Der dritte Weg nach Osten

Am 18. Januar war es so weit: In einem Bahnterminal nahe London fuhr der erste Güterzug aus China ein. Er war 18 Tage zuvor in der ostchinesischen Stadt Yiwu gestartet und hatte über 13.000 Kilometer zurückgelegt. China-Züge: Mittlerweile Normalität Dafür gab es in London buchstäblich einen großen Bahnhof: Die BBC schickte sogar einen Hubschrauber, der aus der Luft filmte, wie die Ladung ankam. "Seitdem bekommen wir so viele Anfragen wie noch nie", freut sich Carsten Pottharst, Geschäftsführer des Bahnlogistik-Unternehmens InterRail Europe, das den Zug organisiert hat. Er bereitet sich schon auf die nächste Pionierfahrt vor: Im April soll erstmals ein Zug in Gegenrichtung starten. Weitere Verbindungen sind geplant. "Budapest wäre ein möglicher Standort", sagt Pottharst. Mit dem Güterzug nach China - das verliert zunehmend die Aura des Besonderen. Über 40 Bahnverbindungen zwischen dem Reich der Mitte und Europa existieren bereits, davon laut Erich Staake, Chef von Duisport, die meisten mit Abgangs- oder Zielort Duisburg (siehe Seite 27). Tendenz: stark steigend. "Der Zug ist mittlerweile eine akzeptierte dritte Lösung", sagt Thomas Kowitzki, Head of Multimodal bei DHL Freight. DHL gehört zu den Pionieren bei den China-Zügen und bietet bis zu 28 Verbindungen pro Woche an. Angelockt werden die Verlader unter anderem von deutlich verkürzten Transportzeiten: Im Pionierjahr 2011 waren die Züge mitunter noch 23 Tage unterwegs, mittlerweile sind es nur noch 14. "Wir haben es auch schon in elf Tagen geschafft", sagt Andre Hempel, Geschäftsführer von Trans-Eurasia Logistics (TEL), Berlin, einem Anbieter von Zugsystemen, an dem unter anderem die Deutsche Bahn beteiligt ist. Der China-Zug ist - grob gesagt - doppelt so schnell wie das Schiff, kostet aber nur 25 bis 30 Prozent mehr. Marktkenner taxieren den Preis für einen Transport in Ost-West-Richtung auf 5000 bis 6000 US-Dollar. "Für die meisten Verlader ist aber der Faktor Zeit entscheidend", betont Maria Leenen, Chefin des Beratungsunternehmens SCI Verkehr, Köln. Ihre Erfahrung: Verlader liebäugeln mit dem Zug nicht freiwillig, sondern aus der Not heraus. Denn immer mehr Lieferungen aus Fernost kommen nicht pünktlich an - "in einem zweistelligen Prozentbereich", so Leenen. Ein typisches Problem: Das westliche Unternehmen stellt fest, dass Zulieferteile aus China nicht die gewünschte Qualität haben, und fordert neue Ware. So verpasst man den gebuchten Seetransport - hat aber nicht genug Zeit, auf das nächste Schiff zu warten. Die Alternativen wären ein kombinierter Schiff/Flugzeug-Transport, etwa über Dubai, oder gleich Luftfracht. Doch beides ist teurer als der Zug. Ein zweites Argument für die Schiene: Jeder Tag, den ein Container unterwegs ist, kostet das verladende Unternehmen bares Geld - eben weil die Ware nicht verkauft werden kann. Je wertvoller ein Gut, desto stärker fällt dieser Effekt ins Gewicht. "Wir registrieren ein wachsendes Interesse bei Transporten hochwertiger Güter. Hier ist der Zugtransport für den Cashflow von Vorteil", berichtet Hempel. Wachstum bis zu 300 Prozent Zu den Dienstleistern, die ihren Kunden auch den Zugtransport ins Reich der Mitte anbieten, gehört Hellmann. Das Osnabrücker Unternehmen betreibt eigene Blockzüge, zum Beispiel von Duisburg nach Chongqing. "Nach Deutschland importiert werden Fast Moving Consumer Goods wie Textilien, in Richtung China rollen vor allem Produkte aus dem Maschinenbau und der Automobilindustrie", berichtet Vedat Serbet, Manager im Business Development bei Hellmann. Das Geschäft wuchs in den vergangenen Jahren teilweise um 300 Prozent, mittlerweile liegt das Volumen bei 20.000 Containern. Das Interesse an dem neuen Verkehrsweg wird auch durch Mängel bei den alten geschürt. "Als es Abfertigungsprobleme in der Häfen gab, stieg die Zahl der Anfragen stark an", berichtet Serbet. Vor allem in der Chemieindustrie sei das Interesse gewachsen. Manch ein Verlader verkauft die Nutzung des China-Zugs auch als Umweltschutzbeitrag. Vergleicht man die Transsibirische Eisenbahn mit einem Cargo-Flieger, gewinnt die Schiene haushoch - schließlich produziert sie pro transportierter Tonne Fracht zehnmal weniger schädliche Treibhausgase. Anders fällt der Vergleich zwischen Schiene und Schiff aus. Containerschiffe stoßen zwischen 5 und 60 Gramm Kohlendioxid pro Tonnenkilometer aus, der Schienentransport hingegen zwischen 10 und 120 Gramm, heißt es auf einer Internetseite des Verkehrsministeriums. Im operativen Geschäft sind die meisten Probleme der Pionierjahre überwunden. "Unsere Zuverlässigkeit liegt bei 98 Prozent", sagt Hellmann-Manager Serbet. Allerdings drohen die China-Züge ein Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden. Durch die steigenden Volumina stößt man hier und dort an Kapazitätsgrenzen. In Polen etwa, wo die Container auf Waggons mit einer anderen Spurbreite umgeladen werden, fehlt es an Rangierloks und Personal. "Die Infrastruktur muss entsprechend der veränderten Volumen erweitert werden", sagt DHL-Experte Kowitzki. Er sieht allerdings schon Besserung und verweist darauf, dass der polnische Staat zusätzliche Zöllner an die Grenze in Malaszewicze beordern will und sich mit Peking austauscht, um die administrative Abwicklung zu verbessern. Für die Verlader ist der Umstieg vom Containerschiff in der Regel problemlos möglich (siehe Kasten Seite 26). Allerdings hat die Bahn steuerlich einen Nachteil: Lässt sich ein deutscher Händler Ware aus China per Schiff nach Rotterdam oder zu einem anderen Seehafen im EU-Ausland liefern, muss die dafür fällige Einfuhrumsatzsteuer erst nach einigen Monaten bezahlt werden (Fachwort: Fiskalverzollung). In diesem Zeitraum hat er die Ware im besten Fall schon verkauft und kann die Steuer aus seinen Einnahmen bezahlen. Eine solche Stundung gibt es beim Bahntransport nicht: Kommt der Zug in Duisburg an, muss die Einfuhrumsatzsteuer sofort gezahlt werden. Natürlich ist der Zugtransport nach China von der Komplexität her nicht mit einer innereuropäischen Beförderung vergleichbar. Die Container rollen durch mindestens fünf Länder, einige davon sind politisch nicht unproblematisch: Auf der sogenannten Nordroute geht es durch Weißrussland, auf der Südroute unter anderem durch Kasachstan - beides Länder, in denen Autokraten regieren. Hinzu kommt, dass das Haupt-Transitland Russland seit der Annexion der Krim diplomatisch schwer unter Beschuss steht. Bisher allerdings waren die Auswirkungen für die Bahner gering. Aufgrund der gegen Russland verhängten Sanktionen ist es lediglich verboten, Obst und andere Lebensmittel auf den China-Zug zu verladen. Chinas Subventionen laufen 2020 aus Viel Geld verdienen die Anbieter mit Bahntransporten ins Land der Mitte derzeit nicht, munkeln Marktkenner. TEL-Chef Hempel jedoch sagt, man sei rentabel, und verweist darauf, dass alle Zugsysteme bis April ausgebucht seien - und zwar in der früher oft schwach ausgelasteten Ostrichtung. Konkurrent InterRail ist beim Thema Rentabilität zurückhaltend. "Erst mit steigenden Verkehren Richtung Osten wird das Geschäft einträglich", so Pottharst. Hinzu kommt ein politischer Faktor: Die Züge rechnen sich derzeit nur, weil sie von den chinesischen Regionen stark subventioniert werden. Und auch die Regierung in Peking trommelt unter dem Slogan "One Belt, One Road" ordentlich für die sogenannte neue Seidenstraße. Derzeit ist die finanzielle Unterstützung aber nur bis 2020 festgeschrieben. "Bis dahin müssen wir paarige Verkehre hinkriegen", so Pottharst. Dennoch rechnen Marktkenner dem Verkehrsträger weiterhin gute Chancen aus. "Die Zahl der Züge wird weiter steigen - wenn sich die politische Lage nicht verschlechtert", meint Beraterin Leenen. TEL-Geschäftsführer Hempel ist ebenfalls optimistisch. "Es ist wichtig, die Hubs mit Netzwerken dahinter zu verknüpfen." Eine Erfolgsgarantie gibt es freilich nicht. Einen großen Einfluss hat dabei auch das Marketing: Die Angebote der Spediteure und Zuggesellschaften müssen selbstverständlich werden. Oder wie Sebert es konkret fordert: "Die Schienenlösung sollte nicht als Experiment angesehen werden, sondern als sinnvolle Ergänzung der Supply Chain." Mehr zum Thema finden Sie im Dossier China www.verkehrsrundschau.de/dossiers Was Versender beachten Müssen Welche Güter sich per Zug nach China transportieren lassen Grundsätzlich gilt: Jede Sendung, die in einen gängigen 40-Fuß-Container passt, kann per Bahn ins Reich der Mitte befördert werden, ausgenommen Gefahrgüter. Der Operator benötigt vorab nur den Warencode (HS-Code); außerdem muss der Verlader eine Importlizenz für China vorweisen.Allerdings sind auf der Strecke einige Besonderheiten zu beachten: Bei der Fahrt durch den Norden Russlands können im Winter Temperaturen bis zu - 40 Grad Celsius auftreten, im Sommer brütende Hitze. Empfindliche Produkte wie Elektronikartikel müssen zu dieser Zeit in einem klimatisierten Container (Reefer) transportiert werden. Doch deren Einsatz ist anspruchsvoll und läuft noch nicht rund. Gelegentlich ist noch zu lesen, dass die Container durch das mehrfache Umladen starken Beschleunigungskräften ausgesetzt werden. Die Ware sollte daher nach vorn und hinten gut gesichert sein, lautet eine Empfehlung. Die meisten Experten halten das für übertrieben. Tenor: Die Beschleunigungskräfte im China-Zug sind nicht größer als zum Beispiel beim Straßentransport eines Containers.Aktuell gibt es noch Einschränkungen durch die politische Lage: Nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 wurden einige Sanktionen gegen das Land beschlossen, die auch für Güter im Transit gelten. Lebensmittel zum Beispiel dürfen aktuell nicht per Bahn nach China transportiert werden. cg