag aus einer DG an, wird der Vorschlag offiziell vorgestellt und weitergereicht in die beiden EU-Einrichtungen, die das Gesetz verabschieden müssen: das Europaparlament und der Rat der Europäischen Union. Letzterer wird auch oft EU-Rat oder EU-Ministerrat genannt, in Abgrenzung zum Europäischen Rat, in dem sich die Staatsund Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer treffen. Im EU-Rat dagegen treffen sich die Fachminister der nationalen Regierung, um über die Gesetzesvorschläge der EU-Kommission zu entscheiden. Ähnlich wie bei der Kommission gibt es für alle Fachbereiche eigene Ministerräte - für die Verkehrspolitik den Verkehrsministerrat. Viermal im Jahr treffen sich die Ministerräte. Bei den Europawahlen wird kein einziges Mitglied des EU-Rats von den Bürgern gewählt. Verkehrsausschuss zählt 91 Mitglieder Die Bürger bestimmen nur, wer in den kommenden fünf Jahren im Europaparlament sitzt. Seit 1979 gibt es diese Wahlen. Davor entschieden die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten, wer in der 1952 gegründeten Einrichtung mit vertraglich festgelegtem Hauptsitz in Straßburg arbeiten soll. Mit der Einführung der Bürgerwahl nahm auch der Einfluss des Parlaments zu. In der ablaufenden Legislaturperiode war dieser so hoch wie nie. An fast allen EU-Entscheidungen war das Parlament beteiligt. Bei einem "normalen" Gesetz befasst sich zunächst ein Fachausschuss mit den Vorschlägen. Für Verkehrsbelange ist das der Verkehrsausschuss. Seine Zusammensetzung spiegelt die Kräfteverhältnisse im Parlament wider. Bilden zum Beispiel die Konservativen im gesamten Parlament die Mehrheit, werden sie auch im Verkehrsausschuss die Mehrheit haben. Die Zahl der Vertreter aus jedem EU-Land richtet sich ebenfalls proportional nach der Zahl der Abgeordneten im Plenum. Dem Verkehrsausschuss mit seinen 91 Mitgliedern - Vollmitglieder und Stellvertreter zusammen - gehörten in der abgelaufenen Legislaturperiode 13 deutsche Abgeordnete an. Was der Ausschuss entscheidet, ist meist richtungsweisend für die Abstimmung im Plenum des Parlaments. Der endgültige Gesetzestext kann aber erst nach einer Angleichung an die Beschlüsse des EU-Rats verabschiedet werden. Hier haben sich die sogenannten Trilogverhandlungen immer mehr durchgesetzt, bei denen Vertreter des Parlaments und Vertreter des EU-Rats - diese Funktion nimmt die jeweils auf sechs Monate begrenzte EU-Ratspräsidentschaft ein - bei Anwesenheit von Kommissionsvertretern miteinander verhandeln. Die Annahme des hier gefundenen Kompromisses durch das Parlament und den gesamten EU-Ministerrat ist meist nur Formsache. Das neue Gesetz ist dann verabschiedet. Neu bei den jetzt anstehenden Europawahlen ist, dass die Fraktionen aus dem Parlament gemeinsame Spitzenkandidaten aufgestellt haben. Der SPD-Politiker und Parlamentspräsident Martin Schulz, der Bürgerliche Jean-Claude Juncker aus Luxemburg, die deutsche Grüne Ska Keller sind solche Spitzenkandidaten. Zurzeit wird gerne behauptet, dass der Kandidat der stärksten Fraktion nach den Wahlen auch neuer Kommissionspräsident wird. Das ist jedoch kein Automatismus. Den Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten nominieren weiterhin die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat. Sie müssen dabei das Wahlergebnis vom 25. Mai zwar berücksichtigen. Verpflichtet, den Spitzenkandidat der stärksten Fraktion als Kommissionspräsident zu nominieren, sind sie laut EU-Verträgen aber nicht. Transparenz versus Hinterzimmer Grundsätzlich sind die Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs auf ihren meist nur ein- oder zweitägigen Gipfeln vielleicht der größte demokratische Gegenpol zum Europaparlament. Wird Letzteres in freien Wahlen direkt für die Entscheidungsfindung in der Union gewählt und sind alle Plenums- und Ausschuss-Debatten live vor Ort oder per Internet für jedermann zu verfolgen, so fallen die Beschlüsse des Europäischen Rates hinter verschlossenen Türen, meist spät in der Nacht, ohne jegliche Transparenz. Und nicht selten zeigt sich, dass die Staats- und Regierungschefs in nationalen Wahlen vor allem für nationale Belange gewählt wurden und nicht immer das Wohl der Union an erster Stelle steht. Die Serie Europa-Wahl 2014 Welche Bedeutung die Europawahlen vom 22. bis 25. Mai für die Verkehrspolitik haben- VR 19: Welche Macht das Europaparlament besitzt- VR 20: Welche Parteien in Europa und Deutschland antreten- VR 21: Welche verkehrspolitischen Ämter in Brüssel neu besetzt werden- VR 22: Die Wahl-Ergebnisse

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